Frau Karatsch, vor knapp 16 Monaten erlebte Belarus die größte Protestwelle seit seiner Unabhängigkeit 1991. Wo steht die belarussische Gesellschaft heute?
Olga Karatsch: Früher waren Demokratie und Menschenrechte leere Worte. Heute, nachdem über 40.000 Personen gefoltert wurden, mehr als 200.000 das Land verlassen haben und viele gestorben sind, denken die Leute darüber nach, was Menschenrechte sind: Standards, die für alle gelten. Das Bewusstsein hat sich geändert. Jetzt wollen die Leute Einfluss darauf nehmen, nach welchen Regeln gespielt wird, welche Rechte sie haben.
Bei den Protesten sind viele historische Symbole präsent, wie die weiß-rot-weiße Flagge der Belarussischen Volksre- publik, die von 1918 bis 1919 existierte …
Auch hier ist etwas fundamental Neues passiert. Früher hieß die Devise: Was war und was kommt, hat keine Bedeutung. Niemand interessierte sich für Geschichte oder dafür, warum eine Straße einen bestimmten Namen trug. Als der Terror anfing, haben sich die Belaruss:innen an die Stalin-Zeit erinnert. Jetzt entwickelt sich eine Art historisches Gedächtnis, auch was die eigene Familiengeschichte angeht. Dieser Prozess muss unbedingt unterstützt werden.
Aber Alexander Lukaschenko ist noch an der Macht …
Das hat auch damit zu tun, dass durch das belarussische Volk ein tiefer Riss geht: Die einen unterstützen Lukaschenko, die anderen sind gegen ihn. Sie haben nicht gelernt, miteinander zu sprechen, zum Beispiel über die Opfer, die wir seit dem Beginn der Proteste zu beklagen haben. Außerdem herrscht jetzt bei vielen große Enttäuschung, auch bei mir. Denn ein Großteil der Belaruss:innen hatte auf schnelle Veränderungen gesetzt. Jetzt ist klar geworden, dass das alles noch lange dauern wird. Die Gesellschaft ist geteilt: Diejenigen Menschen, die auf die Straße gingen, weil das alle machten, aber selbst kein politisches Credo, kein klares Ziel hatten, haben sich nun, eingeschüchtert von der Protestbewegung, abgewandt und sind in die innere Emigration gegangen. Der andere, kleinere Teil jedoch weiß, was er erreichen will. Diese Gruppen werden der Motor für Veränderungen sein.
Können Sie dafür Beispiele nennen?
Die Cyberpartisanen oder all die Netzwerke gegenseitiger Hilfe für die Opfer von Repressionen, die gegründet wurden. Ingesamt gibt es Hunderte Graswurzelinitiativen, innerhalb und außerhalb des Landes. Mich überrascht, dass die Menschen auch in Belarus selbst weitermachen – trotz des Risikos, dafür ins Gefängnis zu gehen.
In der belarussischen Opposition soll es große Meinungsverschiedenheiten geben. Was sind die Streitpunkte?
Die Rolle von Russlands Präsidenten Wladimir Putin und die Frage, wie die Krise in Belarus gelöst werden kann. Swetlana Tichanowskaja (Kandidatin bei der Präsident:innenwahl am 9. August 2020, Anm. d. Red.) ist der Ansicht, dass Putin an diesem Prozess beteiligt sein sollte. Die meisten Graswurzelinitiativen finden das nicht. Diese Meinungsunterschiede erschweren unsere gemeinsame Arbeit erheblich. Es gab von unserer Seite mehrere Versuche, sich zu verständigen. Doch die hat Tichanowskaja alle blockiert.

Olga Karatsch
Solidarität mit den Graswurzelinitiativen in Weißrussland ist wichtig, sagt Olga Karatsch, aber: „Wir benötigen Unterstützer:innen, die uns helfen, eine Kultur des politischen Dialogs zwischen den Akteur:innen der Zivilgesellschaft zu entwickeln. So einen Dialog gibt es noch nicht. Deutschland könnte die Rolle eines Vermittlers übernehmen.“ (Symbolbild)
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