Schlüsseltechnologie für Energiewende

„Es gibt kein Szenario, das ganz ohne Wasserstoff auskommt“

Grünen-Politikerin Ingrid Nestle über grünen Wasserstoff, Windenergie und ein fehlendes Gesamtkonzept der Großen Koalition für eine nationale Strategie.

Wasserstoff ist ein nahezu klimaneutraler Rohstoff und ein ökologisches Multitalent – wenn man ihn denn mithilfe erneuerbarer Energien gewinnt. Er kann als Basis für synthetische Kraftstoffe dienen, in Brennstoffzellen verwendet oder zur Langzeitspeicherung von erneuerbarem Strom genutzt werden. Eigentlich wollte die Bundesregierung bereits Ende 2019 eine nationale Strategie zum Thema vorlegen. Doch es folgte ein Aufschub bis Mitte März diesen Jahres. Dann kam Corona. Man vertagte sich erneut bis Ostern. Es gäbe Klärungsbedarf zwischen den beteiligten Bundesministerien für Forschung, Wirtschaft und Umwelt, hieß es. Veröffentlicht wurde bis jetzt nichts. Unternehmen, die konkrete Projekte vorbereitet haben, warten zunehmend genervt auf das Dokument. Die Angst ist groß, dass die Technologie im Ausland schneller konkurrenzfähig ist. Die Sprecherin für Energiewirtschaft der Grünen, Ingrid Nestle, erklärt, was bisher über die Pläne der Großen Koalition bekannt ist und was offensichtlich fehlt.

Warum wird in der Regierung noch über die nationale Wasserstoffstrategie gestritten?

Debattiert wird über die Frage, wie viel grünen Wasserstoff man produzieren will. Das eigentliche Problem ist aber, dass die unterschiedlichen Mengenangaben der Ministerien völlig unrealistisch sind. Warum, zeigt der Blick auf das durchgerechnete Ziel für den Kohleausstieg: Erneuerbare Energien müssen nach Planung der Bundesregierung im Jahr 2030 etwa 65 Prozent des gesamten Strombedarfs decken. Aktuell sind wir bei 40 Prozent. Ein notwendiger Zubau Erneuerbarer ist aktuell nicht absehbar. Für grünen Wasserstoff wäre zusätzlicher Grünstrom notwendig. Der wird in der Strategie aber nicht erwähnt. Aus diesem Dilemma kommt die Bundesregierung nicht raus. Das ist auch der Grund, warum das Thema ständig verschoben wird. Stattdessen wird über die Abstandsregel von 1000 Metern bei Windrädern zu jeder Splittersiedlung diskutiert, die einen nötigen Zubau massiv erschwert.

Wie ist die Haltung zu blauem und grauem Wasserstoff, die aus Erdgas beziehungsweise Erdgas und Kohle erzeugt werden? Beide weisen eine schlechtere Klimabilanz auf.

Im ersten Entwurf hat die Bundesregierung zumindest zugegeben, dass blauer und grauer Wasserstoff in der Übergangszeit ihrer Strategie wohl eine Rolle spielen werden.

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Bedeutet das nicht, dass die Diskussion über grünen Wasserstoff utopisch ist?

Der Ausbau der Erneuerbaren bleibt entscheidend. In der Vergangenheit wurde meist schneller zugebaut, als dies von der Regierung vorgegeben war. Es gibt nach wie vor große Potenziale und Platz. Nur ist der systemische Ausbau von Windkraft und Fotovoltaik – trotz günstiger Produktionskosten – in den letzten Jahren fast zusammengebrochen. Doch ich glaube, dass Kohleausstieg und Wasserstoff-Förderung gleichermaßen gelingen können. Nur so kann man die Energiewende zu Ende führen. Es gibt kein Szenario, das ganz ohne Wasserstoff auskommt. Wir werden diese Technologie brauchen. Es ist wichtig, sie jetzt weiterzuentwickeln und kostengünstiger zu machen.

Sonst?

Preschen andere Länder vor. Wenn wir den Ausbau der Erneuerbaren nicht auf die Reihe kriegen, wenn wir jetzt nicht handeln, gibt es klimapolitisch einen deutlichen Rückschritt. Heißt: Wir werden länger Kohlestrom in Wasserstoff stecken. Das sind dramatisch mehr Emissionen, denn Wasserstoff ist eine ineffiziente Technik.

Weiß das die Bundesregierung?

Den relevanten Akteuren in den Ministerien ist das klar. Das Wissen in den Regierungsfraktionen scheint jedoch unterschiedlich zu sein. Es gibt Kolleg*innen, die scheinbar glauben, wir wür- den unfassbar viel Strom aus Erneuerbaren wegen Netzengpässen abregeln, der sich zur Wasserstoffproduktion nutzen ließe. Es ist faktisch ein Prozent. Andere sagen: Was interessiert mich die deutsche Klimabilanz, solange wir Technologieführer sind. Dabei ist noch nicht mal die Transportfrage beim Wasserstoff geklärt. Es gibt besondere Schiffe, die den Rohstoff in flüssiger Form transportieren können, dafür muss er stark komprimiert und gekühlt werden. Die Energiebilanz der Schiffe ist deswegen sehr schlecht. Pipelines sind für lange Strecken schwierig umzusetzen: Bei sogenannten Liquid Organic Hydrogen Carriers (LOHCs) wird in viel Flüssigkeit wenig Wasserstoff transportiert. Und es gibt noch den Vorschlag, Ammoniak zu machen. Allerdings kriegt man die Wasserstoffmolekühle nur schwer wieder aus der Bindung mit dem Stickstoff raus. Giftig ist das Zeug auch noch. Gerade wollen alle positiv über die Energiewende reden, da ist Wasserstoff ein schönes Schlagwort. Fakt ist: Es fehlt das Gesamtkonzept.

Ingrid Nestle, 42, sitzt seit 2009 mit einer Unterbrechung für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Die Wirtschaftsingenieurin war von 2012 bis 2017 Staatssekretärin im Ministerium für Energiewende, Umwelt und Landwirtschaft in Schleswig- Holstein. Sie ist Sprecherin für Energiewirtschaft ihrer Partei und hat sich in ihrer Promotion mit den durch den Klimawandel entstehenden Kosten im Agrarsektor beschäftigt. Foto: imago images / Blickwinkel

Gibt es ein konkretes Konzept bei den Grünen?

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Wir haben im Herbst eine Wasserstoffstrategie verabschiedet. Ein wichtiger Aspekt ist der Ausbau der Erneuerbaren. Dabei gilt: Investitionssicherheit garantieren, Genehmigungsverfahren vereinfachen und die Diskussion wieder versachlichen. Viele Menschen glauben inzwischen, Windenergie sei gefährlich für die Gesundheit. Durch die Schadstoffemissionen von Kohlekraftwerken sterben in Deutschland im Schnitt 20 Menschen – pro Tag. Durch Windkraft stirbt nicht ein Mensch. Es gibt eine schiefe Faktenwahrnehmung in der Bevölkerung. Wir wollen zudem das eine Prozent, das bei Erneuerbaren Energien abgeregelt wird – also Energieüberschuss, der nicht verbraucht wird –, konsequent zur Entwicklung von Wasserstofftechnologien nutzen. Und: Wir wollen die Stromnebenkosten gezielt dann und dort absenken, wo und wenn viele Erneuerbare im Einsatz sind.

Auch bei Good Impact: „Die Klimakrise ist kein Sprint, sondern ein Marathon“ – FFF-Aktivistin Franziska Wessel

Wie wollen Sie den Unternehmen, den Herstellern von grünem Wasserstoff, helfen?

Man kann die EEG-Umlage spezifisch absenken, wenn der Strompreis niedrig ist, so weit, dass die Kohlekraftwerke kein Geld mehr verdienen. Die Elektrolyseure laufen dann kaum Gefahr, Kohlestrom kaufen zu müssen. Und die Netzentgelte können deutlich reduziert werden, wenn die Elektrolyseure die ersten sind, die bei einem Engpass vom Netz genommen werden. Die Unternehmen suchen sich dann automatisch Orte und Netzknotenpunkte, die dieses Risiko minimieren. Auch ist zu prüfen, wie man sinnvoll grünen Wasserstoff importieren kann. Dafür gibt es zwei Instrumente: verbindliche Länder-Partnerschaften mit Projekten, die unter Industriebeteiligung entsprechend gefördert werden, sowie eine geringe Quote für grünes Kerosin. Diese sendet ein Investitionssignal, und wir können so breit Erfahrungen mit einem Markt für grünen Wasserstoff sammeln.

Wie bewerten Sie Wasserstoff bezogen auf den Verkehrssektor?

Hier hat Wasserstoff vor allem im Schwer- und Luftverkehr seine Rolle. Bei kleineren Fahrzeugen wie Pkw und Bus finde ich es sehr vernünftig, vorrangig auf Strom zu setzen. Elektrofahrzeuge haben belegbar eine deutlich größere Reichweite als Wasserstoff-Fahrzeuge.

Ingrid Nestle über Wasserstoff: Eine geringe Quote für grünes Kerosin sendet ein Investitionssignal

Welche Branchen haben den größten Bedarf?

Energieintensive Industrie wie die chemische Industrie oder die Stahlindustrie. Man kann nicht alle Prozesse, bei denen heute Koks oder Kohle zum Einsatz kommt, auf Strom umstellen – oft aber auf Wasserstoff.

Kleine Farbenlehre

GRÜNER WASSERSTOFF

Er wird in Elektrolyse-Anlagen (Elektrolyseuren) hergestellt. Da- für wird Strom regenerativer Energien, zumeist Windkraft, genutzt. Es entstehen somit bei der Herstellung keine CO2-Emissionen. Bei dem Vorgang wird Wasser in seine Bestandteile Wasser und Sauerstoff zerlegt. Drei Verfahren sind zu unterscheiden: die alkalische Elektrolyse (AEL), die saure Elektrolyse PEM (Proton Exchange Membrane) sowie die Hochtemperatur-Elektrolyse SOEC (Solid Oxide Electrolysis Cell). Das Interesse an der nahezu klimaneutralen Technologie – Emissionen entstehen nur bei der Produktion der Windkraftanlagen – hat deutlich zugenommen. In den vergangenen 20 Jahren gingen 230 kleinere Anlagen mit einer Leistung von bis zu 10 Megawatt in Betrieb.

BLAUER WASSERSTOFF

Er wird aus Erdgas hergestellt. Die dafür genutzten Verfahren sind ebenfalls SMR und die effektivere autotherme Reformierung. Ein großer Teil des entstehenden CO2 (65–90 Prozent) wird abgeschieden und in Endlagern gesichert: Carbon Capture and Storage (CCS), die Verpressung von CO2 im Unterrund. Auch der Transport trägt dazu bei, dass insgesamt pro Kilogramm blauen Wasserstoffs 5 bis 7 Kilogramm CO2 entstehen. Insgesamt werden pro Jahr weltweit rund 30 Millionen Tonnen CO2 abgetrennt und eingelagert. Doch es gibt nur zwei nennenswerte CCS-Projekte – in Kanada und in den USA. Hinzu kommt, dass die schwankenden Erdgaspreise hohe Investitionsrisiken bedingen.

GRAUER WASSERSTOFF

Dieser Typ ist der momentan gängigste am Markt – und der klimaschädlichste. Grauer Wasserstoff wird aus Erdgas oder Kohle hergestellt. Zwei Verfahren sind zu unterscheiden: In SMR-Anlagen (Steam Methane Reformer) wird Erdgas erhitzt und reagiert mit Wasserdampf. Alternativ kombiniert die autotherme Reformierung (ATR) die Dampfreformierung und die sogenannte partielle Oxidation (POX). Wasserstoff entsteht in diesen Anlagen im Rahmen einer Umwandlung von Erdgas mit einer Mischung von Wasserdampf und Luft. Bei beiden Produktionsweisen fallen große Mengen CO2 an. Man spricht zudem von „grauem Wasserstoff“, wenn Elektrolyseure Strom aus fossilen Brennstoffen nutzen müssen.

TÜRKISER WASSERSTOFF

Das zur Herstellung von türkisem Wasserstoff genutzte Verfahren ist noch in der Testphase. Es heißt Methanpyrolyse (Methane Splitting). In einem Hochtemperaturreaktor wird dabei Erdgas thermisch in Wasserstoff und Kohlenstoff zerlegt. Die Methode ist weniger energieeffizient als SMR, allerdings fallen im Herstellungsprozess keine CO2-Emissionen an. Der so enstehende, feste Kohlenstoff kann weiter genutzt werden.

imago images / Blickwinkel

Wasserstoff-Plakat der Thyssenkrupp AG: Gerade in der Schwerindustrie kann man Prozesse von Kohle auf Wasserstoff umstellen.

Jan Scheper

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