Unerwartet und analog kommt mein Ehrenamt zu mir: In der Nähe der hektischen Warschauer Brücke mitten in Berlin stolpere ich über ein Plakat an einer Litfaßsäule: „Wir suchen Lesepaten.“ Ich stelle mir vor, wie ich, umringt von putzigen Kindern, Geschichten vorlese. Klingt doch nett. Also recherchiere ich: An mehr als 300 Berliner Kindertagesstätten und Schulen engagieren sich Lesepat:innen. Voraussetzung: Mindestens 40 Prozent der Kinder haben nicht Deutsch als Herkunftssprache oder Eltern, die Leistungen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe beziehen. Der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) hat das Projekt 2005 gestartet, um über Lesekompetenz „sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen Perspektiven zu eröffnen“. Mittlerweile nehmen pro Woche 12.000 Kinder und Jugendliche daran teil. Das Projekt hat sich also etabliert, es gehört zu den wenigen, die schaffen, was für Bildung so wichtig ist: Kontinuität.
Wenige Wochen später sitze ich online in einer Infoveranstaltung für Lesepat:innen. Ich erfahre, wie meine Aufgabe aussehen könnte: Vorlesen in der Kita oder Lesen üben an der Grundschule, vielleicht Tutoring in der Sekundarstufe. Gerade seit der Pandemie mit all dem Homeschooling ist so eine extra Unterstützung gefragt. Schulen und Kitas, die teilnehmen, suchen im Schnitt pro Jahr 400 bis 500 neue Ehrenamtliche. Doch statt der vormals 2.400 Lesepat:innen sind es nun nur noch gut 2.000. Viele, gerade ältere, hatten Sorge vor dem Infektionsrisiko in Schulen und Kitas, anderswo hakte es bei der Umstellung auf online.
Lesepatin an einer Grundschule
Direkt nach der Veranstaltung fülle ich meinen Anmeldebogen aus: Einsatzort egal, Hauptsache gut mit dem Rad erreichbar. Vorerfahrung? In der Schulzeit habe ich Nachhilfestunden gegeben. Eine Woche später treffe ich zwei Lehrerinnen einer Kreuzberger Grundschule in der Nähe. Sie unterrichten eine jahrgangsgemischte Klasse mit Schüler:innen der ersten bis dritten Stufe. Im Januar soll es losgehen, eineinhalb Stunden jede Woche. Ich bin ein bisschen aufgeregt und vorfreudig. Doch dann müssen fast alle Kinder in Quarantäne, bald hat eine der Lehrerinnen Corona. Bis ich anfange, ist es Februar.
An einem Mittwochvormittag betrete ich das Backsteingebäude, gerade ist Stundenwechsel. Ich schlängle mich zwischen herumflitzenden Kindern hoch in den zweiten Stock zu meiner Klasse. Die Tür ist offen, Sitzkreis nach der Pause. Eine der Lehrerinnen stellt mich vor. „Astrid, wie Astrid Lindgren?“, fragt ein Schüler. Die Lehrerin schlägt vor, mit wem ich starten soll. Ein paar andere Finger schnellen nach oben: „Ich möchte auch lesen!“
Auf meinem Zettel stehen die Namen von neun Kindern*: Tim, der manchmal einfach nicht so richtig möchte, Mira, die während der Pandemie selten in der Schule war und kaum lesen kann, oder Deniz, der sich wenig zutraut. Mit ihnen durchstöbere ich einzeln in den kommenden Wochen die Bibliothek nach Lesestoff: „Nein, da sind die Buchstaben zu klein.“ „Das ist viel zu viel Text.“ „Oh ja, Dinosaurier!“ Manche sind aufgeweckt, plaudern gern, viele holpern über Sätze. Deniz liest zwar flüssig, aber so leise, dass ich ihn kaum verstehe. Das nächste Mal sagt seine Lehrerin: „Er hat schon nach dir gefragt und will unbedingt mit dir lesen.“ Ich bin ein wenig gerührt und freue mich, als er tatsächlich lauter liest. So tauchen wir ein in die Abenteuer wilder Räuberbanden, bestaunen farbenprächtige Fischfamilien und fiebern mit, als der kleine Drache Kokosnuss einem Vampirjungen hilft, Papa Vampir zu retten. Ich blicke auf die Uhr: Schade, wir müssen durchwechseln, ich soll noch mit Mira lesen.
Die Zweitklässlerin war während Corona selten in der Schule. Fast jedes Mal lese ich jetzt auch mit ihr, mit den Strichen auf dem Papier scheint sie wenig anfangen zu können – eine Lese-Rechtschreibschwäche? Ich nehme mir vor, mit der Lehrerin zu sprechen. Oft rät Mira, erkämpft sich Buchstabe für Buchstabe, versucht, Wörter zu formen. Immer wieder quasselt sie, versucht abzulenken, und ich frage mich: Wie streng soll ich sein? Intuitiv möchte ich keinen Druck ausüben, sondern ihr den Spaß am Lesen zeigen. Also spielen wir Anlaut-Bingo oder legen mit Buchstaben aus Streichholzschachteln „Tomate“, „Brot“ oder „Schuh“ – einfache Worte, die ihr gelingen.
Nach dem Unterricht spreche ich mit den Klassenleiterinnen: Mache ich es richtig? Sie beruhigen: „Das Wichtigste ist, dass jemand den Kindern Aufmerksamkeit schenkt.“
Auch in unserem Podcast „Good News“ geht es in der Folge vom 2. Juni um das Lesen. Du findest den Podcast auf Spotify, Apple Podcasts und überall da, wo es Podcasts gibt. Den RSS-Feed findest du hier.
Von Vorlesen in der Kita, Lesen üben an der Grundschule bis hin zu Tutoring in der Sekundarstufe: So engagieren sich die Berliner Lesepaten.