Potsdam hat alles verändert. Auf einer Veranstaltung des dortigen Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) 2007 sprach der damalige Institutsleiter Hans Joachim Schellnhuber über den vierten Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC). Er sprach über „Kippmomente“ und die Zukunft. Es ging um Szenarien, was mit unserem Planeten passieren wird. Schellnhubers Fazit zur Erderwärmung war katastrophal.
Nach dem Vortrag sprach ich den Wissenschaftler an. Mir war nicht ganz klar, ob ich alles richtig verstanden hatte, die Sache schien komplex. Ich stellte zwei Fragen: Wie wahrscheinlich ist diese Prognose? Warum tut keiner was dagegen? Der Physiker, schon damals einer der renommiertesten Klimaforscher weltweit, antwortete lakonisch: „Wir glauben nicht, dass die Prognose stimmt.“ Puh, dachte ich, aber Schellnhuber war noch nicht fertig. Er sagte: „Wir gehen davon aus, dass es viel schneller geht.“ Auf die zweite Frage reagierte der Experte zurückhaltend, er sei Wissenschaftler, kein Politiker. Im aktuellen Fall sei die Lage aber sehr ernst. Es ginge um die menschliche Existenz. Für mich war klar: Jetzt musst du was tun. Mitte der 2000er-Jahre war ich, plakativ gesagt, auf Sinnsuche. Studiert habe ich Linguistik und Sozialanthropologie in Deutschland, Holland und der Schweiz. Eigentlich wollte ich Journalist werden, scheiterte aber mit meinem ersten Start-up: einer etwas großkotzigen, auf User-Content basierenden Boulevard-Plattform im Internet. Sie hieß: Thema1.
Auch bei Good Impact: Festivals: Grüne Akkus statt Dieselgeneratoren
Von Universal zu Myspace
Wenig später suchte Universal Music Deutschland einen Kommunikationschef. Ich wurde Vice President Communications und New Business. Bis 2005 lief es prima. Die Branche boomte. Das Digitale kam. Erst lächelten alle, dann wurden alle nervös. Man tauschte hektisch das Management aus – auch mich. Danach hatte ich Glück, kannte den Europa-Chef der damals am schnellsten wachsenden Musik-Plattform der Welt: MySpace. Ich durfte das Deutschlandgeschäft aufbauen. Dann verkauften die MySpace-Gründer, eher verpeilte Idealisten, 2005 an Rupert Murdochs News Corporation. Der Milliardär finanzierte das Geschäft mit einem Google-Deal. Unsere user-freundliche Plattform wurde mit bunten Anzeigeflächen tapeziert. Das bis heute alles dominierende Advertising-Geschäft explodierte. Google perfektionierte schon damals erfolgreich den Plattform-Kapitalismus. Statt eines inhaltlichen Konzepts, von dem wir überzeugt waren – einer einfach bedienbaren Plattform für Bands und Fans –, mussten wir Anzeigen verkaufen. Zu der Zeit innovative, neue Geschäftsmodelle wie Ticketing und Musikdownloads wurden verworfen. Communitys identifizieren, schnell aufbauen und melken, war die Strategie – eine, die bis heute immer feiner skaliert wird. Ich bin gegangen.
Damals haben wir viel Zeit bei der Digitalisierung verloren. Und die Musikindustrie ist brutal in die Knie gegangen. Gelitten haben aber zumeist die Innovatoren im mittleren Management mit den guten Ideen. Sie wurden gefeuert. Die Bremser, die Angst vor ihnen hatten, sitzen heute teilweise noch immer auf Chefposten. Dieser Konflikt der Generationen ist fast eine Blaupause für die Klimawandel-Problematik: Auch hier ist das Zeitfenster, um zu handeln, winzig geworden.
Eine toxische Gemengelage, die mich in Potsdam 2007, Sinn suchend, bei dem alarmierenden Vortrag von Schellnhuber wieder einholte. Jetzt musst du was tun, dachte ich also. Klar war mir aber auch: Es braucht dafür einen systemischen Ansatz, Netzwerke, gesellschaftliche Schlagkraft, sonst bleibt die komplexe Problematik unter der Wahrnehmungsschwelle.
LOHAS-Welle in Deutschland
Mit meinem damaligen Geschäftspartner Guido Axmann, der eigentlich Arzt war, reanimierte ich die Thema1 GmbH, die auch als Basis für mein gescheitertes Journalismus-Projekt gedient hatte. Es war die Zeit der LOHAS-Welle in Deutschland (Lifestyles of Health and Sustainability, Anm. d. Red.). Konsumenten begannen, sich für nachhaltige Produkte zu interessieren. Eine neue Zielgruppe, eine neue Käuferschicht wurde identifiziert.
Das Bundesumweltministerium und das Umweltbundesamt veröffentlichten die ersten Pro-Kopf-Emissionszahlen. Elf Tonnen CO2 waren es bundesweit. Den größten Anteil hatte der tägliche Konsum. Die Frage war: Welchen Anteil daran haben unsere täglichen Kaufentscheidungen? Wir starteten zusammen mit dem WWF, dem Öko-Institut, dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und zehn Unternehmen – dabei waren etwa die Telekom und Rewe – das „Product Carbon Footprint“- Projekt (PCF) für Deutschland. Wir wollten wissen, wie viel CO2 durch die Produktion bestimmter Produkte verursacht wird. 2009 kam Axel Schulz, der Manager der Band „Die Ärzte“ zu mir und sagte: „Du machst doch diesen Nachhaltigkeitsquatsch. Wir wollen grün touren, wie geht das?“ Zunächst habe ich ihn zu Greenpeace geschickt, die waren aber schnell überfragt. Was tun? Die Frage landete wieder bei mir. Ich habe Freunde eingeladen, um Ideen zu sammeln. Letztlich wurden CO2-Zertifikate gekauft. Das war damals die beste Lösung. Heute würde ich das so nicht mehr machen.
Start der Green Music Initiative
Um das Thema besser zu verstehen, veranstalteten wir einen Round Table zum Thema „Green Music“ in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Statt der 25 erwarteten Teilnehmer kamen 60 – aus allen Branchenbereichen: Festivalmacher, Booker, Künstler, Manager, PR-Leute. Das Thema bewegte viel mehr Leute, als ich gedacht hatte. Es sprachen etwa Alison Tickell von der renommierten Wohltätigkeitsorganisation „Julie’s Bicycle“ aus London, die bereits auf der Insel den Green Music Guide herausgegeben hatte, und ein Manager von MTV.
Das war der Gründungsmoment der Green Music Initiative. Es war keine strategische Entscheidung. Es passierte einfach. Unser erstes Projekt haben wir mit den Machern des Melt! Festivals in der Nähe von Dessau, Sachsen-Anhalt, aufgesetzt. Es ging um einumweltfreundlicheres Mobilitätsmanagement. Geld kam vom Bundesverkehrsministerium dank eines Förderprogramms. Das Festivalgelände befindet sich in Gräfenhainichen auf dem Gelände eines ehemaligen Tagebergbaus, der heute ein Industriemuseum ist. Es ist für etwa 20 000 Besucher ausgerichtet und liegt auf der Halbinsel eines Sees. Die Lage macht, wie bei vielen anderen Festivals, das Mobilitätsmanagement kompliziert. Auf den letzten Kilometern fallen oft die meisten Emissionen an.
Um das Melt! Festival haben wir exemplarisch Wirkungskreise für Mobilitätsangebote definiert: Autofahrer haben einen „Bequemlichkeits-Radius“ von 300 Kilometern, Bus- und Bahnfahrer einen von 400 bis 550 Kilometern. Strecken, die die 600-Kilometer-Grenze überschreiten, werden geflogen. Damals, 2009, kamen viele Besucher aus Nordrhein-Westfalen mit dem Auto. Eine recht unbequeme und teure Art der Anreise. Also fragten wir im Vorfeld des Festivals: Warum kommt ihr mit dem Auto? Die Antwort: Es sei sicherer und die Fahrt sei bereits ein gefühlter Teil des Festivals.
Wir entwickelten zwei Alternativen: einen Hotelzug und eine besondere App. Auf dem Festivalgelände gibt es eine Schieneninfrastruktur. Da die Fahrt mit dem Zug schon eine Party war, inklusive Disko-Waggon, und man während des Festivals im Zug schlafen konnte, war dies für die Besucher ein konkurrenzfähiges Angebot. Dank eines Sponsors konnten wir das alles mit einem Tochterunternehmen der Deutschen Bahn für 100 Euro anbieten.
Die zweite Idee konzentrierte sich auf Busse. Allerdings fahren die Leute ungern Bus. Du weißt vorher nicht, wer neben dir sitzt. Die Buchung war und ist teilweise bis heute zu kompliziert. Wir haben mit dem Vorgänger von Flixbus kooperiert. Eine App wurde programmiert, mit der sich eine Fahrt direkt über Facebook buchen ließ. Das Prinzip war simpel: Eine Person hat ein Kontingent von etwa 20 Plätzen geblockt. Gezahlt wurde erst, wenn die Truppe und das Geld beisammen war. Keine Vorkasse, und du wusstest genau, mit wem du fährst. An beiden Projekten waren Mobilitätsforscher und Mitarbeiter des Verkehrsministeriums beteiligt. Beide Konzepte fanden lange erfolgreich Anwendung.
Wir begannen wenig später mit einer Energieeffizienz- Beratung für Berliner Clubs, etwa den Punkladen SO36 oder den Tresor, und entwickelten das „Green Club Label“ und den „Green Club Index“. Heute finden 85 bis 90 Prozent unser Projekte außerhalb von Berlin statt.
Kleinstädte auf grünen Wiesen
Weiter ging es mit Workshops, weil uns die europäische Festivalvereinigung Yourope bat, gezielt Fortbildungen in puncto Nachhaltigkeit für die Macher aufzusetzen. Uns sprach damals Holger Jan Schmidt an. Er organisierte das Rheinkultur-Festival in Bonn, eines der größten kostenlosen Open-Air-Festivals in Deutschland. Zum 25-jährigen Jubiläum kamen 2007 etwa 200 000 Besucher.
Schmidt erklärte, dass sie bereits seit vielen Jahren den Umweltschutz als elementaren Teil des Events sahen und bereits früh ein Flaschenverbot eingeführt hatten und besondere Müllkonzepte anwandten. 2008 hatten Schmidt und sein Team das Umweltschutzlabel „Green Rocks“ entwickelt. In Kooperation mit dem Ökostromanbieter Naturwatt gelang es ihnen ein Jahr später durch ein Wiederaufforstungsprojekt die errechneten Anreise-Emissionen von etwa 170 000 Besuchern zu nivellieren. Holger ist mittlerweile bei vielen Projekten mein Partner, wir haben eine Firma zusammen.
Absurd ist, dass bis heute keiner den Musik-Sektor gefragt hat: Was habt ihr eigentlich für Emissionen? Zahlen gibt es nicht. Es gibt keine Vorschriften. Das heißt, alles, was die Industrie tut, geschieht ausschließlich freiwillig. Wir begannen unsere Arbeit klar zu strukturieren, uns auf die „Hotspots“ zu konzentrieren, also auf die Bereiche, in denen der Sektor die sichtbar größte Umweltwirkung hat. Dabei gerieten Festivals, passend zu unserem ersten Projekt, immer stärker in den Fokus. Ein Festival ist eine Kleinstadt auf der grünen Wiese, aber mit einem klaren, temporären Gesellschaftsvertrag. Ein soziales Experiment unter erhöhtem Druck. Besucherinnen wollen hier erstmal eine geile Zeit haben, an die sie sich erinnern. Dafür schränken alle ihre Rechte für ein positives Gemeinschaftserlebnis ein. Du siehst nach drei Tagen, ob es funktioniert hat. Ein Ort direkter Demokratie und zugleich ein Zirkeltraining für die offene Gesellschaft. Die Leute handeln den Großteil miteinander aus – nahezu überwiegend friedlich. Viel Sicherheitspersonal ist oft nicht nötig. Das Gute an Festival-Gängern ist, dass sie ohnehin agil denken und handeln. Sie warten nicht auf Politiker, sondern machen einfach. Es sind pragmatische Optimisten, die an Wandel glauben. Strenggenommen gibt es sonst wenig Orte, wo Menschen sogar dafür zahlen, sich temporär auf eine ganz andere Form der Gesellschaft einzulassen. Wir finden: Festivals sind ideale Orte, um den dringend benötigten gesellschaftlichen Wandel spielerisch zu erproben.
Mobilität, Strom, Müll und Catering
Die entscheidenden Stellschrauben für die Emissionen von Festivals sind: Mobilität, Energie, Ressourcenmanagement inklusive Müll, Catering und „Audience Communication“, also die Frage, wie ich die Besucher für ein wichtiges Thema sensibilisiere. Denn klar ist: Der erhobene Zeigefinger funktioniert sicher nicht. An- und Abreise-Emissionen sind der größte Hebel, sie machen etwa 80 Prozent der gesamten Emissionen aus. Es folgt die Energie. Weil die örtlichen Netze den hohen Bedarf und die benötigten Stromspitzen oft nicht decken können, werden bis zu 90 Prozent des Stroms vor Ort von Generatoren produziert, die mit Diesel, Öl oder Schweröl laufen. Dreckige Sache. Je weiter man nach Süd- und Osteuropa kommt, umso weniger Restriktionen gibt es. Man verbrennt eben, was gerade günstig zu haben ist. Was wenige wissen: Generatoren sind nicht nur dreckig, sondern auch teuer. Eine Kilowattstunde aus dem Generator kostet etwa dreimal so viel wie eine aus dem regulären Netz. Das Zusammenspiel von Transport, Anschluss und Regulierung der Geräte ist komplex. Wann genau reicht die regionale Versorgung nicht mehr aus? Wann schalte ich zu, wann wieder ab? Ein präzises Monitoring an dieser Stelle ist vielen zu aufwendig. Heißt konkret: Es gibt oft einen Dauerbetrieb, um sicherzustellen, dass der Strom reicht und keine Engpässe entstehen. Daher die vergleichsweise hohen Stromkosten bei Festivals.
Energie ist generell das unsichtbarste und das wichtigste Thema. Effizienz und Kontrolle des Verbrauchs sind elementar. Noch besser wäre es, wenn wir den Machern sagen könnten: Verbrauch’ doch so viel Strom, wie du willst, da dieser aus erneuerbaren Quellen kommt. Wir haben daher 2017 begonnen, als Teil eines Konsortiums im Rahmen des EU-Förderprogramms „Horizon 2020“ Wasserstoffgeneratoren zu entwickeln, also Brennstoffzellen. Theoretisch ist das dann emissionsfreie Energie. Die ersten Prototypen kommen in diesem Jahr erstmals zum Einsatz, etwa beim Wacken Festival. Bei Wasserstoff gilt: Green is the new black.
Der nächste Punkt ist das Ressourcenmanagement. Wasser ist ein elementares Thema. Die Festivals Boom in Idanha-a-Nova, Portugal, oder das Garbicz in Polen finden an Seen statt, die aufgrund der Masse der Menschen langsam umzukippen drohen. Weitere Fragen sind: Wie wird die Bühne gebaut? Werden die Teile wiederverwertet? Welche Materialien werden eingesetzt? Auch die Frage nach dem Müll ist entscheidend. In Deutschland bleiben im Schnitt 30 Prozent der Zelte liegen. In England sind es 50 bis 60 Prozent. Anfangs haben viele Betreiber Prämien oder eine Gebühr, die man bei der Abreise wiederbekam, eingeführt. Du bekamst zehn Euro, wenn du deinen Kram, inklusive Zelt, wieder mitgenommen hast. Ein Jahr lang lief alles glatt. Prima Öko-Bilanz. Im zweiten Jahr drehten viele Besucher das Konzept gedanklich um: Ich zahle zehn Euro und kann meinen Müll liegenlassen. Dann gab es die Variante, vorab grüne Tüten zu verteilen. Waren die voll, gab es Geld. Auch nicht clever: Die Besucher, die bewusst geplant hatten, keinen Müll zu produzieren und eine leere Tüte abgaben, gingen leer aus. Dann gab es die Aufpasser-Variante plus Prämie: Man schaut den Leuten beim Ab- und Aufräumen zu und zahlt als Betreiber dafür, dass nichts zurückbleibt. Oft sind die Kollegen mit den vollen Tüten zehn Kilometer weitergefahren und haben den Mist einfach in den nächsten Wald gekippt.
Warum lässt du dein Zelt liegen?
Wir haben zusammen mit unseren Partnern ein neues Projekt aufgesetzt. Warum lässt du dein Zelt liegen? Weil du keine emotionale Bindung dazu hast. Gleichzeitig identifizieren sich die Fans oft über Jahre hinweg mit dem Festival, tragen ihre Eintrittsbänder lange am Handgelenk. Unsere Kampagne hieß „Love Your Tent“. Das Prinzip war einfach, aber effektiv: Wir haben angefangen, Mitarbeiter auf dem Gelände rumzuschicken, die Logos auf die Zelte gesprüht haben. Schon war eine emotionale Bindung hergestellt. In England hat das sehr gut funktioniert. Rastert man zudem die Zeltplätze und gibt den Arealen Fantasienamen, tritt der Effekt der Identifikation erneut ein. Die Hemmungen werden größer, den Ort dreckig zu hinterlassen. Funktioniert hat es auch, über Mülleimer einen Smiley statt toller Hinweisschilder zur Trennung zu hängen. Menschen tun dann instinktiv das Richtige. Sie wollen lieber Teil der Lösung sein als permanent nur über das Problem aufgeklärt zu werden. Beim Burning Man Festival in der Salzwüste des US-Bundesstaats Nevada bewerten sich die Besucher gegenseitig in puncto Sauberkeit und Müll über eine Plattform. Das ist ein funktionierender, medial aufbereiteter Social Contract. Auch beim Wacken Festival lief 2019 unter dem Hashtag #greenwacken ein Wettkampf. Die Besucher sollten ihren sauberen Zeltplatz kurz vor ihrer Abfahrt fotografieren und bei Instagram posten. Hat funktioniert. Aber: Es gibt beim Müllthema nicht die eine Lösung. Die Camper beim Glastonbury Festival in England ließen auf den Zeltplätzen, die sich auf Kuhweiden befanden, oft die Heringe im Boden zurück. Damit die Tiere keinen Schaden mehr nahmen – viele fraßen die billigen Metallstifte einfach –, wurden Heringe aus Maisstärke verteilt, die gefressen werden konnten.
Zum Thema „Ressourcenmanagement“ gehört auch das Essen, der emotionalste Punkt. Auch hier gibt es, unserer Meinung nach, eine fast erschreckend einfache, adaptierbare Lösung: Einer unserer Festivalpartner in Schweden, das Way Out West, das in der Nähe von Göteborg stattfindet, hat komplett auf Fleisch verzichtet. Verdammt schwierig, dachten wir zuerst. Wie macht man das? Die Antwort war denkbar einfach. Wir schreiben es einfach nicht drauf, sagten die Macher. Es gab tolle Stände, innovative Gerichte, aber stillschweigend nirgendwo Fleisch. Eine Umfrage nach dem Festival ergab, es war niemanden aufgefallen.
Nachhaltigkeit lustvoll erleben
Der letzte Punkt ist die „Audience Communication“. Wie schaffst du es, mit einer Gruppe von bis zu 120 000 Menschen im Extremzustand zu kommunizieren? Wie kann dabei Nachhaltigkeit lustvoll erlebt werden? Regelmäßige Festivalgänger nehmen oft eine Rolle ein. Sie empfinden die Zeit ihres Besuchs als Teil einer besonderen Identität. Man zahlt für Vielfalt, soziale Interaktion und das Gemeinschaftserlebnis. Die Musik kommt auf der Prioritätenliste meist weit unten. Schafft man es, dem positiv aufgeladenen Publikum Zukunftsfähigkeit zu vermitteln, widerlegt man drei entscheidende Vorurteile: „Nachhaltigkeit heißt Verzicht. Alles was Spaß macht, ist nicht mehr erlaubt. Am Ende bewirken wir eh nichts.“ Wenn du dich als selbstwirksam empfindest, bist du bereit, in einen Wandel zu investieren, der dir nicht sofort die einfachste Lösung liefert. Eines unserer banalsten und zugleich selbstwirksamsten Projekte, auch außerhalb des Festival-Kontextes, ist die Fahrraddisko. Den Strom für DJ und Boxen liefern Fahrräder, auf die sich die Gäste setzen und treten müssen. Ein wunderbares Sozialexperiment. Je mehr Leute treten, umso lauter wird es. Einer allein schafft das nicht. Nur wenn weitere helfen, motivieren und mitmachen, geht’s. Während die Leute feiern, erleben sie unmittelbar eine „Energiewende“.
Zuletzt wurden die Kids und Jugendlichen, die sich im Rahmen von Fridays for Future engagieren, kritisiert. Sie würden auf den Demos ihren Müll rumliegen lassen oder auf Festivals, die sie besuchen, das Zelt. Das ist für mein Gefühl eine seltsame Reaktion auf deren berechtigte Fragen und so kontraproduktiv wie das vermeintliche Verzichts-Dogma der Nachhaltigkeit. Es geht nicht darum, auf dem Einzelnen rumzuhacken, sondern eine grundlegende systemische Änderung herbeizuführen, die Wegwerfprodukte verhindert. Wenn ich als Gesetzgeber etwa bei der Vergabe von Lizenzen für Festivals nicht irgendwann ein Emissionskonzept einfordere und damit ein Verständnis erzwinge, mache ich mich unglaubwürdig. Die Förderprojekte von heute müssen die Gesetze von morgen sein.
Ein hysterischer Optimist
Die Politik agiert leider oft scheinheilig: Ich finde es seltsam, den Sektor nicht oder nur minimal bei dieser wichtigen Umstellung zu unterstützen, aber im gleichen Moment die Unterstützung der Akteure bei politischen Kampagnen einzufordern. Jedes Mal, wenn Politiker den gesellschaftlichen Druck wieder spüren, kommen die Anfragen, ob wir zwei, drei Künstler wüssten, die sich an einer Förderkampagne für den Umweltschutz beteiligen würden. Das ist keine Realpolitik, sondern Heuchelei.
Wir brauchen die Umstellung großer Teile unserer Gesellschaft. Der kulturelle Sektor kann dabei eine tragende Rolle spielen, wenn wir es schaffen, dieses schrecklich sperrige Konzept einer „klimaneutralen Zukunft“ mit Leben zu füllen. Kultur kann dabei Leuchttürme des Erlebens einer Alternative bieten. Und uns so vielleicht die Angst vor diesem Wandel nehmen.
Statt immer zu probieren, „weniger vom Schlechten zu machen“, müssen wir lieber versuchen, gemeinsam eine bessere Welt für alle zu erdenken. Wenn uns irgendwas durch diese Zeit des existenziell notwendigen Wandels hilft, ist es das tiefe Gefühl, dass wir ihn nicht nur bewältigen können, sondern diese neue, utopische Welt auch eine lustigere, buntere, fairere, liebevollere für alle sein kann. Insofern bin ich, wie die Festivalgänger, gerne ein hysterischer Optimist.
Aufgezeichnet von Jan Scheper
Auftritt der Band Gurr beim Melt! Festival 2018: Die demokratische, offene Festivalgemeinschaft eigne sich ideal, um nachhaltige Konzepte zu erproben, sagt Jacob Bilabel von der Green Music Initiative.