Menschen mit Behinderungen

Werkstätten dürfen Löhne nicht einfach kürzen

Seit über 30 Jahren informiert der Psychologe Horst Rudolph Menschen mit Beeinträchtigungen, die in Werkstätten arbeiten über ihre Rechte. Auch weil die entsprechenden Gesetze komplex und nicht leicht zu verstehen sind. Hier erklärt er, warum Transparenz und Mitbestimmung aufwendig aber wichtig sind – und wie Geschäftsführer:innen die aktuelle Situation verbessern könnten.

Herr Rudolph, Sie sind Psychologe und geben Seminare für Werkstatträte, das sind die Interessensvertreter:innen der Beschäftigten in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM). Seit wann arbeiten sie in dem Bereich?

Horst Rudolph: Mein erstes Seminar habe ich 1990 im Rahmen einer Fortbildung der Gewerkschaft für behinderte Beschäftigte aus Hamburger Werkstätten durchgeführt. 2001 wurde ich als erste externe Vertrauensperson für einen Werkstattrat in Hamburg gewählt und war seitdem für verschiedene Werkstatträte als Vertrauensperson tätig. Seit 1996 führe ich auch als selbstständiger Referent Seminare für Werkstatträte für den Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. (bvkm) durch. Mein letztes Seminar habe ich im Mai diesen Jahres gehalten. Ich bin kein Jurist, deshalb berate ich die Werkstatträte nicht rechtlich. Aber ich biete ihnen meine Erfahrungen aus meiner Tätigkeit an und es gelingt mir, Ihnen mit Informationen zu ihren Rechten Mut für ihre Aufgabe zu machen. Dazu nutze ich eigens von mir entwickelte Broschüren, die ihre Rechte mit einfachen Worten darstellen.

Beschäftige mit Beeinträchtigungen verdienen in Werkstätten im Bundesschnitt 157 Euro (Stand 2020). In Sachsen sind sogar nur 57 Euro. Woran liegt das?

Bisher habe ich nicht gewusst, dass die Werkstätten weniger als den Grundbetrag auszahlen können. Mein Kenntnisstand ist, dass die Werkstätten in einem solchen Fall Insolvenz anmelden. Ich weiß von einer Werkstatt in Hannover, die in Konkurs gegangen ist. Eine Nachfolge-GmbH hat dann die Werkstattbeschäftigten übernommen.

Zum Verständnis, Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten arbeiten, erhalten existenzsichernde Sozialleistungen. Sie müssen aber zudem ihren Lohn durch ihre Arbeit selbst erwirtschaften. Die Zusammensetzung ist kompliziert: Der Lohn setzt sich aus einem fixen, gesetzlich geregelten „Grundbetrag“ von 109 Euro und einem flexiblen, leistungsabhängigen „Steigerungsbetrag“ zusammen. Hinzukommt noch ein sogenanntes staatliches „Arbeitsförderungsgeld“ in Höhe von 52 Euro. Viele Einrichtungen haben unterschiedliche Entgeltordnungen. Gibt es keine einheitlichen Maßstäbe?

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Es gibt keine ganz genauen, gesetzlich festgelegten Maßstäbe, wie das Entgelt der Werkstattbeschäftigten ermittelt wird, sondern Interpretationsspielräume. Aber der Werkstattrat der jeweiligen Einrichtung hat ein Mitbestimmungsrecht. Das hat auch die Juristin und SPD-Politikerin Carola Veit, die der Hamburger Bürgerschaft als Präsidentin vorsteht, in einer rechtlichen Stellungnahme für die Werkstatträte Deutschland (die bundesweiten Interessenvertreter:innen der Beschäftigen mit Behinderungen, Anm. d. Red.) eindeutig festgestellt.

Auch bei Good Impact: Warum das Werkstätten-System sich ändern muss, um inklusiv zu sein

Die Löhne werden aus dem sogenannten „Arbeitsergebnis“ der jeweiligen Werkstatt bezahlt. Rechtlich gesehen ist das die „Differenz aus den Erträgen und den notwendigen Kosten des laufenden Betriebs im Arbeitsbereich der Werkstatt“. Es ist zudem festgeschrieben, dass mindestens 70 Prozent des Arbeitsergebnisses für die Löhne aufgewandt werden müssen. All das scheint schwer verständlich, oder?

Dieser Umstand hat das Institut der Wirtschaftsprüfer bereits 2006 veranlasst, für ihre Arbeit in den Werkstätten ein eigenes, mehrseitiges Formblatt samt Anleitung für die Ermittlung des Arbeitsergebnis zu entwickeln. Was etwa den Umgang mit Rückstellungen und Rücklagen anbelangt, ist dieser Text nicht für die Werkstattbeschäftigten und deren Vertretung verständlich. Insofern sind Werkstatträte auf eine neutrale Vermittlung der Rechte und Pflichten der Geschäftsführung zur Darlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse im eigenen Betrieb durch geeignete Seminare angewiesen. Werkstatträte müssen von sich aus aktiv werden, um die Informationen zur wirtschaftlichen Situation der WfbM zu erhalten.

So regelt es die Werkstättenmitwirkungsverordnung (WMVO), in der die Rechte der Beschäftigten mit Behinderung geregelt sind. Dann werden sie als Referent angefragt. Was für Erfahrungen haben sie gemacht?

Wenn die Werkstatträte in diesem Sinne aktiv werden, erleben sie oft beim Thema Entgelt, dass die Informationen mit Hinweis auf den Datenschutz zurückgehalten werden. Werkstatträte berichteten mir auch, dass sie erst mit der Androhung von rechtlichen Schritten die Informationen erhalten haben. Vor diesem Schritt schrecken viele zurück, um das Gesprächsverhältnis mit der Geschäftsführung nicht zu belasten.

Müssen denn die Werkstätten den Beschäftigten nachvollziehbar erklären, wie ihr Lohn berechnet wird?

Die Geschäftsführung ist dazu verpflichtet, wenn der Werkstattrat nachfragt – so sieht es auch die bereits erwähnte Juristin Carola Veit. Aus den Seminaren und aus der Zeit, als ich als Vertrauensperson für verschiedene Werkstatträte tätig war, kommen die Geschäftsführer:innen dieser Aufgabe in sehr unterschiedlicher Weise nach. Für die Art der Aufbereitung der Informationen gibt es meines Wissens keine Vorschriften. In den Seminaren wurde berichtet, dass die Geschäftsführer:innen diese Aufgabe delegieren oder Termine dafür verschieben, während sie dem Aufsichtsrat entsprechendes Material von selbst und vorschriftsmäßig erläutern.

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Wie könnte man die Situation deutlich verbessern?

Aus meiner Sicht würde es die Aufgabe der Werkstatträte wesentlich erleichtern, wenn die Geschäftsführung gesetzlich verpflichtet wird, jährlich und formalisiert über die Entscheidungen im Umgang mit dem Arbeitsergebnis zu berichten. Die Berichterstattung sollte auch für gesetzliche Betreuer:innen ermöglicht und vorgeschrieben werden, um die Entwicklung der Werkstatt und die Entwicklung der Löhne auch für die Werkstattbeschäftigten transparent zu machen, die zusätzliche Hilfen zum Verständnis brauchen oder an Versammlungen aufgrund ihrer Behinderung nicht teilnehmen können, etwa Menschen mit autistischen Störungen. Wesentlicher ist aber nach meiner Erfahrung, wie die Geschäftsführung mit eigenen Entscheidungen umgeht. Das Mitbestimmungsrecht der Werkstatträte bei Lohnkürzungen stellt besondere Anforderungen an die Darstellungspflicht der Geschäftsführungen. Danach müssen Geschäftsführer:innen nicht nur das Arbeitsergebnis in leichter Sprache darstellen, sondern sie müssen dem Werkstattrat auch die Entscheidung erklären. Dazu möchte ich ein Beispiel geben, es stammt aus einem meiner Seminare:

Konzept: Horst Rudolph, Grafik: Eva Leonhard

Der Geschäftsführer einer WfbM hat vor, einen LKW für den Betrieb zu kaufen. Er kann diesen LKW auch mieten oder die Aufgabe einer Spedition übertragen. In jedem Fall sind damit Kosten verbunden, die sich auf das Arbeitsergebnis erheblich auswirken. Mit dem Mitbestimmungsrecht der Werkstatträte ist aus meiner Sicht verbunden, dass er den Werkstatträten vorrechnet, was jeweils für Kosten entstehen bei den unterschiedlichen Möglichkeiten, die er hat. Die Überlegungen macht er sich normalerweise sowieso, aber jetzt ist es notwendig, dass er diese Überlegungen gegenüber dem Werkstattrat offenlegt. Nach meinem Verständnis hat die Geschäftsführung grundsätzlich für alle solche Entscheidungen diese Darlegungspflicht.

Zwar dürfen Werkstätten Löhne kürzen, wenn es wirtschaftlich nicht anders geht. Aber dürfen sie es auch dann, wenn die Beschäftigten dem nicht zustimmen?

Ohne die Zustimmung der Werkstatträte darf dies nicht geschehen – die Werkstatträte haben dann die Möglichkeit eine Vermittlungsstelle anzurufen (ein Gremium, das im Streitfall schlichten soll, Anm. d. Red.). Nach WMVO entscheidet sie entgültig. Nach meiner Erfahrung erreichen die Geschäftsführungen die Zustimmung aber in der Regel über Verhandlungen.

Genau das ist auch in der Pandemie passiert. Die Auftragslage dürfte durch die drohende Energie- und Wirtschaftskrise infolge des Ukraine-Krieges weiter bundesweit angespannt bleiben.

In meinen Seminaren wurde immer wieder berichtet, dass Lohnkürzungen mit der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens begründet werden und Werkstatträte um Zustimmung gebeten werden. Das gab es schon vor der Pandemie. Nach meiner Erfahrung haben die Werkstatträte in fast allen Fällen einer Lohnkürzung zugestimmt. Ich erinnere mich an einen Fall vor mehreren Jahren, als der Werkstattrat die Vermittlungsstelle angerufen hat. Das führte, so die beteiligten Werkstatträte, zu einem sehr angespannten Gesprächsverhältnis zwischen ihnen und der Geschäftsleitung. Zudem kam es zu Spannungen unter den Beschäftigten, insbesondere in den Arbeitsgruppen, in denen die Werkstatträte tätig waren. Sie sind danach zurück- oder zur nächsten Wahl nicht wieder angetreten. Unabhängig von Entlohnungsfragen berichten Werkstatträte auch über Fälle von Mobbing in ihren Werkstätten bei Konflikten mit der Geschäftsleitung. Es ist verständlich, dass die Werkstatträte dann weiteren Konfrontationen aus dem Weg gehen.

Wie können sich denn die Beschäftigten, die keine Arbeitnehmer:innen im klassischen Sinne sind, generell gegen Lohnkürzungen wehren?

Im Rahmen des Mitbestimmungsrechts können Werkstatträte, die bereits erwähnte Vermittlungsstelle anrufen. Bei allen meinen Seminaren habe ich die Frage gestellt, welche der Teilnehmer:innen schon ein entsprechendes Verfahren angestrengt haben. Nur wenige Konflikte sind mit der Geschäftsleitung so gelöst worden. In den meisten Fällen wurde im Vorfeld ein Kompromiss mit den Werkstatträten gesucht. Oft haben sie aber solche Konflikte vermieden und sich mit den Erklärungen der Geschäftsführung zufrieden gegeben. Wiederholt habe ich aber Berichte von Vertrauenspersonen gehört, die von Problemen bei der Kalkulation der Arbeit der Beschäftigten berichtet haben. Werkstätten stehen zudem in Konkurrenz zur Arbeit in Gefängnissen. Aus den Berichten erinnere ich, dass es Geschäftsführungen gibt, die es für wichtiger erachten, dass alle Beschäftigung haben. Das Ziel, gute Löhne zu zahlen, tritt dabei zurück. Werkstattbeschäftigte sind in einer Reha-Maßnahme und können von daher nicht streiken. Sie haben aber ein Beschwerde-Recht.

Oft heißt es seitens der Werkstattleitung, dass höhere Löhne die wirtschaftliche Existenz der Einrichtungen elementar bedrohen würden. Ein Totschlagargument. Wie können die Beschäftigten mit Beeinträchtigungen das überprüfen?

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Die Geschäftsführung ist verpflichtet, entsprechende Informationen dem Werkstattrat vorzulegen. Zudem kann der Werkstattrat sich beraten lassen. Er hat die Möglichkeit, die Wirtschaftsprüfer:in der Werkstatt sowie einen unabhängigen Sachverständigen einzuladen oder mit Unterstützung des Betriebsrates bei der Hans-Böckler-Stiftung eine Analyse des Jahresabschlusses der Werkstatt zu beantragen. Die mit solchen Vorgehensweisen verbundenen Kosten sind aber mit der Geschäftsführung abzustimmen und führen letztlich zu einer Erhöhung der Kosten in der Werkstatt. Anders ausgedrückt: Die Kosten für die Klärung von Rechtsstreitigkeiten führen in der Werkstatt immer zu einer Verringerung des Arbeitsergebnisses und schmälern die Löhne der Beschäftigten, weil in dem Arbeitsergebnis alle Kosten der Werkstatt berücksichtigt werden.

Gibt es neben den Beschäftigten eine unabhängige Kontrollinstanz, die überprüft, ob die Werkstätten gemäß ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit angemessene Löhne zahlen?

Die einzige Instanz ist der Werkstattrat selbst. Daneben gibt es noch die Möglichkeit, dass die Behörden den Betrieb überprüfen. Das ist aber nach meinen Erfahrungen aus den Seminaren nur üblich, wenn aufgrund von Verlusten zusätzliche Subventionen beantragt werden. Solange der Betrieb „schwarze Zahlen“ schreibt, schreiten die Behörden nicht ein. Es gibt dabei auch wenig Anlass, weil die Beschäftigten die ihnen fehlenden Gelder zum Lebensunterhalt über die Grundsicherung erhalten. Die zahlenden Sozialämter überprüfen nicht, ob die Werkstätten gut wirtschaften.

Horst Rudolph

Der Diplompsychologe hat bereits seinen Zivildienst in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen geleistet. Als selbstständiger Berater betreut und begleitet er seit 1992 in Seminaren und Schulungen Menschen mit Behinderungen in Werkstätten und deren Interessensvertreter:innen. Foto: privat

Foto: IMAGO / Gustavo Alabiso

Mitarbeiter in der Kunststoffspritzerei der Hagsfelder Werkstätten, Karlsruhe (Archivbild).

Jan Scheper

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