Vergessene Geschichten - Friedensprozess im Jemen

Die Gleichzeitigkeit der Katastrophen stoppen

Das Coronavirus trifft den vom Bürgerkrieg schwer gezeichneten Jemen hart. Doch in den Friedensprozess zwischen schiitischen Huthis und der international anerkannten Regierung kommt Bewegung. Nun hängt es auch von den USA ab.

Donald Trumps Zeit als US-Präsident neigt sich dem Ende. Doch seine letzten Wochen im Amt könnten Konsequenzen für ein Land haben, das in den Schlagzeilen meist nur am Rande vorkommt: Jemen. Der kleine Staat im Süden der Arabischen Halbinsel wird zu großen Teilen von den schiitischen Huthis kontrolliert – und die will die noch amtierende US-Regierung offiziell als Terrorgruppe einstufen. Trump und sein Nationaler Sicherheitsberater Robert O’Brien prüfen den Fall derzeit noch, heißt es aus Washington.

Eine Einstufung der von Iran unterstützten Aufständischen als Terrorgruppe könnte die Trump-Administration als weiteren Teil ihrer dezidiert anti-iranischen Politik des „maximalen Drucks“ auf Teheran verkaufen. Sicherheitsberater O’Brien wirft den Huthis vor, den von den Vereinten Nationen angestrebten Friedensprozess für das Land zu torpedieren. Er forderte sie auf, Angriffe – etwa auf Saudi-Arabien – zu beenden. Erst am 23. November hatten die Huthis eine Rakete bis in die saudische Küstenstadt Dschidda geschossen. Die Saudis gelten den Huthis als Erzfeind, seit sie vor fast fünf Jahren einen brutalen Luftkrieg begannen und die jemenitische Regierung unterstützen.

Beobachter*innen jedoch sehen die US-Politik kritisch. Denn der Jemen selbst scheint in der Rechnung keine Rolle zu spielen. Für die Menschen vor Ort sind vor allem zwei Dinge wichtig: dass die Kampfhandlungen endlich aufhören und sich die katastrophale humanitäre Lage im Land verbessert. UN-Generalsekretär António Guterres sieht eine schwere Nahrungsmittelkrise heraufziehen: „Der Jemen ist jetzt in unmittelbarer Gefahr der schlimmsten Hungersnot, die die Welt seit Jahrzehnten erlebt hat.“ Hilfsorganisationen warnen, dass eine Listung der Huthis als Terrorgruppe die Auslieferung von Hilfsgütern weiter erschweren würde. Auch Deutschland und Schweden haben versucht, die US-Regierung davon abzubringen.

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Diphtherie und Polio breiten sich aus

Einer, der die Lage vor Ort zu lindern versucht hat, ist Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen. Die Hilfsorganisation betreibt ein Krankenhaus in der Neustadt der jemenitischen Küstenmetropole Aden, die als Sitz der international anerkannten Regierung von Abd Rabbo Mansur Hadi dient, seit die Huthis 2014 die Haupstadt Sanaa überrannten. Begonnen hatte die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der Regierung und den Huthis aber bereits 2004, nach dem gewaltsamen Tod des religiösen Rebellionsführers Hussein Badreddin al-Huthi.

Heute beunruhigt Stöbe die „Gleichzeitigkeit der Katastrophen“. Er sagt: „Diphtherie und Polio breiten sich wieder aus.“ Die Krankheiten seien  eigentlich vermeidbar. Auch Cholera habe den Menschen schwer zugesetzt. Nun komme Covid-19 hinzu, das im Jemen eine weit höhere Sterblichkeitsrate habe als etwa in Europa. „Wer im Jemen von der Pandemie heimgesucht wird“, sagt Stöbe, „hat weltweit womöglich die schlechtesten Überlebenschancen.“

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Stöbe berichtet von der 30-jährigen Samar, die sich mit Corona infizierte. Als ihre Luftnot immer schlimmer wurde, versuchte sie ein Krankenhaus zu finden. Zunächst vergeblich: „Die Angst vor dem Virus hatte sich schneller verbreitet als dieses selbst“, erinnert sich Stöbe. Niemand wollte die Covid-19-Patientin aufnehmen.

Nach sechs Jahren Krieg sind außerdem rund die Hälfte der Krankenhäuser des Landes zerstört, andere schlossen aus Angst, dass sich das Virus ausbreitet. „Es ist völlig surreal, dass inmitten einer Gesundheitskrise die Krankenhäuser schließen“, sagt Stöbe. Samars Odyssee sei beispielhaft für die Lage im Land. Ihr Verlauf war schwer, doch nach fünf Wochen Beatmung in der Klinik von Ärzte ohne Grenzen überlebte sie. Um aber allen bedürftigen Menschen im Land zu helfen, reiche das Geld nicht, sagt Stöbe. Nach Angaben der Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) wurde der von den UN aufgestellte Hilfsplan bislang noch nicht einmal zur Hälfte finanziert. Tamuna Sabadze, Jemen-Direktorin beim IRC, erklärt: „Jeder Tag, an dem wir unsere humanitären Verpflichtungen nicht erfüllen, treibt Millionen Menschen weiter in eine Hungersnot.“ Im Oktober sei etwa die Unterernährung bei Kindern so hoch gewesen wie nie zuvor.

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Friedensprozess im Jemen: Gefangenenaustausch macht Hoffnung

Ein langfristiger Waffenstillstand ist dringend erforderlich
Tamuna Sabadze, Jemen-Direktorin beim International Rescue Committee (IRC)

Um alle erreichen zu können, brauche es aber mehr als Geld: „Ein landesweiter Waffenstillstand ist dringend erforderlich, damit die humanitären Hilfsorganisationen die Bedürftigsten erreichen können“, sagt Sabadze. Auf einen Waffenstillstand und eine langfristige Lösung des Konflikts arbeitet Martin Griffiths hin, der UN-Sondergesandte für den Jemen. Seit 2018 versucht er, die Huthis und die Hadi-Regierung an einen Tisch zu bringen, um das Land zu befrieden. Und: Erfolglos waren Griffiths’ Bemühungen in den vergangenen Monaten nicht.

Im September vereinbarten die Konfliktparteien bei UN-gesponserten Gesprächen im schweizerischen Montreux als vertrauensbildenden Schritt einen Gefangenenaustausch. Innerhalb von zwei Tagen wurden mehr als 600 Huthi-Kämpfer und rund 400 gefangene Kämpfer der Regierung freigelassen und nach Aden sowie nach Sanaa gebracht. Vom „größten Gefangenenaustausch während eines Krieges, an dem wir seit dem Korea-Konflikt beteiligt waren“, sprach das Internationale Rote Kreuz, das die Umsetzung des Austauschs organisierte. Die Aktion ging zurück auf die sogenannte Vereinbarung von Stockholm aus dem Dezember 2018, in der unter anderem ein Austausch von insgesamt 15.000 Kriegsgefangenen sowie ein Waffenstillstand vereinbart worden war.

Zwei Jahre später liegt ein ausführliches, von den UN entworfenes Dokument vor, das einen Weg hin zu einer Lösung des Konflikts zeichnet. Die als „Joint Declaration“ bekannte Vereinbarung sieht außerdem Schritte vor, die wirtschaftliche und humanitäre Lage auf Dauer zu verbessern. Auf Grundlage der „Joint Declaration“ versucht Griffiths die Konfliktparteien zu Kompromissen zu bewegen. „Am Ende“, sagte er aber kürzlich vor dem UN-Sicherheitsrat, „bin ich der Vermittler, nicht der Unterhändler. Die Parteien müssen miteinander verhandeln und nicht mit mir.“

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Der UN-Sonderbeauftragte begrüßte zuletzt die jüngsten Entwicklungen im Dezember 2020, einschließlich der Bildung des neuen Kabinetts am 19.12.2020, als „entscheidenden Schritt“ in Richtung einer Lösung des jahrelangen Konflikts. „Dies ist ein wichtiger Schritt für mehr Stabilität, Verbesserung staatlicher Institutionen und mehr politische Partnerschaft“, sagte Griffiths.

Dieser Text ist Teil des Schwerpunkts „Vergessene Geschichten – War da was?“ der Jubiläums-Ausgabe 06/20.

Bild: imago images / Hans Lucas

Ein verwundeter Mann wartet 2015 vor einem Krankenhaus im jemenitischen Hajjah auf seine Behandlung (Archivbild).

Jannis Hagmann

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