Eine Woche lang habe ich gewartet – jetzt steht das vier Kilo schwere Paket in meinem WG-Zimmer in Berlin-Moabit auf dem Sofa-Tisch. Ungeduldig packe ich die „Rosenseitling Pilzzuchtbox Bio“ von Pilzmännchen aus, einem Zuchtbetrieb aus der Oberlausitz – meine Soon-to-be-Mahlzeit. Wenn alles nach Plan verläuft, kann ich in zwei Wochen meine selbst angebauten Pilze verspeisen. Ich hole die etwa 30 Zentimeter große Box aus der Verpackung: ein brauner Pappkarton mit vier perforierten Öffnungen.
Pilze sind Allrounder. Nährstoffreich, voller Proteine, Vitamine und Mineralien, enthalten sie fast keine Kohlenhydrate und kaum Fett, machen trotzdem satt und sind ein super Fleischersatz. Sie brauchen keinen Ackerboden, sondern gedeihen auf Reststoffen wie Bananenblättern, Hirsestroh oder Kaffeepulpe. Deshalb gelten sie als wichtiger Baustein, um die wachsende Weltbevölkerung künftig ernähren zu können. Auch in Deutschland werden Speisepilze immer beliebter. 2024 wurden bereits knapp 78.000 Tonnen geerntet, 25.000 mehr als 2012. Besonders gefragt ist der Champignon, aber es gibt eine krasse Pilz-Vielfalt, darunter den Rosenseitling. Also los.
Aufschneiden, anfeuchten, warten
Die Anleitung ist simpel: eine der Öffnungen herausdrücken und die Folie dahinter kreuzförmig einschneiden. Mit einem spitzen Küchenmesser geht das ganz leicht. Durch den Spalt sehe ich eine braune, unspektakuläre Pampe – die Pilzkultur. Ich habe einen modrig-pilzigen Geruch erwartet, aber rieche nichts. Jetzt soll die Box an einen möglichst feuchten Ort. Rosenseitlinge wachsen normalerweise in tropischen oder subtropischen Gebieten, wo sie absterbende Palmen oder ähnliche Harthölzer besiedeln. In meiner Berliner Altbau-WG müssen sie sich zwischen Shampoo und Spülung im Bad zurechtfinden. Dann heißt es warten – ein bis drei Wochen.
Sieben Tage später wuchern Dutzende pinke, rosenblatt-förmige Pilzhüte kreisförmig aus der Box heraus. Wegen ihrer Farbe werden sie auch Flamingoseitlinge genannt. Fast wie Dachziegel überlappen sie sich gegenseitig und bilden ein großes Büschel. Ihre Oberfläche fühlt sich samtig an und die darunterliegenden Zwischenlamellen, also die kleinen Rillen, erinnern mich an Kiemen.
Was mache ich eigentlich mit dem merkwürdigen Eigengewächs, wenn es so weit ist? Ich durchforste TikTok und Google nach Rezepten – viel zu Rosenseitlingen finde ich nicht. Schließlich lande ich bei einer österreichischen Seite. Im Angebot ist eine Spaghetti-Carbonara-Variante, die Pilze sollen an Speck erinnern. In drei Tagen sind sie reif.
Lebende Organismen killen? Scheiß drauf
An einem Samstag geht es an die Ernte. Im Bad steigt mir ein süßlich-modriger Geruch in die Nase. Habe ich etwas falsch gemacht? Ich google. Laut Internet ganz normal. Die Pilze bedecken jetzt die gesamte Box wie ein rosa Wasserfall. Der Gestank ist die eine Sache, mein viel größeres Problem: Ich habe Hemmungen, sie anzufassen. Die Pilze fühlen sich feucht an. Ich stelle mir vor, wie sie mich gleich angreifen, weil sie nicht geerntet werden wollen. Ich habe sie doch wachsen sehen, war so was wie ihr Pilz-Papa – jetzt soll ich sie essen? Lebende Organismen, die in der Blüte ihres Lebens stehen? Die ich nicht mal wie Blumen für ein zweites, wenn auch kurzes Leben in eine Vase stellen kann? Wie ernte ich überhaupt? Mit Schere? Messer? Wo fasse ich sie an? In der Anleitung steht nichts. Ich bin überfordert.
Scheiß drauf. Ich hole die Küchenschere, setze am Strunk an – zu dick. Ich ziehe, drehe, am Ende liegen vier große rosa Büschel auf meinem Schneidebrett. Der modrige Geruch ist verflogen – mein Ekel auch. Plötzlich sehe ich die Pilze nicht mehr als Badmitbewohner, sondern als Lebensmittel. Vorsichtig trenne ich die Hüte ab, schneide sie in Streifen, etwa 350 Gramm. Ich mariniere die Stückchen mit Sojasoße, Sesamöl, Reisessig und Honig, brate sie kurz an. Aus den Strunken mache ich eine Sauce aus Zwiebeln, Frischkäse und Gemüsebrühe. Pasta al dente, alles vermengen, Parmesan drauf – fertig.
Dann die erste Gabel: Durch die Marinade sind die Seitlinge sehr geschmacksintensiv, der Honig gibt eine süße Note. Die Konsistenz erinnert mich an Fleischersatz aus Soja: bissfest, aber zergeht im Mund sehr schnell. Nach Speck schmecken sie zwar nicht – aber egal. Das Gericht schafft es in in meine Top-fünf-Rezepte, die zwei Stunden haben sich gelohnt.
Laut Anleitung kann ich die Pilze noch dreimal ernten. Aber: Mein Bad stinkt immer noch. Der Geruch hält sich hartnäckig, auch meine Mitbewohner sind unglücklich. Wenn ich mal eine eigene Wohnung mit extra Anbau-Kammer habe, werde ich auf jeden Fall wieder Pilz-Papa. Bis dahin bleibt mein Bad erst mal rosenseitling-frei.
Der Rosenseitling