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Östlich vom Zentrum mit seinen gläsernen Bürotürmen stechen die Holzmasten alter Segelschiffe in den blauen Himmel. Das Salzwasser der Nieuwe Maas passiert ein Gebäude aus Glas und Stahl. Geformt wie ein Zirkuszelt, gesäumt von flachen, schlauchförmigen Anbauten, wirkt es selbst im kontrastreichen Rotterdam außerirdisch. Auf der maroden Glaskuppel leuchtet rot „Tropicana“. Jahrzehntelang zog es Familien aus dem ganzen Land für Kurzurlaube oder Kindergeburtstage in das tropische Erlebnisbad. 2010 die Insolvenz, drohender Abriss, ein Pflegeheim sollte es werden, doch BlueCity kam mit Recyclingideen. In den Etagen um das Bad herum schuf das Unternehmen Dutzende Labor- und Arbeitsräume für Sozialunternehmer:innen und Forschende der „Blue Economy“, einer kreislauffähigen, biobasierten Wirtschaft. Ab und zu kommt ein Kamerateam vorbei, um vor kultiger Kulisse im Poolbecken zu shooten, zuletzt für den Eurovision Song Contest.
Preise und Öffnungszeiten des Schwimmbads sind noch an der Außenfassade zu erkennen. Unter „Sauna“ öffnet sich ein Seiteneingang, Willem Flinterman kneift vor Helligkeit die Augen zusammen. Dunkle Haarsträhnen fallen ihm ins Gesicht, er trägt Jeans, knallblaue Socken und ein lässiges gestreiftes Hemd.
Aufgewachsen ist Flinterman in Den Haag. Auch er kennt das Tropicana aus seiner Kindheit, heute betreibt er dort eine Wurmfarm. Sie befindet sich unter der Poollandschaft, im Keller, und passt auf einen Schreibtisch. Auf dem Weg dorthin wird die Luft mit jeder Treppenstufe kühler und klarer als im stickigen Tropenbad. An seiner Forschungsstation im „Wet-Lab“ streift sich Willem Flinterman einen weißen Kittel über und öffnet den Reißverschluss einer durchsichtigen Plane, die das winzige Biotop beschützt. Es passt gut zur Vergangenheit des Gebäudes: In 50- bis 70-prozentiger Luftfeuchtigkeit und warmen Temperaturen fühlen sich die Tausenden Bewohner:innen besonders wohl. Einige kommen aus den Niederlanden, andere aus tropischen Gefilden, etwa Brasilien. Auf einer kleinen Tafel vor ihren Brutkästen steht mit Kreide geschrieben: „If the worms misbehave, please call 06-21-xxx“. Haben sich die Würmer schon mal danebenbenommen, sind etwa abgehauen? Nicht im Labor. In der WG, wo er sie vorher hielt, allerdings schon.
„Ich finde, sie sind schöne, eigentlich niedliche Tiere. Schau mal, ihre Farben und Bewegungen.“ In seiner Hand windet sich ein fetter Morio-Wurm mit zahlreichen Beinchen. Immer wieder streckt er seinen Kopf in die Höhe und dreht sich um, als wolle er seinem Halter beim Gespräch höflich in die Augen schauen. Nicht mehr lang, dann wird er sich verpuppen – und als großer, tiefschwarzer Käfer noch mehr menschlichen Müll vertilgen.
Flinterman züchtet zwei Arten von Käferlarven, Mehlwürmer und Morio-Würmer. Sie sind seine Antwort auf gleich mehrere drängende Probleme. Im Vergleich zur Massentierhaltung von Kühen verbrauchen Mehlwürmer acht- bis vierzehnmal weniger Land, um den gleichen Proteinwert zu produzieren. Sie benötigen zweimal weniger Energie und verursachen sechs- bis dreizehnmal weniger CO2-Emissionen. Noch dazu helfen sie bei der Wiederverwertung organischer und synthetischer Stoffe.
24,3 Milligramm „piepschuim“, Styropor, schaffen 100 Mehlwürmer am Tag. Drei- bis viertausend Larven brauchen etwa eine Woche, um einen Styropor-Kaffeebecher zu verdauen, sagt Stanford-Forscherin Anja Brandon. Bei Morio-Würmern ist der Anteil bis zu dreimal höher. Auch Polyethylen (PE, meist für Plastiktüten verwendet) können beide Larven verarbeiten, ohne dass Chemikalien in ihren Körpern zurückbleiben. Anfang 2021 erklärte die EU zunächst nur Mehlwürmer mit einem pflanzlichen Speiseplan zu einem sicheren Lebensmittel.
Zunkunftsvisionen der Blue Economy
Es riecht ein wenig nach Essig und Verwesung an Flintermans Arbeitsplatz im Keller von BlueCity. „Sorry, das müssen die fermentierten Käfer sein“, sagt er, und entfernt den kleinen Tierfriedhof, eine Petrischale voller schwarzer Skelette, „ich sammle sie für Forschende der Universität Wageningen, die daraus Bioplastik herstellen …“ An der gegenüberliegenden…
Forscher Willem Flinterman und seine Wurmzucht: Die kleinen Larven sind eine nachhaltige Proteinquelle und können synthetische Abfälle verdauen ohne chemische Rückstände.