Gemeinwohl-Ökonomie

„Wir haben ein Konzept, nach dem Fridays for Future sucht”

Aktivist Christian Felber findet unser Wirtschaftssystem pervers. Sein Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie soll allen Menschen ein gutes Leben ermöglichen. Im Interview spricht er über Grenzen des Privateigentums und wie Zölle Staaten ohne CO2-Steuer bestrafen sollen

Vor mittlerweile neun Jahren haben Sie das Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie entwickelt. Warum zweifeln Sie an unserem bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem?

Ich habe immer mehr einen Wertewiderspruch bemerkt. Einerseits machen gelingende Beziehungen Menschen glücklicher als irgendetwas anderes. Sie motivieren auch stärker. Andererseits beruht unsere jetzige Wirtschaftsordnung auf ganz anderen Werten: auf der Maximierung von Eigennutz, Konkurrenzorientierung, Verfolgung von finanziellen Zielen, Materialismus und Wachstum. All das untergräbt die Beziehungen, die uns glücklich machen und motivieren. Und an diesem Wertewiderspruch leiden unendlich viele Menschen. Die Gemeinwohl-Ökonomie löst genau diesen Wertewiderspruch auf: Sie ist zwar prinzipiell immer noch eine freie Marktwirtschaft, aber sie beruht nicht mehr auf Kapitalmehrung, sondern auf unseren demokratischen Grund- und Beziehungswerten.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgen auf und wir leben in einer idealen Gemeinwohl-Ökonomie. Woran würden wir es merken?

Wir hätten wieder mehr Bienen und überall würden Vögel zwitschern. Wir könnten das Wasser aus den Flüssen wieder trinken. Wir wären gut gelaunt, es gäbe kaum Stress und kein Burnout mehr. Wir wären gesünder. Und auch das Landschaftsbild und Stadtbild wären anders: Es gäbe viele kleine oder mittelgroße Unternehmen, aber keine Großkonzerne mehr. Bürotürme wären Häusern gewichen, die dazu einladen, hineinzugehen und sich wohl zu fühlen. Sie wären ohne Chemikalien gebaut, aus 100 Prozent Naturmaterialien. Unsere Lebensqualität wäre in jedem Aspekt besser. Wir würden achtsamer miteinander kommunizieren, gewaltfrei sprechen, uns von Herzen zuhören und partizipativ entscheiden. Wir wären mit unserer Demokratie zufrieden. Und weil die Ungleichheit geringer wäre, gäbe es keine Stacheldrahtzäune und privaten Securities mehr.

Müssten wir dafür nicht unser marktwirtschaftliches System viel radikaler umbauen, beispielsweise auch mit Blick auf Eigentumsformen?

Es gibt eine gewisse Berechtigung für Privateigentum. Die Gemeinwohl-Ökonomie sieht dabei jedoch eine größere Vielfalt vor: Genoss*innenschaft, Mitarbeiter*innen-Stiftung, Stakeholder-Beteiligung. Es gibt verschiedene Modelle. Aber wir brauchen Grenzen und auch eine Sozialpflicht des Eigentums – die das Grundgesetz ja eigentlich vorschreibt. Stattdessen untergraben die Marktkräfte genau diese Grundwerte, die vom gesellschaftlichen Zusammenhalt über die Ökologie bis hin zu Ethik und dem Sinn im Leben reichen. Die Wirtschaftswissenschaft hat uns mit einem „perversen“ Marktdesign in die Irre geführt. Denn Effizienz, Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum sind in keinem demokratischen Staat dieser Erde ein Verfassungswert.

Wieso verabschiedet sich die Gemeinwohl-Ökonomie dann nicht komplett vom Streben nach Wachstum?

In einer Gemeinwohl-Ökonomie wird es weiterhin Wachstum geben – aber so wie jedes Lebewesen hat auch jede Firma eine optimale Größe. Auch wird es Kapital geben, aber dieses wird konsequent als Mittel betrachtet, das dem übergeordneten Ziel des Gemeinwohls dienen muss. Deshalb wird es in einer Gemeinwohl-Ökonomie nur Gemeinwohl-Banken und Gemeinwohl-Börsen geben. Das heißt Fremd- und Eigenkapital sollen von einer regionalen Gemeinwohlbank oder -börse an Unternehmen fließen können – allerdings erst nach einer Gemeinwohl-Prüfung. Das kann auch für Aktiengesellschaften gelten. Diese sollten aber nicht die Größe der Deutschen Bank oder von Bayer annehmen dürfen. Wir brauchen eine globale Fusionskontrolle, welche das Ergebnis der Gemeinwohlbilanz in die Fusionsprüfung miteinbezieht und eine Obergrenze definiert, die spätestens bei einer Größe von zehn Milliarden Euro Umsatz…

TITELBILD: MIKE ERSKINE/UNSPLASH

Ein gutes Leben für alle Menschen – das will die Gemeinwohl-Ökonomie erreichen.

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