Social Start-up „Das Geld hängt an den Bäumen“

Alte Äpfel, neue Arbeit, gelungene Inklusion

Das Hamburger Sozialunternehmen „Das Geld hängt an den Bäumen“ macht Saft aus alten Obstsorten und pflegt Gärten. Dafür stellt es Menschen ein, die anderswo schwer Arbeit finden würden, etwa weil sie eine Behinderung haben.

Goldgelb und trüb schwappt der Apfelsaft in Flaschen über das Fließband. Neben gestapelten Getränkekisten steht Simon Riedel, greift eine Flasche und stellt sie behutsam auf das Band, wo zwei Rollen das Etikett aufkleben: filigran gezeichnetes Obst auf weißem Grund. Später wird er per Hand runde Sticker anbringen: „Nachbarsgarten“, „sozial, nachhaltig, regional“.

Das Hamburger Sozialunternehmen „Das Geld hängt an den Bäumen“ produziert den Apfelsaft aus alten Sorten. Zunächst nur pur mit Früchten ungenutzter Streuobstwiesen, nun auch gemischt mit Birne, Holunder, Johannisbeere und Rhabarber oder als Schorle. So erhält es ökologisch wertvolle Streuobstwiesen, auf denen hochstämmige Bäume vereinzelt wachsen und regionale Apfelsorten wie Finkenwerder Herbstprinz, Juwel aus Kirchwerder oder Dithmarscher Paradiesapfel. Seit 2010 ist das Unternehmen gemeinnützig und hat sich neben diesem ökologischen einem sozialen Zweck verschrieben: Arbeitsplätze schaffen für Menschen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten oder anderen Beeinträchtigungen, aber auch für ehemals obdachlose oder langzeitarbeitslose Menschen. Von den 20 Mitarbeitenden hat etwa die Hälfte einen Schwerbehindertenausweis.

Simon Riedel war einer der ersten Angestellten. Er mag seine Arbeit. „Aber gerade ist es ein bisschen stressig, weil Samuel krank ist“, erzählt er. Ein Fußball-Unfall. Seit Beginn sind er und Samuel Wolters Kollegen. Fotos von beiden zieren die Schorle-Flaschen. Samuel grinst von der Sorte Apfel, Simon lächelt von der Apfel-Johannisbeerschorle, sie tragen den hellgrauen Hoodie mit dem Firmenlogo, einem Baum.

Inklusion in Hamburg: Raus aus der Werkstatt

Nach seinem Hauptschulabschluss arbeitete der heute 32-jährige Simon Riedel, der das Asperger-Syndrom hat, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM), den Elbe-Werkstätten. Auch Marcel Graudegus war nach seinem Förderschulabschluss bei einer WfbM beschäftigt, den Alsterdorfer Werkstätten. „Einen Appel und ein Ei habe ich dort verdient, so 300 Euro waren das. Und die Werkstätten selbst fahren Millionen ein.“

Teamwork, das Spaß macht: Simon Riedel (rechts) mit Kollegen bei der Apfelernte. Foto: Das Geld hängt an den Bäumen

Zusätzlich bezog er Sozialleistungen, lebte im betreuten Wohnen. Seit vier Jahren arbeitet er bei Das Geld hängt an den Bäumen, einem Integrationsbetrieb. Zuerst bekam er ein Praktikum, dann einen Außenarbeitsplatz der Werkstatt, erhielt aber weiterhin seinen niedrigen Werkstatt-Lohn. Nach eineinhalb Jahren wurde er sozialversicherungspflichtig bei Das Geld hängt an den Bäumen angestellt – und fairer bezahlt. Er verdient jetzt 1.650 Euro netto. „Ich kann mir wesentlich mehr leisten und muss nicht mehr so aufs Geld schauen“, sagt er. So bleibt ihm genug für sein Hobby, die Fotografie. Der 32-Jährige wohnt mit seinem Lebensgefährten in Schleswig-Holstein in Mölln zusammen. Von dort pendelt er eineinhalb Stunden mit Regionalzug und S-Bahn zu seinem Arbeitsplatz im südlichen Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg. Es lohnt sich: „Hier werde ich anders wertgeschätzt als in der Werkstatt. Dort war ich ein Mensch mit Handicap. Hier kann ich mehr sein. Ich werde ernst genommen“, sagt er.

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Das Sozialunternehmen ist für Manfred Otto-Albrecht von der Fortbildungsakademie der Wirtschaft „ein ganz wunderbares Beispiel dafür, wie die Inklusion von Menschen mit einer Schwerbehinderung bzw. von Menschen mit Besonderheiten oder Beeinträchtigungen gelingen kann“. Bei dem Projekt Forum Wirtschaft und Inklusion bemüht er sich darum, dass mehr Menschen mit Behinderungen in Unternehmen angestellt werden. Gerade sie sind häufiger und länger arbeitslos oder in Werkstätten beschäftigt.

Bestehende System beruflicher Inklusion ist zu bürokratisch und kompliziert“

Allein in Hamburg arbeiteten dort vergangenes Jahr im Schnitt 4.285 Menschen. Nur elf von ihnen, das sind 0,26 Prozent, schafften den Übergang in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Dabei wäre das der gesetzliche Auftrag der Werkstätten. Obendrein sind Unternehmen mit mehr als zwanzig Mitarbeitenden dazu verpflichtet, mindestens 5 Prozent schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Ein Viertel der Unternehmen hält sich jedoch nicht daran, sondern zahlt stattdessen eine Abgabe. Manfred Otto-Albrecht erklärt das so: „Das bestehende System der beruflichen Inklusion ist viel zu unübersichtlich, bürokratisch und kompliziert.“ Gerade für kleine und mittlere Unternehmen sei das ein Problem. Hoffnung macht ihm das kürzlich verabschiedete Teilhabestärkungsgesetz, denn demnach sollen einheitliche Ansprechstellen für Arbeitgeber:innen geschaffen werden.

Auch der extrem niedrige Verdienst in Werkstätten steht oft in der Kritik. Bei Das Geld hängt an den Bäumen bekommen die Mitarbeitenden hingegen etwas mehr als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von 9,50 Euro brutto pro Stunde, gestaffelt nach Tätigkeit. Im Fall von Marcel Graugedus sind es beispielsweise 13 Euro, denn er übernimmt Zusatzaufgaben in der Garten- und Landschaftspflege, hat etwa einen Kettensägenschein und fährt den Aufsitzmäher.

An einem sonnigen Mittwochvormittag im September kreist er damit sorgfältig über eine kleine Grünfläche. Ringsherum Beton, der Hof eines Logistikunternehmens im Industriegebiet des Hamburger Hafens. Die Arbeitshose trägt er lässig auf den Hüften, über dem Poloshirt eine orange Warnweste, Sonnenbrille. Ein Gehörschutz verdeckt seinen kleinen silbernen Ohrstecker. Als er kurz stehen bleibt, um einen Schluck aus dem Thermo-Kaffeebecher zu nehmen, blickt er kritisch auf mehrere einzelne Halme, die zwischen den kurz geschorenen hervorragen: Wahrscheinlich ist das Messer stumpf, überlegt er. Er wird sich darum kümmern müssen.

Zudem bewirtschaftet das Sozialunternehmen 30 Hektar Pachtflächen, 2.000 Obstbäume wurden neu gepflanzt. Die Ernte aus privaten und öffentlichen Gärten deckt den Bedarf an Äpfeln und Birnen. Holunder und Schwarze Johannisbeere kaufen sie ein, in Bio-Qualität. 293.000 Flaschen der Säfte und Schorlen füllen sie jährlich ab, mittlerweile stehen die Produkte auch in manchen Edeka- oder Rewe-Filialen. Seit fünf Jahren pflegen sie vor allem bei Gewerbekunden die Grünflächen, finanziell lohnt sich das mehr als der Getränkebereich. Doch um Profit geht es hier niemandem. Ehrenamtliche Ernte-Helfer:innen und regelmäßige Spenden halten den Betrieb am Leben. Gerade in der Pandemie: Im April 2020 mussten alle einen Monat in Kurzarbeit. Großzügige Spenden halfen dem Unternehmen über die Runden. Doch der durchschnittliche Absatz sank um 70 Prozent; erholt sich nur langsam. Erst kürzlich mussten fünf Mitarbeitende entlassen werden.

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Das war sehr schmerzhaft für uns“, sagt Nancy Menk, Geschäftsführerin bei Das Geld hängt an den Bäumen. Denn das Sozialunternehmen möchte langfristige Perspektiven für seine Mitarbeitenden schaffen. Gerade für diejenigen, die es anderswo schwer hätten. „Für jeden Menschen kann es würdevolle Arbeit geben“, sagt Nancy Menk. Sie ist überzeugt: „Immer mehr Menschen fallen durchs Raster, weil sie diesem leistungsorientierten Arbeitsleben nicht standhalten können.“ Das Geld hängt an den Bäumen möchte ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen, Menschen Arbeit bieten, „an die sonst oft nicht geglaubt wird“.

Foto: Das Geld hängt an den Bäumen

Aus diesen Äpfeln macht das Sozialunternehmen „Das Geld hängt an den Bäumen“ Saft. 293.000 Flaschen werden jährlich abgefüllt. Mittlerweile stehen die Produkte auch in manchen Edeka- oder Rewe-Filialen.

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