Für viele ist die Situation katastrophal: für ältere Menschen, die über weniger soziale Kontakte verfügen, aber auch für alle anderen gesellschaftlichen Gruppen, die von vielen kulturellen Angeboten ausgeschlossen sind, sagt Daniel Mark Eberhard, Leiter des Masterstudiengangs Inklusive Musikpädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Hier geht es darum, Zugangsbarrieren zu Musik möglichst zu beseitigen. „Unser ganzes Bestreben geht dahin, Menschen mit Musik zusammenzubringen“, sagt der Professor für Musikpädagogik, der unter anderem mit Inhaftierten in Gefängnissen und mit Geflüchteten arbeitet. Kultur – begriffen als all das, was von Menschen erzeugt wurde – sei integraler Bestandteil des Lebens. „So gut wie jeder Mensch mag Musik. Daraus ergibt sich ein großes Potenzial.“ Kultur als Luxusgut zu begreifen, sei deshalb ein großes Missverständnis. „Man kann nicht sagen: Kultur ist nicht systemrelevant. Das ist Unsinn.“
Inklusive Musikprojekte während der Pandemie
Mit der Kulturbranche haben auch die inklusiven Angebote unter der Pandemie gelitten. Trotzdem – oder gerade deshalb – entwickeln sich vielerorts neue Ideen. In Berlin spielen seit September 2020 bei der Kampagne #MusikerFürMusikerBerlin Musiker:innen aus großen Klangkörpern wie dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin private Konzerte in sozialen Einrichtungen, um die Menschen dort an ihrer Musik teilhaben zu lassen. Was sie an Spenden einnehmen, geben sie an freischaffende Musiker:innen.
In Frankfurt an der Oder gaben Mitglieder des Brandenburgischen Staatsorchesters im Frühjahr 2020 in kleinen Formationen etwa fünfzig Mini-Konzerte in Kitas, Pflegeheimen, im Hospiz und in anderen sozialen Einrichtungen. Die Musiker:innen entwickelten eigens Programme und erklärten dem Publikum die Instrumente. Manchmal mussten sie dabei im Krankenhausflur vor den Zimmern spielen. „Das waren für die Musiker:innen ungewohnte Situationen“, erzählt Sprecher Uwe Stiehler. Sobald der reguläre Konzertbetrieb zurückkehrt, dürften diese besonderen Momente seltener werden. Andere inklusive Projekte starten dann wieder. Im Herbst ist etwa ein deutsch-polnisches Projekt für Schüler:innen geplant. Auch der Konzertbus soll dann ältere und weniger mobile Menschen aus umliegenden Orten zu den Konzerten bringen.
Zugang zu musikalischer Bildung
Das Musikmachen ist durch die Pandemie ebenfalls eingeschränkt, gerade für vulnerable Gruppen. „Der Lockdown hat Menschen mit Behinderung noch mal viel härter getroffen. Sie leben etwa in beengten Wohngruppen, wo sich das Virus schnell verbreitet hat. Dementsprechend streng waren die Auflagen“, sagt Peter Tiedeken, Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Musik an der HAW Hamburg. Grundsätzlich kritisiert er: „Das ästhetische Interesse an Musik von Menschen mit Behinderung bleibt oft völlig unbefriedigt, weil Ausschlussprozesse gesellschaftlich institutionalisiert sind: Menschen mit Behinderung wird der Zugang zu musikalischer Bildung auch heute noch erschwert.“ Schwierig sei es für alle, die im Schulsystem früh aussortiert werden oder denen Geld für die Musikschule fehle. Dabei wäre Teilhabe aus sozialpsychologischer Sicht wichtig: „Man kann durch Musik einen Selbstwert konstituieren, indem man als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft und als Künstler:in wahrgenommen wird“, sagt er. „Gleichzeitig können schlechte Lebensverhältnisse nicht dadurch kompensiert werden, dass man Musik macht.“
Vor allem in urbanen Kontexten wie Hamburg beobachtet Tiedeken immer mehr inklusive Angebote, die auch jetzt funktionieren. Eines davon ist barner 16, ein Netzwerk professioneller Künstler:innen mit und ohne Behinderungen. barner 16 habe positive Erfahrungen beim Musizieren im Homeoffice und mit digitaler Musikproduktion gemacht, sagt Tiedeken. Menschen im autistischen Spektrum könne die Arbeit abseits von wuseligen Gruppen sogar entlasten.
Digitale Alternativen nicht für jede Zielgruppe
Elisabeth Radziejewski spielt bei barner 16 in der Indiepop-Band Stille Vann und singt im Chor Sounddrops. Es sei toll, dass sie immerhin online weiterarbeiten konnte, doch die digitalen Proben seien anstrengend, sagt sie. Als Kind erlitt sie durch einen Sturz ein Schädel-Hirn-Trauma, mehrere Wochen lag sie im Koma. In der Schule war sie schlecht und hat keinen Abschluss. Übers Internet fand sie schließlich barner 16. Mittlerweile arbeitet sie dort seit mehr als 15 Jahren und wird über das Budget der Werkstatt für Menschen mit Behinderung bezahlt. Sie spricht von einem „Sechser im Lotto“. „Ich finde es wunderbar, dass ich mich hier musikalisch entfalten kann.“ Mit ihrer Band hat sie während Corona vor allem neue Songs geschrieben. Nun freut sie sich darauf, wieder live proben zu können.
Ob digitale Projekte eine Alternative sind, hängt auch von der Zielgruppe ab. Die erfahrene Sozialarbeiterin Jessika Köbele studiert Inklusive Musikpädagogik in Eichstätt. Mit ehemals obdachlosen Frauen, die in einer Münchner Einrichtung des Evangelischen Hilfswerks leben, hat sie vor der Pandemie ein Musikprojekt gestartet. „Das Interesse an Kultur und Ästhetik besteht immer – egal, in welcher sozialen Notlage man ist“, sagt Köbele. Im Lockdown führte sie ihr Projekt in Eins-zu-eins-Betreuung weiter. Eine Frau wollte ihre Stimme trainieren, eine andere mit Instrumenten arbeiten, eine dritte Volkslieder aus ihrer Heimat singen. Digital lief nichts davon. „Meine Klient:innen haben oft nicht mal ein Handy.“ Angebote wie ihres können Halt und Struktur gegeben. Deshalb sind sie nicht nur in der Pandemie wichtig.
Das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt probt für neue Formate: Im Frühjahr 2020 gaben Mitglieder des Orchesters in Frankfurt (Oder) etwa fünfzig Mini-Konzerte in sozialen Einrichtungen.