Hassan Wali sitzt auf dem Dach eines verfallenen Pflegeheims in Bihać, einer Stadt im Nordwesten Bosniens. Sein Blick schweift zur kroatischen Grenze, er wirkt müde und abgekämpft. Fast ein Dutzend Mal hat Wali in den vergangenen sechs Monaten das „Game“ gewagt – so nennen die Migrant:innen ihren Versuch, unbemerkt in ein EU-Land zu gelangen. Und immer wurde der 25-jährige Pakistani von der kroatischen Polizei aufgegriffen und über die Grenze zurück nach Bosnien geschafft. „Es gibt Zeiten, da fehlt einem das Glück.“ An die 200 Geflüchtete haben in Bihać vorübergehend Unterschlupf gefunden, fließendes Wasser, Toiletten und Strom gibt es nicht. Seit sich 2018 die Balkanroute von Ungarn nach Westen verschoben hat, ist Bosnien für viele Migrant:innen zur Sackgasse geworden: Von 8.000 Geflüchteten, die sich derzeit hier aufhalten – manche Organisationen reden von 12.000 –, leben angeblich 2.000 außerhalb der sechs offiziellen Camps irgendwo in Wäldern, Barracken oder verfallenen Gebäuden und kommen nicht weiter.
Wali sitzt schon seit einem Dreivierteljahr in Bosnien fest. Anfang 2019 hat er seine Heimatstadt in der Provinz Bajaur nahe der afghanischen Grenze verlassen, „aus Furcht vor den Taliban“. Seine Eltern sind geblieben, seine drei Schwestern auch. Zu Fuß und auf Lastwagen durchquerte er in drei Wochen zuerst den Norden Afghanistans, dann den Iran bis an die türkische Grenze. Dort wurde er von Schleppern nach Istanbul gebracht, wo er Arbeit in einer Fabrik fand: 12 Stunden am Tag, 250 Euro im Monat, ohne Vertrag. „Das reichte für die Miete, Essen und Kleider.“ Als er den Job einige Monate später verlor, machte er sich mit einer Gruppe Pakistani weiter auf den Weg von Bulgarien über Serbien nach Bosnien. „Wir kamen kaum voran, mussten uns immer wieder vor der Grenzpolizei verstecken. Und es war Winter.“
Rabiates Vorgehen der Grenzpolizei
Im Januar 2020 erreichte Wali Sarajewo und kam in einem der offiziellen Lager unter. Monate später machte er sich zu Fuß auf nach Bihać in den Nordwesten Bosniens. Er kam in verlassenen Häusern unter, in alten Fabriken oder dem Pflegeheim im Stadtzentrum von Bihać, einer Ruine.
Anders als im flachen Norden Serbiens, wo seit 2015 ein 175 Kilometer langer und drei Meter hoher Zaun die Grenze zu Ungarn markiert, ist der dicht bewaldete, hügelige und vom Jugoslawienkrieg in den 1990er-Jahren immer noch verminte Norden Bosniens schwieriger zu kontrollieren. Entsprechend groß ist das Aufgebot an kroatischen Grenzschützer:innen – 6.000 sollen es sein. Wie andere Migrant:innen klagt auch Wali über das rabiate Vorgehen der Grenzpolizei. „Sie schlagen mit Knüppeln auf uns ein, verdrehen uns die Arme, treten uns in den Rücken, sie nehmen uns alles Geld weg und schlagen die Handys kaputt.“
Dass Migrant:innen bei ihrem Versuch, die Grenze zu überqueren, gewaltsam zurückgeschoben werden, streitet Kroatien kategorisch ab. Dabei sind die Beweise erdrückend. Im Dezember vergangenen Jahres publizierte das Border Violence Monitoring Network (BVMN), ein Zusammenschluss von NGOs und Menschenrechtsorganisationen, auf 1.500 Seiten ein „Schwarzbuch der Pushbacks“. Darin werden 892 Zeugnisse von Abschiebungen in Italien, Griechenland, Ungarn, Kroatien und Slowenien erfasst, die insgesamt 12.654 Personen betreffen. Bei 60 Prozent solcher „Pushbacks“ soll Gewalt im Spiel sein.
„Auf uns lastet Europas Migrationsproblem“
Obwohl selbst gewaltfreie Rückschaffungen gegen geltendes Recht verstoßen, wird diese Migrationspolitik von der EU gefördert. In ihrem Haushaltsrahmen für 2021 bis 2027 hat die EU-Kommission unlängst eine Erhöhung der Finanzmittel für die Posten „Grenzsicherung“ und „Migration“ auf 34,9 Milliarden Euro vorgeschlagen; für den Zeitraum 2014 bis 2020 waren es noch 13 Milliarden. Allein den kroatischen Grenzschutz unterstützt die EU jährlich mit 6,8 Millionen Euro. Kritiker:innen sagen, die EU versuche damit zu kaschieren, dass sie sich seit Jahren nicht auf ein funktionierendes Asylsystem einigen kann. Beim Treffen der EU-Innenminister:innen in Zagreb vor einem Jahr wurde Kroatien für sein Migrationsmanagement ausdrücklich gelobt.
Der Regierung dürfte das nur recht sein. Zwar ist das Land seit 2013 Mitglied der EU, jedoch kein Teil des Schengen-Raums. Schon deswegen wird Kroatien einiges daransetzen, dem Rest der EU zu zeigen, dass es sehr wohl in der Lage ist, seine Grenzen zu schützen.
Unterstützung von der EU bekommt auch Bosnien. Von den 24 Millionen Euro, die das Land seit 2018 von der EU zwecks „Migrationskontrolle“ erhalten hat, fließt jedoch kaum Geld an die bosnisch-kroatische Grenze. Viele Bürger:innen halten die Machthabenden in Sarajewo für handlungsunfähig. Da die Regierung paritätisch zusammengesetzt sei, würden die Vertreter:innen der muslimischen Bosniak:innen, Kroat:innen und Serb:innen ihre je eigenen, oft nationalistisch geprägten Interessen verfolgen. Der Wille zur Zusammenarbeit fehle, dringliche Probleme schiebe man auf die lange Bank – etwa die Geflüchtet…
Hassan Wali ist aus Furcht vor den Taliban aus Afghanistan geflüchtet. Von Bulgarien kam er über Serbien nach Bosnien. Dort sitzt er seit mehreren Monaten fest. Die Hoffnung über die Grenze nach Europa zu gelangen bleibt.