Vergessene Geschichten - Konflikt in der Ukraine

„Hauptsache, sie hören auf zu schießen“

Im Donbass liefern sich prorussische Separatist*innen und die ukrainische Armee seit Jahren Kämpfe. Die Leidtragenden sind vor allem alte Menschen, die die Region nicht verlassen können.

Das Haus von Valentina Pawlowa Hydrowa, 65, und ihrem Mann Alexander Ivanowitsch Hydrow, 78, liegt an einer von Panzern und Raketen vernarbten Straße. Das Ehepaar wohnt in dem Städtchen Staniza Luhanska in der Ostukraine, fünf Kilometer vom Separatist*innengebiet und fünfundzwanzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Noch vor wenigen Jahren wohnten dort 10.000 Menschen, und die Tourist*innen kamen, um durch die prächtigen Birkenwälder entlang des Flusses Siwerskyj Donez zu wandern.

Heute, sechs Jahre nach Kriegsausbruch, ist das Gebiet vermint, und viele Bewohner*innen sind weggezogen. Das Ehepaar ist geblieben. Nicht aus freien Stücken. „Wo sollen wir denn hin?“, fragt Alexander Ivanowitsch Hydrow. „Dies ist unser Zuhause, wir haben kein anderes.“

Valentina Pawlowa Hydrowa und Alexander Ivanowitsch Hydrow sind in ihrem verminten Dorf in der Ostukraine geblieben – nicht aus freien Stücken, sondern weil sie nicht wissen, wohin sie gehen sollen.
Bild: Klaus Petrus

Alles begann im November 2013. Damals demonstrierten Tausende Ukrainer*innen auf dem Maidan-Platz in Kiew gegen Präsident Viktor Janukowitsch, der eine weitere Annäherung der Ukraine an die EU ablehnte und sich in Richtung Russland orientierte. Die Proteste endeten blutig, Janukowitsch musste Anfang des Jahres 2014 aus dem Land fliehen. Sein Nachfolger Petro Poroschenko gab sich als Patriot. Er versprach, die Ukraine an den Westen zu binden und Russland, dem „großen Bruder“ im Osten, zu trotzen. Damit konnte der Oligarch die Proteste in Kiew beenden.

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Wladimir Putin nutzte fragile Übergangszeit

Doch im Osten des Landes, wo sich viele Russland verbunden fühlen, sorgte Poroschenkos Politik für Verunsicherung. Dort galt immer noch der frühere Präsident Janukowitsch als Förderer des Donbass, wie die Region auch genannt wird. Über Poroschenko hieß es hingegen, er wolle die Menschen im Osten ihrer Identität berauben, sie „verwestlichen“. Diese fragile Übergangszeit nutzte der russische Präsident Wladimir Putin und schuf über Nacht Fakten: Zuerst im März 2014 mit der Aneignung der Halbinsel Krim im Südosten der Ukraine und dann im April mit der Unterstützung der Separatist*innen im Donbass. Um ihre Unabhängigkeit besorgt, besetzten diese die Gebiete um die Städte Donezk und Luhansk und riefen dort unabhängige „Volksrepubliken“ aus. Die ukrainische Regierung schickte daraufhin Militär in den Osten des Landes. Die Jahre 2014 und 2015 waren die bislang schlimmsten in diesem Krieg, der 1,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben und 13.000 Tote gefordert hat, unter ihnen 3.300 Zivilist*innen.

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Bis heute sind die Positionen gleich geblieben. Auf der einen Seite wollen viele Ukrainer*innen die Einheit des Landes und die Orientierung nach Westeuropa bis in den östlichsten Zipfel verteidigen; auf der anderen Seite wenden sich prorussische Separatist*innen gegen eine nationalistische Vereinnahmung aus Kiew. Dazwischen liegt eine Frontlinie, 450 Kilometer lang, die weiterhin umkämpft ist. Und an dieser Frontlinie liegt Staniza Luhanska. Als die Separatist*innen 2014 in den Ort kamen und heftige Kämpfe ausbrachen, mussten Valentina Pawlowa Hydrowa und Alexander Ivanowitsch Hydrow wochenlang in einen Bunker. Bei ihrer Rückkehr war die Wand ihres Hauses zerschossen, und das Dach hatte ein Loch. Schon 2015 bat das Ehepaar die ukrainische Regierung um Unterstützung, doch bis heute erhielt es keine Antwort. „Wie lange muss dieser Krieg denn noch dauern, bis wir ein neues Dach bekommen?“, fragt die 65-Jährige bitter.

Wie den beiden ergeht es vielen Menschen in den Dörfern dieser „Grauzone“, wie das Gebiet entlang der Frontlinie auch genannt wird. Schätzungen zufolge leben dort noch 80.000 Menschen, vor dem Krieg waren es Hunderttausende. Manche sind in den Westen in die großen Städte gezogen, andere ins Ausland. Unter den Zurückgebliebenen sind viele ältere, kranke und arme Menschen. Zwar gibt es Hilfsorganisationen, die für das Nötigste sorgen, gerade in Zeiten von Corona. Bisher wurden nur wenige Erkrankungen aus der Ostukraine gemeldet, und es sind wieder vermehrt Organisationen mit Hilfskonvois und mit Aufklärungskampagnen im Donbass tätig. Doch allzu oft sind die Bewohner*innen auf sich gestellt – und fühlen sich im Stich gelassen. Der Politik sind die meisten längst überdrüssig geworden. „Ukraine oder Russland? Hauptsache, sie hören auf zu schießen“, sagt Valentina Pawlowa Hydrowa.

Die Dörfer der „Grauzone“, wie das Gebiet entlang der Frontlinie auch genannt wird, sind vom Krieg gezeichnet und vermint. Viele sind weggezogen, zurückgeblieben sind ältere, kranke und arme Menschen.
Bild: Klaus Petrus

Ganz anders redet Alina Kocce, wohnhaft in Marjinka, ebenfalls eine Kleinstadt in der „Grauzone“. Für sie gibt es nur eine Ukraine, und diese umfasst das ganze Land. „Der Krieg darf erst ein Ende haben, wenn die Separatist*innen weg sind, deshalb bleibe ich hier“, sagt die 60-Jährige. Vor dem Krieg lebten in Marjinka 10.000 Menschen, heute sind es noch knapp 2.000. Viele Häuser sind verwaist, ebenso offizielle Gebäude wie die Post oder die Polizeistation. Nicht aber die Schule. Schon kurz nach Ausbruch des Krieges hatte Alina Kocce alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit die Kinder weiterhin zum Unterricht dürfen. „Ich habe Geld gesammelt, um die von den Panzern zerstörten Zimmer zu reparieren, Schulmaterial und Spielzeug zu kaufen.“ Die Spenden stammen von „Patriot*innen“, wie Alina Kocce betont. Mit internationalen Organisationen arbeitet sie kaum zusammen: „Die kommen und gehen, wir können uns nicht auf sie verlassen.“ Die direkte Hilfe vor Ort – auch für die
ukrainischen Soldat*innen in den Schützengräben, mit denen Alina Kocce in engem Kontakt steht – sei ihr das Wichtigste.

Wie viele andere gab die „gute Seele von Marjinka“, wie Alina Kocce auch genannt wird, bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2019 dem Schauspieler und Komödianten Wolodymyr Selenskyj die Stimme. Er versprach ein baldiges Ende des blutigen Konflikts, sagte der Korruption den Kampf an und wollte soziale Gerechtigkeit für alle. Doch passiert, meint Alina Kocce, sei bisher wenig. Kaum im Amt, habe Selenskyj die Ausgaben für Soziales gekürzt. Zu spüren hätten das vor allem die alten Menschen bekommen. Tatsächlich garantiert die ukrainische Regierung ihnen zwar eine Rente von umgerechnet 80 bis 100 Euro, doch zum Überleben reicht das kaum. „Wir müssen uns selbst helfen“, sagt Alina Kocce trotzig.

Wie es wäre, wenn es diesen Krieg nie gegeben hätte oder wenn er endlich aufhörte, darüber mag Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya nicht nachdenken. Auch die 80-Jährige wohnt nahe der Frontlinie, im Dorf Luhanske. Fast jeden Tag hört sie Schüsse oder den Donner von Mörserraketen. Dann versteckt sie sich in ihrem Häuschen, kriecht ins Bett und wartet, bis sie nur noch das Gebell ihres Hundes vernimmt, der draußen vor dem Schuppen angekettet ist. Manchmal dauert es Minuten, manchmal Stunden.

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Die 80-jährige Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya wohnt nahe der Frontlinie, im Dorf Luhanske.
Bild: Klaus Petrus

„Ohne unsere Kinder und Enkel wären wir längst verloren, es kümmert sich niemand um uns“, klagt die alte Frau. Viele Jugendliche sind aus den Dörfern fortgegangen; auch ihre einzige Tochter ist nach Ausbruch des Krieges nach Russland gezogen. Ihr Enkel Yuri lebt in Bachmut, etwa dreißig Kilometer vom Dorf entfernt. Der Kontakt ist geblieben, und manchmal schickt die Tochter ein wenig Geld nach Hause.

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Eine Mine zwischen den Kartoffeln im Garten

Horuzhevskayas Enkel arbeitet in einer Fabrik bei Kramatorsk westlich der „Grauzone“. Zu Beginn des Krieges, im Frühjahr 2014, waren auch in Kramatorsk Separatist*innen aufgetaucht, doch schon bald wurde die Stadt wieder von der ukrainischen Armee in Besitz genommen, und viele, die aus dem Donbass fliehen mussten, zogen hierher – darunter auch Unternehmer*innen, die investieren wollten. Heute laufen die Stahlfabriken und Kohlebergwerke wieder auf Hochtouren.

Schwerpunkt „Vergessene Geschichten“

Leiharbeit in Deutschland: Der Eine und der Andere
Der Friedensprozess im Jemen
Was geschah nach der Ölpest von Deepwater Horizon?
Warum wir alle nachhaltiger mit Nachrichten umgehen müssen
Glossar

Yuliya Vasilevna Horuzhevskaya kann verstehen, dass ihr Enkel nicht in Luhanske leben will. Obschon Kramatorsk keine hundert Kilometer von der Frontlinie entfernt ist, liegen Welten zwischen der Stadt und ihrem kleinen Dorf mit seinen vom Kriegsgeschehen beschädigten Straßen, den kaputten Gas- und Stromleitungen, den Sendungen des russischen Rundfunks, in denen Ukrainer*innen als Faschist*innen beschimpft werden, und den Häusern mit durchschossenen Wänden und eingefallenen Dächern. Und doch steht für die 80-Jährige fest, dass sie bleiben will. In Luhanske ist sie geboren, dort wird sie sterben. Wie Valentina Pawlowa Hydrowa und Alexander Ivanowitsch Hydrow wüsste sie auch gar nicht, wohin sie sonst gehen sollte. In die Nachbardörfer, weiter weg von den Schützengräben? In die großen Städte? In Luhanske hat die alte Frau ein Dach über dem Kopf und die Menschen um sich, die sie ihr Leben lang kennt.

Einmal, erzählt sie, habe sie im Garten Kartoffeln ausgegraben und sei dabei auf eine Mine gestoßen. Ob von der ukrainischen Armee oder prorussischen Separatist*innen, das wusste sie nicht. Was spielt das schon für eine Rolle, dachte sie und grub weiter.

Dieser Text erschien zuerst im Juli 2020 im „Amnesty Journal“ und wurde für den Schwerpunkt Vergessene Geschichten – War da was?“ der aktuellen Ausgabe 06/20 aktualisiert.

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Das Magazin der Mitglieder und Förderer von Amnesty International in Deutschland, erscheint sechsmal im Jahr. Wir machen #Menschenrechtsjournalismus: https://www.amnesty.de/journal

Bild: Klaus Petrus

Die Spuren des Krieges sind in der Ostukraine sechs Jahre nach Beginn des Konflikts allgegenwärtig. Versehrt sind nicht nur Orte und Häuser, sondern vor allem Menschen, die zurückblieben.

Klaus Petrus

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