Schwerpunkt: Freiheit der Wissenschaft

„Wissenschaft ist keine Meinung“

Über das Verhältnis von Wissenschaft und Wahrheit und warum der Weg zur Welterkenntnis nur in Freiheit gelingen kann. Ein Gespräch mit der Philosophin Corina Strößner und dem Soziologen Rudolf Stichweh.

Immer wieder hört man in öffentlichen Debatten: Wissenschaft sei letztlich auch nur eine Meinung, nicht viel valider als ein Standpunkt in einer Diskussion. Ist da etwas dran? 

Rudolf Stichweh: Nein. Meinung ist ein Begriff aus der politischen Geschichte, in der Endphase des Absolutismus im 18. Jahrhundert sprach man zum ersten Mal von Public Opinion, Opinion Publique. Mit der Aufklärung entsteht eine bürgerliche Öffentlichkeit, in der Meinungen in Streit miteinander treten. Wissenschaft ist radikal anders. Sie ist das einzige gesellschaftliche System, das sich auf die Produktion von Wahrheit spezialisiert hat. Im Gegensatz zur Meinung, die man haben kann oder nicht, ist die Leitfrage schlicht: Ist es wahr oder falsch? Es gibt nicht meine oder deine Wahrheit. Wissenschaft geht immer von Allgemeingültigkeit aus, von der Vermutung, eine Annahme ist wahr, bis sie widerlegt ist. Wir sprechen daher nicht von der absoluten Wahrheit, sondern von einer steten Annäherung. 

Zum Beispiel? 

Stichweh: Niemand wird heute sagen, Gravitation ist eine Wahrheitsvermutung. Seit Isaac Newton die Theorie der Schwerkraft entwickelte, haben Wissenschaftler:innen sie immer wieder zu widerlegen versucht. Nie ist das gelungen. Als Charles Darwin 1859 seine Evolutionstheorie publizierte, war das kulturell extrem verstörend und die Öffentlichkeit hielt es für völlig unwahrscheinlich, dass sie wahr sein könnte. 150 Jahre später ist sie immer noch die einzige Theorie, mit der sich 10.000 extrem komplexe Phänomene extrem gut erklären lassen. Den Kern der Theorie kann man daher heute zu Recht Wahrheit nennen, auch wenn sie aus einem riesigen Geflecht von Annahmen besteht. Ähnliches gilt für den anthropogenen Klimawandel, der 1895 zum ersten mal von dem  schwedischen Physiker Svante Arrhenius beschrieben und lange wieder vergessen wurde. Heute arbeiten Tausende Forscher:innen daran – man muss ein Fanatiker oder Ideologe sein, um den anthropogenen Klimawandel zu bestreiten.

Rudolf Stichweh

lehrte als  Professor für Soziologie unter anderem an den Universitäten Bielefeld, Princeton und Luzern. Seit 2012 ist er Dahrendorf-Professor für Theorie der modernen Gesellschaft und Direktor des Forums Internationale Wissenschaft an der Universität Bonn. Er forscht zur Theorie der Weltgesellschaft und der Soziologie von Wissenschaft und Universitäten.

 Corina Strößner: Manche Philosophen  begründen den Wahrheitsanspruch mit dem „no miracle“-Argument: Wenn man eine Theorie hat und auf ihrer Grundlage etwa Innovationen entstehen, ist es nahezu unmöglich, dass die Theorie nicht stimmt. Es wäre ein Wunder, wenn man auf Grundlage der Virologie Medikamente entwickeln kann, die wirken, aber das Konzept der Virologie falsch ist. 

Wie geht Wissenschaft dabei vor? 

Strößner: Wissenschaftler:innen nutzen dieselben Ressourcen, die wir alle haben, um die Welt zu erkunden. Die Kognitionswissenschaftlerin Alison Gopik beschreibt das mit der Metapher vom lernenden Kind: Wissenschaft erkundet mit immer neuen Fragen die Welt, stellt Hypothesen auf, testet sie. Natürlich gehört ein ganzer Koffer von Regeln dazu. Überprüfbarkeit, Vorläufigkeit der Ergebnisse, Selbstkritik der Grundlagen. Über viele Methoden wird immer wieder gestritten, in der Psychologie etwa seit einiger Zeit über statistische Methoden und die Wiederholbarkeit der Ergebnisse von Experimenten. Welche bewähren sich? Welche sind aussagekräftig? Zwar gibt es auch eine Subjektivität in den Wissenschaften, trotzdem müssen die Ergebnisse auch von jemand anderem unter gleichen Bedingungen wiederholbar sein.  

Corina Strößner

studiert…

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