Wenn man ein Bild malen sollte von einem Ort, für den das Wort Idylle erfunden zu sein scheint, dann wäre Lüchow eine gute Vorlage. Da laufen Kinder singend über einen Feldweg, vorneweg schreitet ein Pferd mit einem Jungen auf dem Rücken. Im Dorf filzen ältere Menschen Wolle, eine Frau zupft sie, ein Mann taucht sie in die Seifenlauge. Nebenan stehen der Waldorf- Kindergarten, zwei Mehrgenerationenhäuser sowie ein Gemeinschaftshaus für Lesungen, Konzerte, Theateraufführungen. Und an all dem schlängelt sich dekorativ die Peene vorbei, in Richtung Ostsee. Wie auf einem Gemälde.
Lüchow liegt auf der Grenze zwischen Mecklenburg und Vorpommern, etwa eine Stunde von Rostock entfernt. Es ist ein Dorf wie viele in der Gegend. Bedroht von der demografischen Entwicklung. Wer kann, zieht weg, weil die Arbeitsplätze fehlen. Auch Lüchow war da lange keine Ausnahme. Im Jahr 2000 lebten noch fünf Menschen im Ort.
Im Jahr 2000 lebten noch fünf Menschen in Lüchow – dann kam Johannes Liess
Dann kam Johannes Liess. Der Architekt aus Wien kaufte 2003 gemeinsam mit seinen Geschwistern ein Haus in Lüchow. Anfangs war es nur als Ferienwohnung gedacht, dann aber beschloss er, mit seiner Familie „hierher zu ziehen und im Urlaub zu bleiben, permanent Vacation, sozusagen“. Es ist der Traum vieler Städter: einfach raus, aus den Zwängen, dem Gestank und Lärm der Großstadt, dem Verkehr, der Hast. Den Kindern eine lebenswerte Umgebung bieten. Das Beste sei, sagte Liess: „Wir führen ein eigenverantwortliches Leben, wir gestalten unsere Umwelt nach unseren Vorstellungen. Wo kann man das schon?“
Seine Begeisterung steckte an. Einer von Liess’ Brüdern zog ihm hinterher, Bekannte folgten, selbst Fremde, die von dem Projekt begeistert waren. Trinkwasser bekamen sie aus einem Brunnen im Nachbardorf, das Abwasser reinigten sie in einer selbstgebauten Pflanzenkläranlage, auch ihren Strom verlegten die Neu-Lüchower selbst. Sie bauten ein Gemeinschaftshaus und eine Schule, gerade sie sorgte für weiteren Zuzug. Während sich im ganzen Bundesland die Schülerzahlen halbierten, entwickelte sich Lüchow in die andere Richtung. „Man muss nur wollen“, sagte Liess selbstbewusst. Er hatte Pläne für ein Hotel, einen ökologischen Bauernhof. Ein autarkes Dorf mit Arbeitsplätzen für alle. Er schrieb ein Buch mit dem Titel „Artgerecht leben. Von einem der auszog, ein Dorf zu retten“. In der Widmung steht: „Für alle, die noch Träume haben.“ Das war der Geist, der Zuzügler aus Rostock, Mittel- und Süddeutschland verband. Bis 2011 dieser Brief kam.
Alles lief perfekt, bis die Schule schließen musste
Das Land entzog der Schule die Betriebserlaubnis. Dass es zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Klassen, vier Jahrgänge und 30 Schüler gab, war der Behörde egal. Offiziell hatte sie Zweifel an den Qualifikationen der beiden Lehrerinnen. Der Entscheid traf die Lüchower ins Mark. „Die Schule war das Herz des Dorfes“, sagt Ernestine Feustel-Liess, die 36-jährige Schwägerin von Johannes Liess. Sie leitet den Waldorfkindergarten, mit ihrem Mann und ihren vier Kindern ist sie vor neun Jahren nach Lüchow gezogen. Dass es dort eine Schule gab, war für sie ausschlaggebend. Wie für die meisten Zuzügler: Nach der Schließung der Schule gingen einige Familien wieder. Wer blieb, musste seine Kinder aus dem Dorf schicken. Feustel-Liess fährt ihre täglich nach Rostock.
„Erst dachten wir: Jetzt ist es vorbei! Das war zum Heulen“, sagt sie. „Wir haben dann aber ziemlich schnell entschieden, dass wir nicht den Kopf in den Sand stecken.“ Sie gründete den Verein …
In Lüchow nahe Rostock wird die Vision einer lebendigen Dorfgemeinschaft geträumt