Mein erstes Mal...

Zu Besuch in einer KZ-Gedenkstätte

Zeitzeug:innen sterben, die kollektive Erinnerung an den Holocaust verblasst. Und fast wöchentlich melden KZ-Gedenkstätten rechtsextreme Übergriffe. Umso wichtiger ist es, hinzuschauen – zum Beispiel in Bergen-Belsen.

Als meine Schule einst einen Besuch der Gedenkstätte Bergen-Belsen anbot, fuhr ich nicht mit. Ich traute es mir nicht zu, nahm mir vor, den Besuch nachzuholen. Irgendwann. Zehn Jahre später habe ich Bücher über den Holocaust gelesen, Dokumentationen geschaut, das Mahnmal in Berlin besucht. Aber in eine KZ-Gedenkstätte habe ich es nie geschafft. Und deswegen ein schlechtes Gewissen. Schließlich ist es größer als meine Angst vor dem Besuch. Im September steige ich in den Zug nach Bergen-Belsen.

Am 15. April 1945 befreite die britische Armee die Menschen aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen bei Hannover. Die Soldaten brannten die Holzbaracken nieder, legten Massengräber an, errichteten eine Gedenkstätte auf dem Gelände. Heute umfasst das Dokumentationszentrum eine Dauerausstellung, ein Archiv, eine Bibliothek, das historische Lagergelände und die Friedhöfe.

„Aus der Geschichte lernen: Demokratie verteidigen“, lese ich am Eingang. Bei den Umfragerekorden der AfD ist das wichtiger denn je, denke ich. Zumal KZ-Gedenkstätten neuerdings fast wöchentlich rechtsextreme Schmierereien melden. Sollte ein Besuch obligatorisch sein? Das fordert der Zentralrat der Juden – für Geschichtsrefendar:innen, für Schüler:innen. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov sprachen sich 2020 auch 56 Prozent der Deutschen dafür aus. Dennoch ist der Vorschlag umstritten: Die einen finden, Besuche seien Gebot der historischen Verantwortung, die anderen sehen darin Pädagogik mit fraglicher Wirkung. In jedem Fall seien Vor- und Nachbereitung zentral. Wahrscheinlich ist beides richtig, denke ich. Pflicht und gute Begleitung drum herum. Immerhin, in Bayern ist ein NS-Gedenkstättenbesuch im Lehrplan verankert, Nordrhein-Westfalen hat 2020 die Mittel für Gedenkstättenfahrten von 250.000 Euro auf eine Million Euro erhöht. 1.200 Gruppen, vor allem Schulen, besuchen jedes Jahr die Gedenkstätte Bergen-Belsen, sie ist damit ausgebucht.

Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen

Ich gehe als erstes in die Dauerausstellung. Von 1940 bis 1943 war Bergen-Belsen ein Kriegsgefangenenlager. Es grassierten Typhus und Ruhr, eine Hungersnot brach aus. Bis heute gehen mir die Schilderungen der Gefangenen nicht aus dem Kopf. Wie sie 40 Zentimeter tief den Boden nach Wurzeln und Würmern durchwühlten, um zu überleben, die Rinde von Bäumen, die Nadeln an den Zweigen aßen. „Nichts mehr blieb, weder oben auf den Bäumen noch unten am Boden.“ Daneben ein Foto, das den Wald auf dem Gelände zeigt. Wie Zahnstocher ragen die Bäume aus der Erde hervor, als hätte ein Waldbrand gewütet.

Nach 1943 wurde aus dem Kriegsgefangenenlager ein KZ. Die Überlebende Anita Lasker-Wallfisch: „Belsen war einzigartig, es war kein Vernichtungslager, hier gab es keine Gaskammern, in Belsen ist man ganz einfach krepiert.“ Vor allem durch Seuchen und eine Hungersnot. Tagelang gab die SS den Menschen kein Essen, kein Trinkwasser. Die KZ-Überlebende Stella Borger: „Alles geschieht ohne Ursache, einfach durch die Laune der Aufsichtspersonen. Unser Leben besteht nur noch aus Hass, Hunger, Kratzen, Fluchen, Kälte, Angst vor Krankheit und vor den Schlägen unserer Wächter.“ Mehr als 70.000 Menschen wurden in Bergen-Belsen ermordet. Als die britische Armee das KZ am 15. April 1945 befreit, leben noch 53.000 Gefangene. Weil die Kapazitäten des Krematoriums seit März 1945 nicht mehr ausreichten, finden die Briten mehr als 10.000 Leichen auf dem Gelände. Viele Fotos kann ich mir kaum anschauen, versuche es aber trotzdem. Auf einem der Bilder kauert ein Mann auf dem Boden zwischen den toten Menschen und versucht, sich etwas anzuziehen. Er ist bis auf die Knochen abgemagert. Der Anblick brennt sich in mein Gedächtnis. Für 14.000 Menschen kam die Hilfe zu spät, sie starben in den ersten zwei Monaten nach der Befreiung.

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Bis 1950 gab es in Bergen-Belsen das Displaced Persons Camp. Bilder zeigen den neuen Alltag der Menschen: Sie organisierten Unterricht, trieben Sport, führten Theaterstücke auf. Viele bereiteten sich auf ihre Emigration vor. Es scheint, als holten sie sich nach und nach ihr Leben zurück, auch wenn es nie wieder werden würde wie vorher.

Nach vier Stunden brauche ich frische Luft. Auf dem historischen Lagergelände schlängeln sich Wege durch die Wiesen und Wälder, der Rand ist voll mit lila Heidekraut, manchmal mit Wildschweinspuren. Daneben Schilder: „Hier ruhen 1.000 Tote“, „Hier ruhen 5.000 Tote“, „Hier ruht eine unbekannte Zahl Toter“. Ich verlasse das Gelände, ohne alles gesehen zu haben. Aber ich will alles sehen, alle Tagebücher und Zeichnungen, alle Kleidungs- und Schmuckstücke, alle historischen Aufnahmen und Zeitzeugen:inneninterviews. Ich will nichts vergessen. Ich werde wiederkommen, irgendwann.

Foto: IMAGO / Klaus Rose

Die Gedenktafel erinnert an die Gräueltaten der Nazis in Bergen-Belsen.

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