Am schönsten ist die Arktis im Winter. Wie damals, als die Polarstern ein ganzes Jahr lang unterwegs war. In der arktischen Nacht schnappte sich Marcel Nicolaus dann manchmal seine Ski und lief über das weite Eis, zwei, drei Kilometer weg vom Schiff. Plötzlich war da nichts als Ruhe, taghell schimmerte das Meereis im Licht des Mondes. Krachend trocken die Winterkälte, minus 20 Grad, frisch und klar wie Kristalle in einem Glas. Nicolaus stand einfach nur da, minutenlang. „Aber normalerweise geht es leider im Sommer auf Forschungsfahrt in den Norden, da ist es 24 Stunden Tag, ideal zum Arbeiten.“ Dann schiebt sich der Eisbrecher des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) durch eine Nebelwand über das Meer. Es ist um die 0 Grad, die Oberfläche des Meereises nass, die feuchte Luft kondensiert und überzieht die Arktis mit einem dichten, grauen Weiß. Nur an jedem zehnten Tag reißt der Himmel auf – dann werden die Fotos gemacht, die um die Welt gehen: Forschungsfieber Polarexpedition.

Seit Ende der 1990er-Jahre ist der Meereisphysiker Marcel Nicolaus dabei. Sein Thema: Wie verändert sich das Meereis, was entscheidet darüber, ob und wie viel es schmilzt? Wie ist der Energieaustausch zwischen Eis und Atmosphäre, welche Rollen spielen Licht, Ozean, Temperatur und Salzgehalt des Wassers? Und was heißt das für das Klima, das Ökosystem, den Menschen?
Romantisch wie zu Zeiten des norwegischen Polarpioniers Fridjof Nansen, der Nicolaus in Schulzeiten faszinierte, ist an so einer Expedition nur noch wenig. Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Nansen mit nichts als einem Kompass und der vagen Vermutung aufgemacht, dass die Bewegung des Meereises ein Schiff von Sibirien über den Nordpol nach Grönland tragen müsste. Die Männer schliefen in schweren Zelten, ihre schneenassen Wolljacken trockneten nachts auf der Haut. Heute tragen Forscher:innen Hightech-Anzüge, schlafen in beheizten Kabinen, sogar eine Sauna gibt es im Schiffsbauch. Sie haben Handys in der Tasche, streamen Netflix, jeder Meter der Reise wird von der AWI-Zentrale in Bremerhaven per Satellit verfolgt. Zur Sicherheit.
Wenn sich die Polarstern mit 40, 50 internationalen Wissenschaftler:innen an Bord gen Norden aufmacht, ist der Druck des Eises manchmal so gewaltig, dass selbst der Motor des Eisbrechers nicht dagegen ankommt. Nicolaus: „Es bleibt nichts als Warten, bis sich die Gezeiten ändern und der Druck nachlässt.“ Die Reise geht von Scholle zu Scholle, bei jedem Halt wird eine Feldstation aufgebaut. Mit einer großen Bohrmaschine dreht Nicolaus dann ein Loch ins Eis, viele Stunden dauert das oft, lässt an einem Kabel einen Tauchroboter mit Sensoren und Kameras unter das zwei Meter dicke Eis gleiten, mal 20, mal 100 Meter tief, befestigt ihn oberirdisch an einem Dreifuß und baut daneben seine „Playstation“ auf, eine kleine Hütte mit Schreibtisch, Monitoren und PCs. „Über sie kann ich den Roboter steuern und live verfolgen, was er unter dem Eis sieht und misst.“ Neben ihm errichten Ozeanograf:innen, Meteorolog:innen, Datenwissenchaftler:innen ihre mobilen Basisstationen, starten Drohnen zu Erkundungsflügen, lassen Wetterballons in den Himmel steigen. Wege für Schneemobile werden markiert, kleine Straßen zum Transport von schwerem Gerät. Stück für Stück entsteht eine Stadt auf dem Eis, die die kilometerlange Scholle mit einem Netz von Messinstrumenten, Drohnen, Sensorik, Datenleitungen und Stromkabeln überzieht. Mit dem Ziel, das arktische System besser zu verstehen, um Vorhersagen machen zu können: Was kommt in der Klimakrise auf uns zu?

Globale Umwälzmaschine
Die Arktis erstreckt sich über ein Gebiet von etwa 20 Millionen Quadratkilometern zwischen Nordpol und 66°33′ nördlicher Breite – klar definierte Grenzen gibt es nicht. Ein Meer umgeben von Land, fifty-fifty. Eisflächen, Tundra, Nadelwälder und gerade mal 4 Millionen Einwohner:innen. Doch die Bedeutung der nördlichen Polkappe ist immens: Ihr Meereis kühlt den Planeten, lenkt Ozeanströmungen, bietet Lebensraum für unzählige Arten. Die Arktis ist Motor der globalen Umwälzmaschinerie für das Klima. Der Temperaturunterschied zu den mittleren Breiten treibt den Jetstream an, das große atmosphärische Transportband von Norden Richtung Äquator. Erwärmt sich die Arktis, nimmt der Temperaturunterschied ab, die Strömung wird schwächer. Die Folge: Hoch- und Tiefdruckgebiete halten sich länger an einer Stelle auf, der Wetterwechsel, typisch für unsere gemäßigten Breiten, weicht langen Extremen. Extrem kalt, warm, nass, trocken. Die Erwärmung der Arktis wiederum hängt wesentlich mit dem Rückgang des Meereises zusammen. Schuld ist der Albedo- oder Rückstreu-Effekt: Weniger
Eis heißt mehr dunkles Wasser. Dunkles Wasser nimmt mehr Energie – also Wärme – auf als helles Eis. Der Ozean erwärmt sich, das Meereis geht weiter zurück und so fort.
Im März 2025 gab es im Winter so wenig Meereis wie nie zuvor. Allerdings: Punktuelle Ergebnisse sagen wenig, je nach Bedingungen an den Messstationen erscheint der Rückgang mal größer, mal kleiner. Weil etwa Meereis durch Wind und Strömung unterschiedlich verteilt wird oder sich an der Küste auftürmt. „Entscheidend ist der langfristige Trend“, so Nicolaus. „Um etwa zwölf Prozent nimmt das Meereis derzeit pro Jahrzehnt im Sommer ab, im Winter sind es zwei bis drei Prozent. Dieser Trend setzt sich fort.“ Das Abschmelzen des Meereises hat nichts mit dem Anstieg der Meeresspiegel zu tun: „Das ist wie ein Wasserglas mit Eiswürfeln – schmelzen die Würfel, ist der Pegel genauso hoch wie vorher. Schmilzt dagegen das Festlandeis in Grönland, ist es, als würde man mit der Kanne neues Wasser in das Glas gießen – der Pegel steigt.“
Unterschätzter Schnee
Die Kisten für die nächste Sommerexpedition stehen bereit, alle Messgeräte sind verpackt. Nicolaus leitet die Expedition. In der Zentralen Arktis geht er der Frage nach: Wie schmelzen unterschiedlich alte Arten Eis? Und was verändert der Schnee? Mal ist er auf den Schollen zu kleinen Bergen zusammengeschoben, mal über die Fläche verstreut. Welche Auswirkung hat das auf Lichtreflexion, den Energieaustausch zwischen Meer und Luft, was bedeutet das für den Erhalt des Eises? „Neue Daten geben uns Hinweise, dass Schnee viel entscheidender ist, als vermutet“, so Nicolaus. „Wir haben das lange unterschätzt.“
Genau wie die Kerben, die die Kolonialgeschichte in der Region hinterlassen hat. Nach den Eroberern, die ihre Fahnen in das Eis der Arktis rammten, kamen die Wissenschaftler:innen mit ihren Forschungsfragen, Fördergeldern und vor allem einem Ziel im Kopf: ein Paper in einer renommierten Wissenschaftszeitschrift veröffentlichen, die Promotion voranbringen. „Die Fragen der Menschen vor Ort zählten lange wenig“, sagt Nicolaus. „Das ändert sich endlich.“ Forschungskooperationen sind entstanden, in denen westliche Wissenschaftler:innen und die lokale Bevölkerung zusammen an Themen arbeiten, die wichtig sind für die Menschen vor Ort. Was verändert die Klimakrise in unserer Bucht, wie können wir jagen, wenn die Fahrt übers tauende Meereis gefährlicher wird, was bedeutet die Meeresverschmutzung für unsere Ernährung?
Christa Marandino nimmt diesen Schmutz in den nächsten Monaten unter die Lupe. Die Biogeochemikerin am Meeresforschungszentrum Geomar in Kiel leitet eine Arbeitsgruppe von Iceberg, einem internationalen Forschungsprojekt, koordiniert von der finnischen Universität Oulu mit 16 Partnerorganisationen von Polen über Italien bis Grönland. Im Juli schwärmen die Teams aus, untersuchen Plastikabfälle und Schwermetalle, Nanopartikel, organische Schadstoffe und Ewigkeitschemikalien (PFAS) aus Industrie und Haushalten, die Meeresströmungen von Europa durch die ganze Arktis treiben. Was ist besonders schädlich für die Ökosysteme? Bremst das Mikroplastik die Entstehung der natürlichen Gase, die das Phytoplankton in den Ozeanen bildet und damit die Wolkenbildung anregt – ein wichtiger Baustein zur Abkühlung der Temperatur? Welche Auswirkungen haben Schiffsemissionen im Wasser auf die Klimagase? Marandino: „Andere Teams schauen sich die großen Fische und Meerestiere in Wasser und Supermarkt an. Wie verschmutzt sind sie, was bedeutet das für die Gesundheit der Menschen?“
Das Besondere: Auch Schulen vor Ort, indigene Gemeinschaften und Bürger:innen der Gemeinden werden eingebunden. Indem sie etwa mit eigenen Drohnen die Verschmutzung in entlegenen Landschaften überwachen. Oder auf einer digitalen Plattform eigene Beobachtungen eintragen: Wo haben wir Plastikmüll gesehen, welche Abfälle hat das Meer angetrieben? Umgekehrt schwärmen Sozialwissenschaftler:innen aus dem Iceberg-Projekt aus und befragen die lokale Bevölkerung: Was macht euch Sorgen? Was sollen wir noch untersuchen? Und welche unterschiedlichen Probleme haben die Geschlechter? „Erste Forschungen weisen darauf hin, dass sich Männer und Frauen in indigenen Gemeinschaften Grönlands unterschiedlich ernähren“, sagt Marandino. „Männer essen oft eher traditionell, selbst geangelten Fisch und Fleisch aus der Jagd, Frauen kaufen lieber Nahrungsmittel im Supermarkt. Die Schadstoffbelastung von Tieren könnte daher die Gesundheit von Männern mehr beeinflussen als die von Frauen.“ Nun will Iceberg herausfinden, welche Fische weniger belastet sind oder ob es Wege gibt, sie zu reinigen. Marandino: „Ernährung gehört zur lokalen Kultur, sie zu erhalten ist extrem wichtig.“
Mammutprojekt für Arktiswissen
Aber wie lässt sich all das Wissen über die Arktis verbinden? Wie kann man es so zugänglich machen, dass es allen nützt, allen voran den Menschen vor Ort? Und wie lässt sich die Forschung noch effizienter koordinieren?
Darauf Antworten zu finden, ist seit viereinhalb Jahren die Aufgabe von Michael Karcher, er arbeitet wie Meereisforscher Nicolaus am AWI in Bremerhaven. Der Ozeanograf leitet das Projekt Arctic Passion. Das Ziel: gemeinsam mit allen internationalen Playern ein arktisches Beobachtungssystem für die Umwelt aufzubauen, das so viel Wissen wie möglich zusammenführt und mit wenigen Klicks für jede:n zugänglich macht.
Im Zoom-Call öffnet Karcher die Arctic-Passion-Website, steuert zur Unterseite Arctic Window, auf der es von Icons, Datenpunkten und Linien nur so wimmelt. In der Mitte eine grafische Darstellung des Nordpolarmeeres. Je nach Klick ploppen farbige Schiffsrouten auf, wird die Dicke des Meereises angezeigt, sind Waldbrandrisiken in der Tundra zu sehen, gibt es Infos zum Zustand der Permafrostböden. Eine Art Meta-Plattform, voller Infos zu acht Themenfeldern, die Karcher „Auskunftsdienste“ nennt: Permafrost, Feuerwarnung, Luftverschmutzung, Schifffahrt, Zustand des Meeres, Eisbedeckung von Süßwasserseen.

Wie Memory-Karten liegen sie aufgeblättert neben der Arktis-Map. Schiffscrews sehen hier, wie das Eis driftet, wo sich Öffnungen gebildet haben, sie mit einem Eisbrecher ihrer Klasse durchkommen. Es gibt Vorhersagen zur Luftverschmutzung über und Lärmverschmutzung unter Wasser, wichtig für die Fischerei. Unter anderen Reitern verbergen sich Daten zu Wetter, Atmosphäre, Ozean.
„Schauen Sie“, Karcher klickt auf Auskunftsdienst 1. „Hier teilen die indigenen Gemeinden ihr Wissen, teils basierend auf jahrtausendealter, mündlicher Überlieferung, teils auf eigenen Beobachtungen mit modernen Geräten.“ Filme, Fotos, Geschichten der Ältesten, Zahlenreihen: Infos zu Lachsbeständen, Landschaftsveränderungen, Wetter. Die Khanty in Sibirien sind dabei, die Gwitch’in in Kanada, die Skolt Sámi in Finnland, die Iñupiat in Alaska – acht indigene Gruppen insgesamt.
Für manche Themenfelder, Permafrost etwa, haben sich Expertenpanels gebildet, in denen Vertreter:innen von lokalen Gemeinden, indigenen Gemeinschaften, Wissenschaft, Stadtverwaltungen und Politik gemeinsam beraten: Welche Infos brauchen wir, um im rasanten Wandel unserer Region fundierte Entscheidungen treffen zu können? Wer weiß, wo der Permafrostboden bereits weich wird, kann besser Gebäude und Straßen planen; wo die Meereisbedeckung an den Küsten zurückgeht, eher das Ufer vor den Wellen schützen, die dann stärker werden; wo überfrierender Schnee den Zugang zum Untergrund versperrt, seine Herden präziser zu Weiden führen, auf denen die Rentiere Nahrung finden. In Kooperation mit dem Rat der Bürgermeister:innen arktischer Städte hat Karchers Team Interviews mit Mitarbeiter:innen aus Politik und Verwaltung geführt: Was benötigen sie? „Manchmal sind es kleine Sachen. So ist es enorm wichtig, zentrale Informationen wissenschaftlich einfach zu erklären, damit die Politik Entscheidungen gut vermitteln kann.“
Wer Karcher eine Weile zuhört, merkt: Das arktische Umweltbeobachtungssystem ist ein Mammutprojekt, bislang eher noch ein Sammelsurium aus Fragmenten. Viele Daten sind nicht kompatibel, liegen hinter Zugangssperren, folgen verschiedenen Messstandards, sind so unterschiedlich benannt, dass nicht mal KI sie sortieren und auffindbar machen kann. „Im Moment jonglieren wir eine Art Bauchladen“, sagt Karcher, „aus dem wir mit 35 Organisationen aus 16 Ländern ein gut strukturiertes Informationssystem machen wollen, damit sich die Menschen vor Ort an den Klimawandel anpassen können. Zudem muss noch viel mehr geschehen, um indigene Gemeinschaften fair in die Forschung einzubinden.“ Zum Beispiel, indem sie gemeinsam mit Nachwuchsforscher:innen aus westlichen Ländern Ideen für Forschungsanträge entwickeln. Karcher: „Für diese Vorarbeit sollte es Geld geben.“
Wissenschaft in Aufruhr
Ende März 2025, Arctic Science Summit Week im US-amerikanischen Boulder, Colorado. Der Himmel ist klar, das Thermometer zeigt 23 Grad, Frühling liegt in der Luft über der Stadt am Fuße der Rocky Mountains. Auf dem jährlichen Gipfel planen Wissenschaftler:innen aus aller Welt die Polarforschung der nächsten Jahre. Diesmal ist die Community in Aufruhr: Was bedeutet die Wahl von US-Präsident Donald Trump für die Wissenschaft? AWI-Forscher Nicolaus: „Die Debatten drehten sich um andere Themen als sonst: Wie retten wir die Freiheit der Wissenschaft, wie sichern wir die Daten auf US-Servern und verhindern, dass sich Top-Leute von der Forschung abkehren? Sonst verlieren wir ganz viel Expertise.“ Er bekommt es schon zu spüren: Letzte Woche haben die Amerikaner:innen für seine Expedition mit der Polarstern abgesagt. Projektmittel gestrichen. „Plötzlich fehlen acht Leute an Bord und das meteorologische Messteam.“
Bleibt nur: Weitermachen, jetzt erst recht. Geomar-Forscherin Christa Mandarino startet im Juli nach Nordisland, um das Mikroplastik im Wasser zu analysieren. Ozeanograf Michael Karcher und sein Team arbeiten an den letzten Details der Arctic-Passion-Seite. Polarstern-Fahrleiter Marcel Nicolaus muss los. Ist noch viel zu tun, bis das Schiff gen Norden startet. Zur Not ohne die US-Amerikaner:innen.
Anders als früher tragen Forscher:innen heute Hightech-Anzüge, schlafen in beheizten Kabinen, im Schiffsbauch gibt es sogar eine Sauna.