Der Morgentau liegt noch auf den Feldern, als der Transporter ruckelnd zum Halten kommt. Die Türen öffnen sich, 28 Passagiere stolpern ins Halbdunkel. Es ist eng, kaum Licht dringt durch die Fenster, die Luft ist warm und stickig. Minuten später der nächste Stopp – außerplanmäßig. Weitere sieben Passagiere pressen sich in das Fahrzeug. Es wird gerempelt, gekratzt, gebissen. Bis zur Endstation vergehen Stunden, in denen sich die Körper aneinanderpressen. Drei von ihnen zieht man leblos aus dem Wagen.
Unmenschlich? Sicher. Aber der Fall handelt von Schweinen auf dem Weg ins Schlachthaus. So ähnlich muss die Fahrt abgelaufen sein, als der Lastwagenfahrer entschied, mehr Tiere an Bord zu holen als erlaubt – um schneller und produktiver zu sein als die Konkurrenz.
„Beim Militär habe ich zwei Jahre lang Soldaten transportiert, doch natürlich ohne Tote in Kauf zu nehmen“, sagt der Schweizer Anwalt Antoine Goetschel. Er vertrat die Schweine 2019 vor Gericht. Mit Erfolg: Früher hätte der Lkw-Fahrer nur eine Geldstrafe bekommen, knapp 1.600 Euro. Goetschel erstritt dazu einen Strafregistereintrag für Tierquälerei.
„Ein Fall von vielen“, so Goetschel – weiße Haare, blauer Pullover, rahmenlose Brille. Der „Tierli-Anwalt“, wie die Schweizer:innen ihn nennen, macht lange Pausen, bevor er einen Satz beginnt. Mehr als 700 Tierschutzrechts-Fälle hat er in seiner 40-jährigen Laufbahn bereits vor Behörden und Gericht vertreten. Fische, Kaninchen, Legehennen, Hunde, Katzen, Kälber. Eine Boa, sogar einen Leguan. Die Anträge häufen sich. „Allein in der Schweiz bräuchte man bis zu 15 Anwält:innen, um alle jährlich anfallenden Tierschutzfälle zu bearbeiten.“
Tierrecht – das stand zu Beginn seines Jurastudiums an der Universität Zürich noch gar nicht im Raum. Erst ging es ihm um Kinderschutz, religiöse Minderheiten, geschlagene Frauen. Später spezialisierte sich Goetschel auf Grundrechte – und fragte sich: Was ist mit den Rechten von Tieren? Er schrieb sein erstes Buch über das Tier im Schweizer Recht. „Statt 50 Seiten wurden es 714“, sagt Goetschel, der seitdem vegetarisch isst. Weiter ging es mit seiner Doktorarbeit und rund zehn weiteren Büchern. 1995 gründete er die Stiftung „Für das Tier im Recht“, 2016 den Verein „Global Animal Law“ (GAL), dem rund 130 Rechtsprofessor:innen und Anwält:innen weltweit angehören – unter anderem der bekannte australische Philosoph und Tierethiker Peter Singer.
GRUNDRECHTE – UND DIE TIERE?
Goetschel bezeichnet sich nicht als großer „Tier-Knuddler“. Mit der Labradoodle-Dame Lisa aus seinem Büro kommt er zwar gut klar, Haustiere hat er aber keine. Nicht mehr: „Ich war acht, als mein Meerschweinchen Butzi starb, sein Tod schmerzte mich sehr. Meine Mutter meinte: ,Es war doch nur ein Tier.‘ Das fand ich unglaublich kaltherzig. Schon damals dachte ich: Tiere sind doch keine Dinge.“
Rechtlich waren sie aber genau das: Sachen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz hat sich das zwar geändert – Tiere bilden heute eine eigenständige Kategorie zwischen Menschen und Sachen –, „viel Leid ist ihnen dadurch nicht erspart geblieben“, so Goetschel. Dabei war Deutschland eines der ersten Länder weltweit, das Tierschutz in seine Verfassung aufnahm. Und zwar 1933, tatsächlich unter nationalsozialistischer Regierung. Was es beinhaltete: Vorschriften über die Haltung von Heim- und Nutztieren, über Tierversuche, Schlachtmethoden und – absurderweise – das Verbot bestimmter Tierquälereien. Bis heute sind Tiere im Grundgesetz unter Artikel 20a immer noch als Eigentum und Handelsgut verbucht. Immerhin hat Tierschutz Verfassungsrang.
Dabei reicht der Gedanke, ob Tiere geschützt werden oder Rechte haben sollen, weit zurück. „Die ersten Ansätze findet man bereits im alten Rom“, so Goetschel. Pferde, Esel und Rinder wurden zwar nicht rechtlich geschützt, doch es gab Regeln für ihre Behandlung. Extreme Grausamkeit gegenüber Tieren galt als Zeichen schlechten Charakters. Später arbeitete der englische Philosoph Jeremy Bentham diese Grundidee aus. In seinem Werk An Introduction to the Principles of Morals and Legislation schrieb er 1789: „Die Frage ist nicht: Können sie denken? oder: Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden?“
1822 führte das Vereinigte Königreich das erste Tierschutzgesetz der Welt ein: Der Martin’s Act verbot die Misshandlung von Nutztieren und legte Maßnahmen zum Schutz von Tieren fest. In den USA und Europa folgten im 19. Jahrhundert Tierschutzvereine und ähnliche Gesetze. In den 1970ern entwickelte sich die moderne Tierrechtstheorie an der Universität Oxford.
Trotzdem werden Rinder, Schweine, Hühner, Ziegen und Schafe bis heute industriell verstümmelt, enthornt, geschreddert. Sie bekommen Knochenbrüche und Infektionen. An Labortieren wird bis zum Tod herumexperimentiert, die Nase von Hunden so weggezüchtet, dass sie kaum noch atmen können.
Das deutsche Tierschutzgesetz sowie die EU-Tierversuchsrichtlinie besagen, dass Labortieren nicht ohne „vernünftigen Grund […] langanhaltende schwere Schmerzen“ zugefügt werden dürfen. Doch was vernünftig ist, entscheidet der Mensch. Deutschland erlaubt weiterhin Tierversuche wie Elektroschocks bei Mäusen. Auch die Einhaltung des Qualzuchtverbots, zum Beispiel bei Milchkühen und Hunden, wird nicht einheitlich kontrolliert. Bei der Haltung von Nutztieren gibt es nur Mindestanforderungen. In den vergangenen Jahren wurden diese in Deutschland und der EU immer mal wieder verschärft, Käfigbatterien für Legehennen oder die betäubungslose Ferkelkastration verboten.
Wenn Antoine Goetschel morgens, meist gegen neun Uhr, zu arbeiten beginnt, hat er es nicht weit. Seine Kanzlei ist in seiner Wohnung, um die Ecke der tiefblaue Zürichsee. Im Büro hängt ein handgeknüpfter Wandteppich, in den Regalen stapeln sich die Werke von Philosoph:innen. In Hunderten Straf- und Verwaltungsverfahren war Goetschel…
Tiere bilden in Deutschland rechtlich eine eigene Kategorie und befinden sich zwischen Menschen und Sachen.
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