Neues Buch von Maja Göpel

„Auch in einer Niedrigenergiewelt gäbe es beheizte Wohnungen“

In ihrem neuen Buch zeigt die Politökonomin Maja Göpel, wie die Transformation gelingen kann. Zum Beispiel im Umgang mit unseren Ressourcen. Ein Auszug.

Heute liegt der durchschnittliche Energieverbrauch pro Mensch und Jahr weltweit bei fast achtzig Gigajoule (1). Dieser Anstieg erklärt sich natürlich aus der ständig wachsenden Menge an Maschinen, die wir überall einsetzen, um uns Arbeit abzunehmen, sie zu beschleunigen oder zu erleichtern. Der US-amerikanische Architekt, Designer und Autor Richard Buckminster Fuller hatte schon 1961 das Konzept des „Energiesklaven“ erfunden und meinte damit ein „unorganisches Energieverarbeitungsgerät, das die Externalisierung einer internen Funktion des Menschen bietet“ (2). Der Physiker Harald Lesch hat dazu eine anschauliche Berechnung angestellt: Stellen Sie sich vor, Sie erzeugen Energie, indem Sie zehn Stunden lang auf einem Ergometer 100 Watt pro Stunde erstrampeln. Wenn Sie das mit dem in Deutschland üblichen durchschnittlichen Energieverbrauch einer Person pro Tag vergleichen, dann hätten Sie so gerade eben ein Hundertstel davon gedeckt (3).

Abhängigkeit von externer Energie beenden

Machen wir uns abhängig von diesen durch externe Energie gesteuerten Prozessen, werden wir abhängig davon, die notwendige Energie dafür bereitzustellen. Mit all den Effekten auf unsere Ökosysteme, die wir heute eindrucksvoll beobachten. Und mit all den nicht weniger eindrucksvollen Ungerechtigkeiten. Nehmen wir die achtzig Gigajoule, die heute im Schnitt jeder Mensch auf der Welt pro Jahr verbraucht. Wenn Sie in Deutschland leben, werden Sie damit nicht weit kommen. Tatsächlich verbraucht die Bevölkerung Deutschlands pro Jahr pro Kopf etwa das Doppelte des weltweiten Durchschnitts (4). In einer Welt mit unerschöpflichen Ressourcen würde man Gerechtigkeit dadurch herstellen, dass alle, die mit ihrem Verbrauch noch hinterherhinken, möglichst schnell zur Spitze aufschließen sollen. Genau diese Strategie haben wir bisher offiziell verfolgt.

Selbst in den Globalen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen von 2015 wird noch angestrebt, dass die unteren vierzig Prozent der Bevölkerung einer Gesellschaft und der Welt eben verhältnismäßig schneller materiellen Zuwachs erhalten sollten als der Rest (5). Dass irgendwer mal genug haben könnte, taucht auch hier in keiner Weise auf. Obwohl allein der Vorschlag ziemlich gewagt ist im Angesicht der naturwissenschaftlichen Prognosen über den Zustand der Erde. Geradezu utopisch.

Maja Göpel

Die Nachhaltigkeitswissenschaftlerin Maja Göpel ist Honorarprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg, Mitglied des Club of Rome und Mit-Initiatorin von „Scientists for Future“. Der Text ist ein gekürzter Auszug aus ihrem Ende September bei Ullstein erschienenen Buch „Wir können auch anders. Aufbruch in die Welt von morgen“ (dort mit Quellennachweisen).
Foto: Anja Weber

Mindeststandards festlegen für 10 Milliarden Menschen

Was wäre denn realistisch? Dieser Frage sind Wissenschaftler:innen um die Wirtschaftsökologin Julia Steinberger an der Universität Leeds im Projekt „Living Well Within Limits“ nachgegangen. Sie wollten herausfinden, wie ein Leben aussehen kann, das für alle gut ist und sich dennoch innerhalb der planetaren Grenzen bewegt. Für ein globales Szenario haben sie berechnet, welche Mindeststandards es an Versorgung, Infrastruktur und Ausstattung dafür geben müsste und wie viel Energie nötig wäre, um diese Standards zu erfüllen (6). Überraschendes Ergebnis: Legt man diese Mindeststandards an, könnten selbst mit dem Stand heutiger Technik zehn Milliarden Menschen anständig auf der Erde leben, ohne dass der weltweite Energieverbrauch steigen müsste, er könnte sogar fallen. Wir bräuchten nicht mehr Energie, als wir Anfang der 1960er-Jahre zur Verfügung hatten.

Auch auf enorm: Neues Leben in alten Dörfern

Wie würde ein solches Leben aussehen?

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Natürlich gäbe es auch in so einer Niedrigenergiewelt beheizte Wohnungen, fließendes Wasser, Handys, Kühlschränke, Internet, Krankenhäuser, Schulen. Es ist eher die Art und Weise, wie diese Bedürfnisse befriedigt werden, die diese Welt so sehr von unserer unterscheidet. So stehen in diesem Szenario jeder Person nur fünfzehn Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Heute sind es in Deutschland im Schnitt dreimal so viel (7). Jede:r kann täglich fünfzig Liter Wasser verbrauchen, deutlich weniger als die Hälfte unseres aktuellen Verbrauchs. Der individuelle Fleischkonsum ist auf fünfzehn Kilo pro Jahr beschränkt und damit auf ein Viertel dessen, was wir im Schnitt pro Jahr verzehren (8).

Eine solche Transformation hätte nicht nur den Vorteil, dass wir damit die Erderhitzung verlangsamen. Mit der Menge an erneuerbarer Energie, die wir weltweit heute schon erzeugen, hätten wir in diesem Szenario bereits die Hälfte unseres Bedarfs gedeckt. Zurzeit sind es noch weniger als ein Fünftel. In einer solchen Welt würden sich die Lebensumstände für viele Millionen Menschen im Globalen Süden, die heute ärmlicher leben, die schlechter wohnen, sich schlechter ernähren und bilden können und weniger ärztliche Versorgung haben, stark verbessern. Für viele Menschen im Globalen Norden hätte sie wohl eine Verringerung der Arbeitszeit zur Folge und würde den Kopf und die Hände frei machen für Dinge, die uns bisher entgangen sind in unseren „Tretmühlen des Glücks“, wie der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger sie nennt (9). Es entstünde eine Welt, in der zehn Milliarden Menschen alle in etwa gleich viel haben und es uns nicht den Planeten kostet. Wäre das nicht eine Anstrengung wert?

Maja Göpel: Gesunde Ökosysteme sichern unsere Freiheit

Sie zögern? Das kann ich verstehen. Ich glaube nicht, dass wir erst zu einem anderen Miteinander kommen, wenn alle über die gleiche Menge an Gegenständen und Quadratmetern verfügen. Aber das hatten Steinberger und Kolleg:innen mit ihrem Szenario auch nicht im Sinn. Sie wollten zeigen, dass die Erde genug hergibt für ein gutes Leben für alle. Wir müssten nur anfangen, Dinge anders herzustellen, zu nutzen, zu teilen, Innovationen darauf auszurichten, dass sie hohe Lebensqualität bei geringstem ökologischem Fußabdruck verfolgen. Das Ziel einer langfristig sicheren Versorgung mit Nahrung und Ressourcen ist von sich regenerierenden Ökosystemen abhängig. Diese Freiheit sollten wir meiner Meinung nach nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Weiterdenken: Klimaüberblick und Systemdenken

Aktuelle Medienanalysen zur Klimakrise sammelt die Seite coveringclimatenow.org; was welches Land tut scannt der climateactiontracker.org

Donella H. Meadows: Die Grenzen des Denkens. Wie wir sie mit System erkennen und überwinden können, Oekom 2019, 22 Euro.

Liste der Fußnoten:

  • Fußnote 1: Vgl. der Chart von Our Finite World: »World per Capita Energy Consumption«, https://ourfiniteworld.com/2012/03/12/world‐ nergy‐consumption‐since‐1820‐in‐charts/ (letzter Aufruf: 1. 6. 2022).
  • Fußnote 2: Die Idee ist, auf der Grundlage der Anzahl Kilojoule, die ein Mensch pro Tag für Aktivitäten aufbringen kann, auszurechnen, wie viele Personen wir eigentlich für die Arbeit bräuchten, die unsere Lebensstile in Anspruch nehmen. Für die ersten Überlegungen und die Definition siehe Buckminster Fuller: The World Game. Integrative Resource Utilization Tool, Carbondale (Illinois) 1961, hier S. 99. Ein Comic, der die Idee dahinter wunderbar illustriert, findet sich hier: https://www.stuartmcmillen.com/de/comic/energiesklaven/#page‐6 (letzter Aufruf: 1. 6. 2022)
  • Fußnote 3: Vgl. Harald Lesch/Karlheinz A. Geißler/Jonas Geißler: Alles eine Frage der Zeit. Warum die Zeit‐ist‐Geld‐Logik Mensch und Natur teuer zu stehen kommt, München 2021, S. 12 f.
  • Fußnote 4: Alle Angaben stammen aus einer Online‐Publikation zum Energie‐ verbrauch pro Kopf bei »Our World in Data«, einem Statistikprojekt der Universität Oxford: https://ourworldindata.org/per‐capita‐energy (letzter Aufruf: 1. 6. 2022).
  • Fußnote 5: Siehe von den 17 Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 der Ver‐ einten Nationen das Unterziel 10.1 zur Reduktion von Ungleich‐ heiten: »Bis 2030 nach und nach ein über dem nationalen Durch‐ schnitt liegendes Einkommenswachstum der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung erreichen und aufrechterhalten«, https://sdg‐in‐ dikatoren.de/10/ (letzter Aufruf: 1. 6. 2022).
  • Fußnote 6: Siehe die Webpräsenz zum Projekt: https://lili.leeds.ac.uk; sowie den Aufsatz von Joel Millward‐Hopkins/Julia K. Steinberger: »Pro‐ viding decent living with minimum energy: A global scenario«, in: Global Environmental Change, November 2020, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0959378020307512 (letzter Aufruf: 1. 6. 2022).
  • Fußnote 7: Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person betrug im Jahr 2020 in Deutschland 47,4 Quadratmeter. Vgl. das Umweltbundesamt: https://www.umweltbundesamt.de/daten/private‐haushalte‐kon‐ sum/wohnen/wohnflaeche#zahl‐der‐wohnungen‐gestiegen (letzter Aufruf: 1. 6. 2022).
  • Fußnote 8: Der Pro‐Kopf‐Verzehr von Fleisch lag in Deutschland im Jahr 2020 bei 57,4 Kilo. Vgl. das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: https://www.bmel‐statistik.de/ernaehrung‐fischerei/ versorgungsbilanzen/fleisch (letzter Aufruf: 1. 6. 2022).
  • Fußnote 9: Mathias Binswanger: Die Tretmühlen des Glücks. Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun?, Freiburg 2006.

IMAGO / photothek

Maja Göpel ist überzeugt: Wir können auch anders. In ihrem gleichnamigen Buch analysiert sie notwendige Transformationsprozesse.

Maja Göpel

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