Kolumne: Histourismus

Die Mammutjägerinnen

Frauen gehörten in die Höhle und Ötzi war weiß? Von wegen. Neue Erkenntnisse aus der Wissenschaft entkräften Mythen über die Steinzeit.

Als ich diesen Sommer an Bison-Skizzen und geheimnisvollen Glyphen vorbei durch eine Nachbildung der Steinzeithöhle im französischen Lascaux spazierte, wies mich mein Audioguide auf eine kleine, unscheinbare Zeichnung hin. Zu sehen war ein Strichmännchen mit erigiertem Penis und dem Kopf eines Vogels. Niemand weiß genau, was unsere Vorfahr:innen uns mit der Zeichnung mitteilen wollten, aber man spekuliert, es könnte sich um die Darstellung eines Rituals handeln, das durch die Einnahme von berauschenden Substanzen eingeleitet wurde. Ein prähistorischer Rave? Die Wahrheit ist: Wir wissen sehr, sehr wenig über die Urmenschen. Dennoch lieben wir es, über sie zu spekulieren – und vor allem uns selbst auf sie zu projizieren.

So wurde die heteronormative Gesellschaftsordnung, in der Männer arbeiten und Frauen zu Hause die Kinder großziehen, lange damit gerechtfertigt, dass uns diese in den Genen liege. Bei den Frühmenschen wäre eben der Mann auf die Jagd gegangen, die Frau habe die Höhle gehütet, deshalb sei das auch heute genetisch gesehen ein absolutes Erfolgsrezept. Sogar als Forschende in den Anden 2020 auf ein mitsamt Jagdwaffen begrabenes Skelett einer Frau stießen, gingen sie erst einmal davon aus, das müsse doch wohl ein Mann sein. Erst eine Laboruntersuchung überzeugte sie vom Gegenteil.

Von diesen Vorurteilen motiviert, veröffentlichte Cara Wall-Scheffler, Bio-Anthropologin an der Seattle Pacific University in den USA, im Juni dieses Jahres eine Studie, in der das Jagdverhalten indigener Gemeinschaften anhand von wissenschaftlichen Untersuchungen der vergangenen 100 Jahre ausgewertet wurde. Das Ergebnis: In fast 80 Prozent der untersuchten Gruppen jagten auch Frauen, meist Großwild. Die Forscherin fordert, nun auch weitere prähistorische Funde – die ja bis weit in das 20. Jahrhundert zumeist von Männern untersucht wurden – neu einzuordnen.

Im August ging dann eine weitere Entdeckung um die Welt: Der berühmte Steinzeitmensch Ötzi, dessen Mumie in den 1990er-Jahren in den Alpen gefunden wurde und der laut einer Rekonstruktion im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen langhaarig und weiß gewesen sein soll, war nach Aussage einer Genomanalyse in Wirklichkeit nicht nur schwer tätowiert und laktoseintolerant, sondern auch dunkelhäutig und hatte eine Glatze. Demnach sah Ötzi seiner DNA zufolge aus wie seine Vorfahren aus Anatolien, die einst nach Europa kamen. Nun wäre natürlich eine verwegene Theorie: Hatte sich der Mann in der Höhle von Lascaux vielleicht eine Vogelmaske aufgesetzt, um seinen Ötzi-ähnlichen Haarausfall vor der Welt zu verbergen? Auch das ist Spekulation. Doch eines ist ganz sicher: Das Bild des potenten weißen Steinzeit-Alpha-Mannes bröckelt.

 

Bild: IMAGO / UIG

Eine Höhlenmalerei in Spanien zeigt die Jagd auf ein Mammut.

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