Pilotprojekt Grundeinkommen

„Ich fühle mich viel leichter“

Julietta Ibishi bekommt in einem bundesweiten Modellversuch drei Jahre lang jeden Monat 1.200 Euro. Damit kann sie machen, was sie will. Wie verändert das ihr Leben? Protokoll eines Wandels.

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An der Trasse der U1 entlang, zwischen Kottbusser Tor und Moritzplatz, reihen sich die grauen Hochhäuser, für die ein Künstler einmal den liebevollen Hashtag #kotticabana kreiert hat. In einem von ihnen, ganz oben im 14. Stock, lebt Julietta Ibishi. Sie hat sehr blaue Augen, eine sanfte Stimme und trägt ihr Haar in eingedrehten, schwarzen Zöpfen. „Eine Zeit lang wollte ich unbedingt weg hier“, erzählt sie, während sie durch die Einzimmerwohnung führt, die sie mit ihrem Freund Pete teilt. „Die ganzen Junkies und so weiter. Aber eigentlich liebe ich es hier in Kreuzberg.“ Wir treten auf ihren riesigen Balkon, von dem man über die ganze Stadt blicken kann. Obwohl es fast Juli ist, regnet es in Strömen. Die dottergelbe U-Bahn rattert unter uns Richtung Norden. Im Innern ist jeder Zentimeter der Wohnzimmerwand mit Platten tapeziert, am Fenster steht ein Mischpult. Pete arbeitet als DJ. Er hat sein ganzes Leben in diesem Haus verbracht.

Julietta Ibishi dagegen ist erst 2019 nach Berlin gekommen und hat Pete beim Feiern kennengelernt. „Noch ein sehr gutes erstes Jahr vor dem Lockdown“, sagt sie lachend. Eigentlich kommt sie aus München. Manchmal hört man den warmen Einschlag der bayerischen Hauptstadt, wenn sie spricht. Alle Jobs, die Ibishi dort hatte – Erzieherin, Barista, Barkeeperin –, hörten zu Beginn der Pandemie auf zu existieren. Als das Virus sich ausbreitet, zieht sie zu ihrem Freund und fängt als Kund:innenberaterin bei einem Immobilien-Start-up an. 40 Stunden die Woche redet sie nun am Telefon über etwas, das sie anwidert. „Immer, wenn ich aufgelegt hatte, hab ich mich gefühlt wie hundert Mal geohrfeigt. Freitag abends habe ich geheult.“

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Eines Tages hört sie einen Aufruf im Radio. Gesucht werden 122 Menschen, die in einem bundesweiten Modellversuch drei Jahre lang jeden Monat ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1.200 Euro erhalten sollen. Ibishi denkt, „warum nicht?“ und füllt online eine Selbstauskunft aus. Keine Sekunde lang hält sie es für realistisch, zu den Auserwählten zu gehören. Als sie im April die Nachricht erhält, dass sie dabei ist, kann sie es nicht fassen. „Ich dachte nur: Was geht ab?“ Und: „Du musst jetzt das machen! Nein, das! “ Die Überforderung ist größer als die Vorfreude.

Der Verein hinter dem Versuch „Mein Grundeinkommen“ gestattet einigen Teilnehmer:innen, mit der Presse zu sprechen. Es dürfen nicht zu viele sein, denn wie Julietta Ibishi schon in der Sekunde, in der sie die Zusage erhält, ahnt, gibt man sein Geld anders aus, wenn man weiß, dass man dabei beobachtet wird. Dennoch erlaubt sie, dass ihre Geschichte erzählt wird. Sie möchte etwas zurückgeben für das Geschenk, das vollständig von Spender:innen finanziert wird und für das sie deshalb auch keine Steuern zahlen muss. Dreimal während des Versuchs schneidet sie sich freiwillig eine Haarsträhne ab, die sie ins Labor einsendet. Die Wissenschaftler:innen, die den Versuch begleiten, wollen anhand des im Haar nachweisbaren Cortisols messen,wie das Grundeinkommen ihre Stresshormone beeinflusst. „Am Anfang sind die sicher durch die Decke gegangen.“

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Pilotprojekt Grundeinkommen: Etwas Sinnvolles mit dem Geld machen

Sie hat Schuldgefühle. In ihrem Freundeskreis sind fast alle in der Kunst- und Musikszene unterwegs. Die Krise hat auch viele von ihnen schwer getroffen. „Ich würde mir wünschen, dass jetzt alle Menschen ein Grundeinkommen bekommen.“ Doch die meisten freuen sich für sie, überschütten sie mit Ratschlägen. Das macht auch Druck. Ibishi hat das Gefühl, es allen recht machen zu müssen. Soll sie das Ganze angehen wie eine Kunstperformance? Einfach mal etwas komplett Irres wagen? Oder eine Musikschule besuchen? Sie liebt es zu singen und jagt ihre eigene Stimme „durch den Synthesizer, bis sie selbst zu einem Instrument wird“. Aber solche Schulen sind teuer. Und eigentlich will sie Musik doch nur für sich selbst machen. Sie schläft schlecht und grübelt bis tief in die Nacht hinein. Sie fragt sich: Wer bin ich eigentlich und wie habe ich bis jetzt gelebt?

Julietta Ibishi kommt aus einer großen Familie mit wenig Geld. Ihre Eltern kamen beide als Kinder aus Pristina nach Deutschland. Damals gehörte die Stadt noch zu Serbien, heute ist sie Teil des Kosovo. Mit 16 entscheidet sich Ibishi nach dem Hauptschulabschluss, zwei Jahre lang eine Ausbildung als Kinderpflegerin zu machen. Sie möchte schnell Geld verdienen. Die Zukunft habe damals keine Rolle für sie gespielt, sagt sie. Sie arbeitet in einem Opernverein für Kinder, später geht sie für ein halbes Jahr als Aupair nach San Francisco.

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„Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mir ein Designerstück gekauft habe, das nicht secondhand ist. Ich hatte ein unheimlich schlechtes Gewissen, aber ich war auf eine Hochzeit eingeladen und es war mein 32. Geburtstag.“ Foto: Morgane Llanque

Zurück in München arbeitet sie fünf Tage die Woche in einer Grundschule und steht am Wochenende hinterm Tresen im Blitzclub, „anders kann man in München ja die Miete nicht bezahlen“. Die Arbeit macht ihr zwar Spaß, aber erfüllt sie nie ganz. Ihr Ausgleich ist schon damals Yoga. Sie liebt die Disziplin, den freien Kopf, nachdem sie wieder und wieder dieselben Bewegungen ausgeführt hat. Seit sie ihren allerersten Nanny-Job mit 16 bei einer angehenden Heilpraktikerin hatte, interessiert sie sich für alles, was mit Gesundheit zu tun hat. Als die Kinder schliefen, schlug sie die Bücher der Mutter auf. „Damals passierte etwas in mir. Ich fand das alles so faszinierend.“ Den menschlichen Körper, Akupunktur. Dass dieser Weg auch ihr offensteht, kommt ihr nicht in den Sinn. Denn die Ausbildung zur Heilpraktikerin kostet Geld. „Und das hatte ich nun mal nicht.“

Im Frühjahr 2021 ist das Geld auf einmal da. Und Julietta Ibishi will etwas Sinnvolles damit machen. Sie kündigt den Job und schreibt sich in einer Akademie für eine Heilpraktiker:innen-Ausbildung ein. Nach zwei Jahren Grundausbildung will sie sich im dritten Jahr auf Akupunktur spezialisieren. Es sei ihr bei der Entscheidung wichtig gewesen, eine Balance zu finden zwischen etwas, an dem sie Spaß hat, und etwas, das anderen Menschen hilft. Etwas, für das sie niemand verurteilt. Ob sie es damit nicht immer noch allen recht machen will, möchte ich wissen.

„Ganz von der Meinung anderer kann man sich nicht lösen“, sagt sie. „Aber das ist nicht immer etwas Schlechtes. Es kann dich auch verantwortungsvoller werden lassen.“ Der Psychologe von „Mein Grundeinkommen“, der alle Teilnehmer:innen betreut, sagte ihr, sie könne theoretisch auch einen Laster mit Oreos kaufen und die Kekse von ihrem Balkon werfen. Wichtig sei, was sie wolle. „Aber so etwas könnte ich einfach nicht“, sagt Ibishi. Es geht ihr auch um Unabhängigkeit. Nicht immer für andere arbeiten, sondern sich selbst eine Zukunft aufbauen. „Ab heute bin ich frei“, verkündet sie mir sichtlich stolz. Es ist ihr letzter Arbeitstag bei dem Start-up.

„Ich bin selbstbewusster als bei unserem letzten Treffen.“ Foto: Morgane Llanque

„Ich fühle mich viel leichter“

Als wir uns Monate später wieder treffen, ist der Sommer vorbei, aber der Himmel knallblau. Pete ist nebenan und mixt das Set für seinen nächsten Gig. Er hat Ibishi zum Start der Ausbildung einen pinken Rucksack geschenkt, an dem ein Kürbis-Anhänger aus Stoff baumelt: die Miniatur eines Kunstwerks von Kusama, Ibishis Lieblingskünstlerin und ihr „Girlcrush“, wie sie sagt. „Ihre Werke haben keine Grenzen. Man kann sich in ihnen verlieren.“

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Sie wirkt entspannt und gelassen. Ist sie es auch? „Ich bin selbstbewusster als bei unserem letzten Treffen“, sagt sie. „Ich fühle mich viel leichter.“ Sie erzählt, dass sie seit Jahren Schulden hatte, die sie nun abbezahlen konnte. „Ich habe endlich reinen Tisch gemacht. Außerdem liebe ich meine Ausbildung!“ Zwei Tage die Woche geht sie seit Mitte September zur Akademie. Den medizinischen Stoff findet sie schwer, aber vor allem spannend. Nebenbei arbeitet sie 20 Stunden die Woche bei einem Essenslieferdienst. Dort ist sie zwar wieder in einem Kund:innenchat, aber sie mag ihre Kolleg:innen und darf sich nach jeder Schicht so viel Brot mitnehmen, dass sie es an ihre Nachbar:innen verteilen kann. Sie überlegt, im letzten Jahr der Ausbildung wieder mehr zu arbeiten, um das Grundeinkommen ein Jahr anzusparen. Um damit eines Tages vielleicht ihre eigene Praxis für Akupunktur eröffnen zu können.

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Ob sie sich bei aller Vernunft nicht auch mal etwas Besonderes vom Grundeinkommen gegönnt hat? Sie lächelt und führt mich in ihr Bad. Dort hängt auf einem Kleiderbügel über der Badewanne ein elegantes, hellblaues Hemdblusenkleid. „Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mir ein Designerstück gekauft habe, das nicht secondhand ist. Ich hatte ein unheimlich schlechtes Gewissen, aber ich war auf eine Hochzeit eingeladen und es war mein 32. Geburtstag. Es war so schrecklich schön.“ Sie hat den Sommer ausgekostet: War das erste Mal überhaupt in ihrem Leben auf einem Festival und hat in München einen Abend für Radio 80000 aufgelegt.

Als wir auf ihren Balkon hinaustreten, geht die Sonnegeradeunter. Sie zeigt mir grinsend die kurze Strähne, deren abgeschnittene Hälfte in einem Berliner Labor ruht. „Sie ist schon sieben Zentimeter gewachsen. So sehe ich immer, wie lang es her ist, dass sich mein Leben verändert hat.“

Morgane Llanque

Julietta Ibishi möchte etwas zurückgeben für das Geschenk, das vollständig von Spender:innen finanziert wird und für das sie deshalb auch keine Steuern zahlen muss.

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