Erster deutscher „Bürgerrat Klima“

Leute, was wollt ihr?

Von April bis Juni tagten 160 zufällig ausgewählte Menschen im ersten deutschen „Bürgerrat Klima“. Anja Dilk hat mal reingehört.

An einem Dienstagabend im Januar klingelt bei Paul Schmidt das Telefon. Die Nummer kennt er nicht, ein Mann meldet sich und erzählt etwas von Zufallsgenerator und „Bürger:innenrat“. Was soll das sein, will der mir etwas verkaufen? Vielleicht hört der 24-jährige Lehramtsstudent aus Halle nur weiter zu, weil er selbst mal in einem Callcenter gearbeitet hat und weiß, wie es ist, wenn einem niemand zuhört. Vielleicht sind es auch die Stichworte, die sich in seinem Kopf verfangen: Bürgermeinung, Klimaziel 1,5 Grad, wie kommen wir dahin? „Schicken Sie mir doch Infos per Mail“, bittet Schmidt und googelt schon mal auf eigene Faust. „Der Youtube-Clip des Bürger:innenrats hat mich sofort gecatcht.“ Vor allem die Begeisterung von Menschen, die schon mal an einem Bürgerrat teilgenommen haben und unisono sagen: „Wir haben das nicht bereut.“ Noch bevor das dicke Infopaket in der Mailbox liegt, beschließt Schmidt: „Ich mache mit.“

Auch Mareike Menneckemeyer hätte fast aufgelegt. Nur weil die 37-jährige Hotelfachfachfrau aus Schwarzenbruck bei Nürnberg gerade mit ihren kleinen Kindern spielt, hört sie mit einem Ohr weiter zu. Bundesweite Initiative, Bürgerbeteiligung, acht dreistündige Runden abends und vier komplette Samstage Diskussionen. Thema: Klimaschutz. „Wir Bürger:innen werden gehört – endlich“, sagt sich Menneckemeyer, recherchiert nach, plant mit ihrem Mann die Kinderbetreuung und entscheidet: „Ich bin dabei.“

Auch bei Good Impact: Nach Irland, Frankreich und Großbritannien: Warum Deutschland endlich einen Klima-Bürger*innenrat bekommt

Paul Schmidt und Mareike Menneckemeyer sind zwei von 160 Bürger:innen, die seit Ende April im bundesweiten Bürgerrat Klima über Maßnahmen für den Klimaschutz diskutieren. Beraten von führenden Wissenschaftler:innen erarbeiten sie Empfehlungen für die deutsche Klimapolitik in der nächsten Legislaturperiode. Mehrere Tausend zufällig ausgewählte Bürger:innen wurden telefonisch kontaktiert, 600 hatten Interesse, 160 von ihnen wurden repräsentativ ausgewählt – nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Größe des Wohnorts, Bundesland und Migrationsgeschichte. „Deutschland in klein“, nennt das Rabea Koss vom gemeinnützigen Verein BürgerBegehren Klimaschutz, der den Bürgerrat federführend organisiert.

Bürger:innenräte als Instrument der Politikbeteiligung gewinnen seit einigen Jahren an Bedeutung. Wo sich Gesellschaften immer schneller wandeln, politische Lager diversifizieren und Meinungsfindung in Parlamenten schwieriger wird, scheinen Wahlen allein als demokratisches Beteiligungsinstrument nicht mehr auszureichen. Erst recht, wenn es um Grundsatzfragen wie Klimapolitik geht. Irland startete 2016 einen Bürger:innenrat zu Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe, ein weiterer fand 2017 zum Thema Klimapolitik statt. In Frankreich, aufgewühlt von den sozialen Protesten der Gelbwesten, diskutierten auf Initiative der Regierung Macron Ende 2019 ausgeloste Bürger:innen über Umweltpolitik. Nun zieht Deutschland nach – organisiert von der Zivilgesellschaft. Bottom-up statt top-down.

Verschiedene Initiativen hatten sich für einen Bürgerrat Klima stark gemacht. Im November 2020 startete ein überparteiliches Bündnis junger Aktivist:innen unter dem Namen „Klima Mitbestimmung jetzt“ eine Petition für einen deutschen Bürgerrat zur Klimapolitik, 70.000 Unterschriften gab es dafür. Im Dezember trommelten Scientists for Future gut 80 Organisationen der Zivilgesellschaft zu einem Planungstreffen zusammen. Ziel: „Noch vor den Bundestagswahlen sollten die Ergebnisse der Bürgerrunden auf dem Tisch liegen“, sagt Sprecherin Koss. „In der Klimapolitik stehen in diesem Jahr wichtig Entscheidungen an. Die Politiker:innen sollen wissen, was Bürger:innen von ihnen erwarten.“

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Bürgerrat Klima: Wer macht mit?

Mit Turbospeed legt das Team los. Startet Umfragen in Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Politik: Welche Handlungsfelder sind für die Klimapolitik am wichtigsten? Wirbt zwei Millionen Euro Spenden ein, um das Projekt zu finanzieren. Holt drei Institute an Bord, Profis in Sachen politische Beteiligungsverfahren, die Ablauf und Systematik der zwölf Bürger:innensitzungen planen, unabhängige Expert:innen für die vier zentralen Handlungsfelder Mobilität, Energie, Gebäude & Wärme und Ernährung rekrutieren, 60 Moderator:innen engagieren und Rundrufe in ganz Deutschland organisieren: Wer macht mit? Am 26. April geht es los.

160 Bürger:innen online – „Wird das nicht chaotisch? Langweilig?“, fragt sich Lehramtsstudent Schmidt, bevor er sich das erste Mal einwählt. „Wird das ein besserer Stammtisch? Gott, was wird da von mir erwartet?“, überlegt Hotelfachfrau Menneckemeyer. Was dann kommt, überrascht beide: eine abwechslungsreich komponierte Tagung, professionell organisiert „wie im Fernsehstudio“, findet Schmidt, randvoll mit „unfassbar viel Input von Expert:innen“, erzählt Menneckemeyer, interaktive Nachfrage- und Kennenlernrunden und eine Moderation, die das Plenum locker durch den Tag führt. Erst hört Schmidt nur zu, inzwischen hat er sich einen Hefter angelegt und schreibt mit. „Damit ich in den Debattenrunden besser nachfragen kann.“ Menneckemeyer beschließt: „Einige Vorträge höre ich mir ein zweites Mal an.“ Nach den ersten drei Sitzungen im großen Plenum werden die Teilnehmer:innen für die nächsten Termine per Los auf die vier Handlungsfelder verteilt. Schmidt landet bei Gebäude & Wärme, Menneckemeyer bei Ernährung.

Mitte Mai, Sitzung sieben. Plopp, plopp, plopp. In schneller Folge erscheinen die Teilnehmer:innen auf dem Zoom- Screen. Tisch 2, Handlungsfeld Ernährung, sammelt sich. Sechs Frauen und Männer, vor Küchenzeile oder brauner Schrankwand, im Designer-Dachstuhl oder am Wohnzimmerkamin. „Na, wie geht’s euch?“, fragt ein freundlicher Mittfünfziger. Man kennt sich, seit knapp vier Wochen brütet Tisch 2 über Antworten auf die Frage: Wie müssen wir unser Ernährungssystem ändern, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen? Sieben solcher virtuellen Tischrunden diskutieren parallel, jeweils begleitet von einer Moderatorin, die Statements bündelt und darauf achtet, dass alle zu Wort kommen, und einer Protokollantin, die alle Vorschläge auf einem digitalen Memoboard zusammenträgt. Haben die Diskutant:innen eine Sachfrage, recherchieren Faktenchecker:innen nach.

Bürgerrat Klima: Die Ergebnisse

Über 50 Stunden hat der Bürgerrat Klima getagt, seit Ende Juni liegen die Ergebnisse vor. Die klare Botschaft an die Politik: “Um den Erhalt der Lebensgrundlage aller Menschen, von dem die Zukunft der nachfolgenden Generationen abhängt, sicherzustellen, ist das 1,5 Grad Ziel nicht verhandelbar.”

Vor der Tischrunde gab es wie immer eine Wissensspritze im Plenum. Der Ernährungswissenschaftler Malte Rubach skizzierte die Grundlagen unseres Ernährungssystems und differenzierte vertraute Zahlen. Zum Beispiel: 54 Prozent der Treibhausgase werden durch tierische Lebensmittel verursacht, aber auch 46 Prozent durch pflanzliche – zudem verbraucht ihre Produktion mit 65 Prozent mehr Fläche. „Wir machen alle dieselbe Erfahrung“, sagt Menneckemeyer. „Es ist im Detail viel komplizierter, über den richtigen Weg zu einer klimagerechten Ernährung zu entscheiden, als vorher gedacht.“ „So, hallo, alle da?“, fragt die Moderatorin. Los geht’s.

Journalist:innen können bei den Tischrunden zuhören, über Details berichten dürfen sie nicht. „Der Diskussionsprozess soll im geschützten Raum stattfinden“, erläutert die Organisatorin Rabea Koss. „Es ist erfrischend, dass hier Leute einfach ehrlich sagen: Also auf Fleisch will ich nicht verzichten“, sagt Menneckemeyer, die in dem Punkt selbst noch unentschlossen ist. Sprechen jenseits der veganen Blase, nennt sie das. „Nur so kommt man sich näher.“ Oder wenn andere einwerfen: Fleisch einfach teurer machen ist sozial ungerecht, ich muss am Ende des Monats jeden Euro umdrehen, dann kann ich mir gar nichts mehr leisten.

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Dieser Mix von Menschen, unterschiedlich in Bildungsgrad, Lebenssituation, Geschlecht, Alter, öffnet neue Perspektiven.
Paul Schmidt, Lehramtsstudent, Halle

Paul Schmidt nickt. „Dieser Mix von Menschen, unterschiedlich in Bildungsgrad, Beruf, Lebenssituation, Herkunft, Geschlecht und Alter, öffnet wirklich neue Perspektiven.“ Wo er als Student in einer Stadtwohnung unbeschwert energetische Sanierung fordert, fragt sich der 70-jährige Reihenhausbesitzer: Rechnet sich das in meiner verbleibenden Lebenszeit überhaupt noch für mich? Umso mehr beeindruckt es den 24-Jährigen, wie ähnlich sich unterm Strich die Positionen über alle Generationen hinweg sind. Meist ist Schmidt der einzige unter 30 in den Arbeitsgruppen. Das repräsentative Deutschland ist ein altes Land. Schmidt: „Doch selbst für einschneidende Maßnahmen wie autofreie Innenstädte sind alle offen.“

Es ist ein gemeinsames Rantasten, Immer-wieder-über-den-Haufen-Werfen, Neu-Denken, Aufeinanderzubewegen. In konzentrischen Kreisen geht es über zwölf Sitzungen Schritt für Schritt zum Gesamtergebnis. Aus den wichtigsten Vorschlägen aller Tischgruppen wird ein Zwischenergebnis gebildet. Dieses wird anschließend von einem wissenschaftlichen Kuratorium auf Richtigkeit und Machbarkeit geprüft, mit Vertreter:innen paritätisch besetzter Lobbygruppen – zum Beispiel pro und kontra Auto – und Politiker:innen aller Fraktionen diskutiert und dann wieder in den Bürger:innenrunden verfeinert.

Über die Ideen stimmen alle 160 Bürger:innen am Schluss ab. Dann gehen die Vorschläge an die Politik. „Was sie damit machen, entscheiden die Politiker:innen selbst“, so Koss. Verbindlich sind die Empfehlungen der Bürgerräte nicht. Auch dass über sie per Referendum abgestimmt wird, wie in Irland, ist in Deutschland nicht möglich. Es gibt keine Rechtsgrundlage für Volksabstimmungen auf Bundesebene. Dennoch: „Politiker:innen bekommen durch die Empfehlungen des Bürgerrats ein Gespür dafür, was die Bevölkerung in Sachen Klimaschutz wünscht und bereit ist, in Kauf zu nehmen“, sagt Sprecherin Koss.

Mareike Menneckemeyer ist längst Bürgerrats-Junky geworden. Meine „persönliche Wissens- und Meinungsbildungsmaschine“ nennt die 37-jährige die Sessions. Sie hat heute mehr Vegetarisches im Kühlschrank und weniger festgezurrte Positionen im Kopf. Hat zu verstehen gelernt, warum andere bei teurem Fleisch abwinken, aber teures Parken in den Städten wollen, was wiederum für sie als Mutter vom Land mit zwei kleinen Kindern ein Albtraum ist. Wie die Lösungen aussehen? „Das werden wir noch gemeinsam herausfinden“, sagt Menneckemeyer. „Und einen Weg formulieren, der von der Breite der Bevölkerung getragen wird – und der Politik hoffentlich Mut zu vermeintlich unpopulären Entscheidungen macht.“ Paul Schmidt hofft, dass sie diesen Mut wirklich haben wird, im Herbst nach der Wahl, und einige der Empfehlungen übernimmt. Beim nächsten Bürgerrat wäre er gerne wieder dabei. „Das ist die fundierteste Form der Bürger:innenbeteiligung, die ich kenne. Sie sollte Teil unseres politischen Systems werden, damit alle Bürger:innen wieder das Gefühl haben: Ich gehöre dazu und werde gehört.“

Bild: Bürgerrat Klima, Robert Boden

Hinter den Kulissen der ersten Sitzung: Zwölf Termine per Zoom, mal drei Stunden an einem Wochenabend, mal acht am Samstag, mal Vorträge und Debatten im Plenum, mal Diskussionen in Kleingruppen – der Bürgerrat Klima tagt.

Anja Dilk

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