Chagos

Die vergessene Kolonie

Die Chagos-Inseln sind eines der letzten britischen Überseeterritorien. In den 1960er-Jahren vertrieb die königliche Armee die Bewohner:innen brutal. Sie kämpfen bis heute um eine Rückkehr.

Marielle hält nichts von englischem Tiefkühllachs. „Ich möchte zurück an unsere Strände. Dort haben wir selbst gefischt und Kokosnüsse von den Palmen gepflückt. Wir mussten nicht durch die Kälte zum Supermarkt laufen, um sie zu kaufen.“ Sie lacht, doch es klingt bitter. Ihre selbst gemachte Bingokarte ist gezückt. Im Broadfield Community Centre in Crawley, einer Stadt mit rund 100.000 Einwohner:innen im südenglischen Sussex, beginnt gleich eine Partie. Etwa 50 Älteste aus der chagossischen Gemeinde betreten das kleine Backsteingebäude und strömen zu langen Tischen. Es gibt kostenloses, selbst gekochtes Essen und Softdrinks, die meisten der Anwesenden ziehen ihre Wintermäntel nicht aus, der Raum ist eiskalt. Die Ältesten erheben sich, schließen die Augen und falten die Hände, um im chagossischen Kreol zu beten, das Vaterunser und ein Ave Maria. Dann wird Bingo gespielt. Und geplaudert. Über die neuesten Todesfälle in der Gemeinde. Und immer über die Heimat, das Chagos-Archipel, auch bekannt als British Indian Ocean Territory.

Die meisten Menschen, sowohl in als auch außerhalb des Vereinigten Königreichs, haben wahrscheinlich noch nie von den von Korallenriffen gesäumten Inseln zwischen den Malediven und Madagaskar gehört. In den späten 1960er-Jahren, als Großbritannien das Archipel von seiner kurz vor der Unabhängigkeit stehenden Kolonie Mauritius abspaltete, kamen britische Soldaten, um die 1.500 Einwohner:innen der Hauptinsel Diego Garcia gewaltsam zu vertreiben. Sie mussten einem Stützpunkt der US-Armee weichen, der künftig als Ausgangspunkt für Militäroperationen im Nahen Osten, in Asien und Afrika dienen sollte. Im Gegenzug erhielt die britische Regierung von den USA 14 Millionen Dollar. Außerdem gab es einen Preisnachlass auf das atomare U-Boot-System Polaris. Dieser geheime Deal wurde erst zwei Jahrzehnte später von Jurist:innen und Historiker:innen aufgedeckt.

England entwarf unterdessen die Flagge seiner neuen Kolonie: ein Union Jack auf blauen Wellen, eine Palme, die eine Krone durchbohrt. Für die Menschen aus Chagos verkörpert diese Flagge die Zerstörung ihrer Häuser, ihre gewaltsame Vertreibung und die Tötung ihrer Hunde durch die britische Armee. Sie erinnert sie daran, wie sie nach Mauritius, auf die Seychellen und ins Vereinigte Königreich deportiert wurden. Dort ließen sich auch Tausende ihrer Nachfahr:innen nieder, nachdem die britische Regierung 2002 beschloss, ihnen die Staatsbürgerschaft zu gewähren. Die südenglische Stadt Crawley, in der heute Bingo gespielt wird, war besonders attraktiv, weil der Flughafen London-Gatwick nicht weit entfernt liegt. Auch fanden die Menschen aus Chagos oft schnell Arbeit, und haben sich in zwanzig Jahren hier ein Leben aufgebaut. Dennoch fühlen sich die meisten nicht zu Hause.

Chagossische Frauen sitzen an einem Tisch und spielen Bingo, Foto: Morgane Llanque

Die Chagossische Kultur wird vergessen

Marie May Rose war elf Jahre alt, als britische Soldaten sie zwangen, nach Mauritius zu gehen. Nach dem Tod ihres mauritischen Mannes kam sie zu Verwandten nach Crawley. Heute ist Marie 87. „Ich bin zu alt, um zurückzugehen, die Reise ist anstrengend“, sagt sie. „Aber ich möchte, dass meine Kinder und Enkelkinder dort leben können.“ Ihre Enkelin Tania sitzt neben ihr und wiegt ihren neugeborenen Sohn in den Armen. Tania wuchs im Vereinigten Königreich auf und ist dankbar für das Leben, das sie und ihre Gemeinde sich hier aufbauen konnten. Dennoch macht sie sich Sorgen um ihre Zukunft. „Da immer mehr Älteste sterben, ist es wichtig, unsere Kultur zu bewahren. Ich möchte, dass mein Sohn chagossisches Kreol spricht, unsere Musik und unsere Tänze kennt. Deshalb werde ich ihn, wenn er etwas älter ist, in die lokale Kulturgruppe für Kinder mitnehmen, damit er unsere Bräuche lernt. Sonst wird nichts von uns übrig bleiben.“ Man kann hören, dass sie nicht glaubt, dass jemals wieder Chagoss:innen auf dem Archipel leben werden.

Heute ist die Vertreibung von Chagos weithin als koloniales Verbrechen anerkannt. 2019 forderte der Internationale Gerichtshof in Den Haag das Vereinigte Königreich auf, dessen Herrschaft über die Chagos-Inseln „binnen kürzester Zeit“ zu beenden. Auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Mai 2019 erkannten 116 der 193 Mitgliedstaaten die Chagos-Inseln als mauritisches Territorium an und empfahlen der Regierung in London, sich innerhalb von sechs Monaten von dort zurückzuziehen. Teil der Resolution war auch die Forderung nach der Rückkehr der mauritischen Bürger:innen, einschließlich derer „mit chagossischer Abstammung“ auf die Inselgruppe. Auf den zunehmenden internationalen Druck hin gab der damalige Außenminister James Cleverly am 3. November 2022 bekannt, das Vereinigte Königreich und Mauritius hätten Verhandlungen über eine Rückgabe von Chagos aufgenommen. Nicht an den Gesprächen beteiligt: die Menschen aus Chagos. Über das gesamte Jahr 2023 weigerte sich die Regierung, den Chagoss:innen Details der Verhandlungen mitzuteilen. Auf eine Anfrage beschied das Außenministerium nur, dass die Gespräche geheim seien.

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Am Morgen des 1. Dezember 2023 erwachte die Älteste Bernadette Dugasse vom Klingeln ihres Telefons. Ein Anruf ihrer Anwälte:„Großbritannien wird Chagos nicht aufgeben.“ Vor einem Jahr hatte Dugasse die britische Regierung verklagt, weil sie und ihr Volk von den Verhandlungen über die Zukunft von Chagos ausgeschlossen worden waren. Doch an diesem Tag berichtete die Tageszeitung The Telegraph, dass der Verteidigungsminister Grant Shapps die Kolonie nun doch nicht aufgeben möchte. „Ich bin überhaupt nicht überrascht“, sagte Dugasse. „Das Vereinigte Königreich ignoriert wieder einmal unser Recht auf Selbstbestimmung.“

Am 3. Dezember traf der britische Außenminister David Cameron mit dem US-Außenminister Antony Blinken in den USA zusammen, der in einer gemeinsamen Pressekonferenz erklärte, Washington erkenne die britische Hoheit über Chagos an. In den Wochen zuvor hatten mehrere Tory-Politiker, unter ihnen der ehemalige Premierminister Boris Johnson, öffentlich vor der Übergabe von Chagos an Mauritius gewarnt. Johnson sagte, es wäre „völlig rückgratlos“ und ein „kolossaler Fehler“, die Insel, auf der die US-Militärbasis steht, inmitten eines globalen Machtkampfes um den pazifischen Raum an Mauritius zu geben. Der ehemalige Chef der britischen Marine, Lord Alan West, warnte, es sei ein großes Sicherheitsrisiko, Chagos an ein eng mit China und Indien verbündetes Land zu geben. Dies könnte auch den britischen Anspruch auf andere Überseegebiete, wie die Falklandinseln, infrage stellen.

Die Chagos Inseln aus der Luft, Foto: IMAGO / AGB Photo

Koloniales Verbrechen gegen die Menschlichkeit

„Indem sie weiterhin die Rechte der Chagoss:innen ignorieren, begehen die USA und Großbritannien Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sagt Clive Baldwin, leitender Rechtsberater bei der Organisation Human Rights Watch, die Anfang 2023 einen Bericht über den Chagos-Streit veröffentlicht hat. „Aus dem von uns untersuchten Archivmaterial wissen wir, dass die Menschen auf Chagos aus rassistischen Gründen vertrieben wurden. Denn auf Zypern und den Falkland-Inseln, wo es ebenfalls US-Militärstützpunkte gibt, gab es keine Probleme mit den lokalen Gemeinden. Aber auf Chagos war die Mehrheit der Menschen Schwarz.“

Die Chagoss:innen sind Nachkommen der afrikanischen Sklav:innen und der indischen, chinesischen und malaiischen Arbeiter:innen, die Frankreich in seine ehemaligen Kolonien brachte, damit sie dort auf Kokosnussölplantagen arbeiteten. Über Hunderte Jahre entwickelten sie ihre eigene Identität als Volk, ihre eigene Sprache und Kultur. Nach der Niederlage Napoleons beanspruchte Großbritannien 1814 die französischen Kolonien Mauritius und das Chagos-Archipel und behielt die Inseln bis zur mauritischen Unabhängigkeit in den 1960er-Jahren. Danach kaufte Großbritannien die Inselgruppe von Mauritius, um sie als Basis für seine Verbündeten nutzen zu können. Als das Abkommen um die Militärbasis zwischen dem Vereinigten Königreich und den USA Gestalt annahm, hielt ein Memorandum der britischen Regierung vom 24. August 1966 über die Chagoss:innen fest: „Leider gibt es neben den Vögeln auch einige wenige Tarzane oder Freitage, deren Herkunft unklar ist und die man hoffentlich nach Mauritius schickt.“

Rassismus gegen Chagoss:innen hält sich bis heute

Um den Vereinten Nationen keinen Bericht vorlegen zu müssen, erklärte das Vereinigte Königreich fälschlicherweise, Chagos habe keine ständige Bevölkerung. Die Auffassung, dass die Chagoss:innen nicht wichtiger seien als ein paar lästige Vögel, hat sich bis heute gehalten. Im Jahr 2010 veröffentlichte WikiLeaks diplomatische Depeschen von US-Botschaften, darunter auch eine, in der das britische Außenministerium feststellte, die Einrichtung eines Meeresschutzgebiets könnte der „effektivste Weg sein, um langfristig zu verhindern, dass sich ehemalige Bewohner:innen der Chagos-Inseln oder deren Nachkommen auf dem Archipel ansiedeln“. Die „Umweltlobby“ wurde als„weitaus mächtiger als die Chagoss:innen“ eingeschätzt. So wurde um Chagos herum ein großes Meeresschutzgebiet eingerichtet. Sollten die Kinder von Marie May Rose jemals nach Diego Garcia zurückkehren, dürften sie ihre Netze nicht mehr nach frischem Fisch und Krabben auswerfen.

Der Ältestenrat in Crawley wird von der NGO Chagossian Voices organisiert, einer der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Plattformen der Diaspora. Einer ihrer Sprecher ist Frankie Bontemps. Er wurde nicht auf Chagos geboren, kämpft aber für das Recht auf Rückkehr auf das Archipel. „Das ganze Gerede der mauritischen und britischen Regierung über Entkolonialisierung ist eine Beleidigung für uns“, sagt er. „Wie kann man davon reden und die eigentlich Betroffenen nicht einbeziehen? Mauritius ist 1.200 Meilen von unseren Inseln entfernt. Wir haben unsere eigene Sprache und Kultur.“

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Chagossian Voices und Human Rights Watch fordern das uneingeschränkte Rückkehrrecht für alle Chagoss:innen und ihre Nachkomm:innen, das Recht auf Selbstbestimmung sowie die Zahlung von Reparationen seitens des Vereinigten Königreichs, um der Gemeinschaft bei der Wiederansiedlung auf den Inseln zu helfen. Und was würde mit der US-Militärbasis geschehen, wenn dies gegen alle Wahrscheinlichkeit einträfe? „Wir können friedlich zusammenleben“, sagt Frankie Bontemps. „Die US-Armee hat viele Menschen aus den Philippinen eingestellt, die in den Einrichtungen des Stützpunkts arbeiten. Das hätten auch chagossische Arbeitsplätze sein können.“ Der Sprecher der Chagos:innen misstraut, wie viele in der Gemeinde, der mauritischen Regierung. „Sie wollen Chagos nur, um mit der Verpachtung des Stützpunktes an die USA und Großbritannien Geld zu verdienen“, sagt er. „An unserer Rückkehr haben sie kein Interesse.“

Die Ältesten in Crawley erzählen, wie sie und ihre Familien nach ihrer Deportation nach Mauritius in den 1960ern als Bürger:innen zweiter Klasse misshandelt wurden und gezwungen waren, in Baracken am Rande der Hauptstadt Port Louis zu leben. Viele begingen Selbstmord. Das Vereinigte Königreich ist nicht wesentlich beliebter bei den Chagoss:innen: Laut ihnen zahlte es über die mauritische Regierung eine kleine Entschädigung an einige Chagoss:innen und gewährte ihnen Jahrzehnte später die Staatsbürgerschaft. Die britische Regierung will der Diaspora Millionen von Pfund gezahlt haben – welche diese nach eigenen Angaben aber nur zu kleinen Teilen erhalten hat. Obwohl die britische und die US-amerikanische Regierung die Vertreibung von Chagos als „bedauerlich“ bezeichnen, haben sie sich nie offziell entschuldigt. Die wenigen nicht auf Mauritius, sondern auf die Seychellen verschleppten Chagoss:innen haben nie eine Form der Entschädigung erhalten und waren auch nie Gegenstand von Verhandlungen.

Trotz alledem: Mauritius hat noch weniger für Chagos getan. Daher würden viele Menschen in Crawley die vorübergehende Fortsetzung der britischen Herrschaft über Chagos der mauritischen Kontrolle vorziehen – so lange, bis die chagossische Unabhängigkeit erreicht ist. „Laut meinem alten Pass wurde ich auf Chagos geboren“, erzählt Bernadette Dugasse, „als ich letzten Monat meinen neuen Pass abholte, stand dort plötzlich Mauritius. Wer weiß, was als Nächstes dort stehen wird?“ Ob sie jetzt aufgibt? „Ich denke nicht daran.“

Dieser Text erschien im Rahmen des deutsch-britischen Journalist:innenaus-
tauschs, an dem die Autorin teilnahm, auch auf Englisch im Politmagazin „The New Statesman“.

Foto: IMAGO / AGB Photo

Die Inselgruppe Chagos gilt bis heute als Eigentum des Vereinigten Königreichs.

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