Politpop: Demokratiereform

„Schluss mit dem Gemurmel“

Die Demokratie ist unfähig, die Klimakrise zu bewältigen? Von wegen. Wir müssen sie nur revolutionieren, fordert die Historikerin Hedwig Richter in ihrem neuen Buch.

Rechtsruck, Kriege, ökologische Krise. Viele sehen die Demokratien haltlos überfordert. Wie weiter?

Hedwig Richter: Unsere Demokratien müssen Meister in Sachen Krisenbewältigung werden. Die Klima– und die Biodiversitätskrise sind monströs. Nur wenn wir sie lösen, können wir unsere Demokratie überhaupt retten. Denn Demokratien sind angewiesen auf die geordnete Welt der Parlamente. Wenn in einer Kaskade von Notständen nur noch das Technische Hilfswerk und der Katastrophenschutz regieren, kann das kaum gut ausgehen für eine Demokratie.

Warum passiert dann so wenig?

Das habe ich mich mit meinem Co-Autor Bernd Ulrich auch gefragt, und wir sind auf ein Kernproblem der westlichen Gesellschaften gestoßen: Die Menschen haben nicht mehr das Gefühl, überhaupt etwas bewirken zu können. Aber diese Haltung, dass man etwas ändern kann, ist zentral.

Die Menschen müssen wieder Selbstwirksamkeit erleben?

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Genau, und das ökologische Projekt selbst kann der Motor sein. Denn hier kann jede:r etwas tun: umweltbewusst leben, sich mit anderen zusammenschließen, auf allen Ebenen Druck auf die Regierung machen, in der Kommunalpolitik, in der Parteiarbeit, in Bürger:innenräten, auf Demonstrationen, mit empörten Briefen an Abgeordnete. Letztlich geht es um Selbstermächtigung. Statt uns unaufgeklärt bequem im Weiter-so einzurichten, müssen wir uns befreien aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit; Verantwortung übernehmen für unser privates und politisches Leben. Wir nennen das die ökologische Revolution der Demokratie.

Das klingt nach dem alten Fingerzeig auf Konsument:innen: Reduziert mal euren ökologischen Fußabdruck. Inzwischen geht der Blick auf die Strukturen, die großen Hebel, die nur Wirtschaft und Politik umlegen können.

Natürlich zählt beides. Konzerne müssen Verantwortung übernehmen und viel stärker reguliert werden, die Politik muss den Menschen mit klaren Regeln die Last altruistischer Alltagsentscheidungen von den Schultern nehmen. Aber so gefangen wir auch in all den klimaschädlichen Strukturen sind – wir haben viel mehr Handlungsspielraum und Einfluss, als die meisten glauben. Besonders als Bürger:innen. Das sehen wir auch an der Politik der Ampel, die unter dem Vorbehalt regiert: Ach, wir können nichts machen, die Menschen wollen es ja nicht. Als müsse sie sich jede Klimamaßnahme per Plebiszit bestätigen lassen. Das zeigt, wie wichtig die Signale sind, die Bürger:innen der Politik senden.

Hedwig Richter ist Professorin für Demokratiegeschichte an der Hochschule der Bundeswehr in München. Mit Bernd Ulrich, Redakteur der Zeit, veröffentlichte sie im April 2024 das Buch Demokratie und Revolution – Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit (Kiepenheuer & Witsch).

Sollte sich eine Regierung nicht um Mehrheiten bemühen?

Sicher, aber Demokratie ist nicht gleich Demoskopie. In einer repräsentativen Demokratie ist die Regierung keineswegs davon abhängig, ob die Bevölkerung tagesaktuell zustimmt oder nicht. Wir geben ja bewusst Verantwortung an sie ab. Die Geschichte der Demokratie ist voller Beispiele, bei denen Regierungen Entscheidungen gegen die aktuelle Stimmung trafen – und damit langfristig durchaus Mehrheiten gewinnen konnten.

Zum Beispiel?

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Willy Brandt hat trotz großer Empörung seine Ostpolitik durchgesetzt, gerade mal 38 Prozent der Wähler:innen waren zunächst für seinen Kurs. Doch schon nach einiger Zeit hatte Brandt die Mehrheit mit seinen Taten überzeugt. Demokratie bedeutet eben nicht nur, ungebremst seinen Willen ausdrücken zu können, sie bedeutet noch nicht mal allein die Mehrheitsherrschaft. Sondern auf ganz vielen Ebenen bedeutet sie auch Einschränkung. Doch dieses Bewusstsein ist aus der Mode gekommen. Wir leben immer noch im Modus der vergangenen 70 Jahre, in denen jedes Problem mit Wachstum gelöst wurde. Jetzt müssen wir die Fließrichtung der Demokratie ändern. Das heißt: Ziel kann nicht mehr sein, dass es unseren Kindern mal besser geht, sondern dass unsere Kinder weiterhin ein gutes Leben haben. Dafür brauchen wir eine Tugend, die etwas altmodisch klingt: Disziplin. Wir müssen wieder lernen, Zumutungen hinnehmen und erkennen, dass sich diese lohnen. Denn sie retten unsere Zukunft. Stattdessen dominiert die Haltung: Die Demokratie soll liefern.

Woran liegt das?

Ein Grund ist unser Verständnis von Demokratie. Wir verbinden sie mit Konsum, mit Wohlstand. Tatsächlich ist die Entstehung der Demokratie eng verwoben mit der fossilen Industrialisierung: Erst mit der Kohle hatten die Menschen große Mengen Energie zur Verfügung. Sie ließ sich leicht transportieren und befeuerte selbst die Eisenbahn, die sie im Land verteilte. So entstand im 19. Jahrhundert nicht nur für das Bürger:innentum, sondern auch für die arme Bevölkerung ein neuer Lebensstandard, ohne den die Demokratisierung nicht denkbar gewesen wäre. Erstmals konnte sich die breite Mehrheit ausreichend Nahrung leisten, es gab Schulen und Universitäten, die Menschen hatten viel mehr Bildung und Zeit, um sich zu informieren. Zugleich machte die Industrialisierung den Arbeiter stark, später die Arbeiterin. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“, das war die Erkenntnis der Arbeiter:innenschaft. Die Industrialisierung hat auch die unteren Schichten politisch ermächtigt …

… die Demokratie kam in Fahrt …

… und wurde dabei immer enger mit Wohlstand verknüpft. In den 1960er-Jahren sagte Kanzler Ludwig Erhard: Wer die freie Marktwirtschaft angreift, greift die Demokratie an. Dieses Verhältnis ist brutal ins Zerstörerische gekippt. Konsum bedeutete nicht mehr nur gutes Leben und Freiheit, sondern die Freiheit zu jährlichen Flugurlaubsreisen, täglichem Schnitzel, zu einem Auto, das jederzeit zur Verfügung steht. Ausufernder Konsum und eine exzeptionelle Bequemlichkeit halten heute viele für eine Art Menschenrecht – und die Politik bestätigt das, indem sie nicht wagt, daran zu rühren.

Ist Demokratie auch mit viel weniger Wohlstand denkbar?

Absolut. In den 1970er-, 1980er-Jahren zum Beispiel war der Wohlstand in Deutschland viel geringer. Trotzdem gab es einen starken Sozialstaat, ein gut ausgebautes Gesundheits- und Bildungssystem. Demokratie und zerstörerisches Wachstum können getrennt werden. Dafür aus dem Kapitalismus auszusteigen, halte ich für illusionär. Wir leben in einer potenten Marktwirtschaft, das Wirtschaftssystem ist stark reguliert, der Sozialstaat gehört dazu – wir sollten den Kapitalismus lieber an die Kandare für die Revolution nehmen, als uns in pathetischen antikapitalistischen Kämpfen zu erschöpfen. Wie soll die Abschaffung des Kapitalismus aussehen? Gehen wir alle in den Generalstreik? Abgesehen davon, dass wir überhaupt gar keine Zeit mehr für einen solchen Systemwechsel hätten …

… weil sich die Klimakrise dramatisch beschleunigt.

Ja, in einem Höllentempo. Wir müssen in ganz kurzer Zeit den ökologischen Umbau unserer Ökonomie schaffen und gleichzeitig die Folgen von Klimakrise und Artensterben in den Griff kriegen. Also überall Klimaanlagen einbauen und dabei überall klimaneutral werden. Bei früheren Krisen, im Kalten Krieg etwa, hatten wir Zeit – auf die Straße zu gehen, über Abrüstung zu diskutieren, Verhandlungen zu führen. Jeder Tag, der verging, war ein Tag ohne Atomkrieg, ohne das Worst-Case-Szenario. Heute ist jeder Tag wie ein Brandbeschleuniger, der unsere Optionen für morgen drastisch verringert, das Worst-Case-Szenario wahrscheinlicher macht. Deshalb greift auch die alte Grammatik der Krisenbewältigung nicht mehr: Ruhe der Abwägung, Maßstab der Mitte, misstraue lauten Stimmen, misstraue Ideologien, sei nicht radikal. Die Krisen des 21. Jahrhunderts brauchen eine neue Grammatik: Sei radikal, sei laut, denke revolutionär. Schluss mit dem Alles-halb-so-wild-Gemurmel. Unruhe ist die erste Bürger:innenpflicht.

Das klingt fast bedrohlich.

Es wäre sinnvoll, unser neues Verständnis von Bürger:innen mit alten, konservativ anmutenden demokratischen Tugenden zu kombinieren: Disziplin, Anstand, Solidarität, Maßhalten. Die Geschichte der Demokratie hatte schon immer unglaublich viel mit Disziplin zu tun: Ich nehme mich zurück, zahle Steuern, ich respektiere die Rechte und Freiheiten der anderen, im Notfall gilt es sogar, die Demokratie mit der Waffe zu verteidigen. Die Demokratie hat diese Disziplin institutionalisiert, überall gibt es Einschränkungen: die Checks and Balances, der Parlamentarismus, die Repräsentation, der Rechtsstaat, die Ewigkeitsklauseln im Grundgesetz, die kein Mehrheitsentscheid aufheben kann. Von Artikel 1 – die Würde des Menschen ist unantastbar – bis zum föderalen System. Doch es ist aus dem Blick geraten, dass Einschränkungen und Zumutungen zu unserer Demokratie gehören. Und die Politik sendet völlig falsche Signale, indem sie sagt: Leute, wir haben ein riesiges ökologisches Problem, wir werden es lösen, aber euch wird es nichts kosten.

Wie geht es besser?

„Sei radikal, sei laut, denke revolutionär. (…) Unruhe ist die erste Bürger:innenpflicht
Hedwig Richter

Demokratie ist eine Staatsform, die davon ausgeht, dass Menschen prinzipiell gut sein wollen und prinzipiell vernunftbegabt sind. Warum reden Politiker:innen nicht Klartext? Sprechen die Bürger:innen als autonome, aufgeklärte Erwachsene an, die bereit sind, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, unvermeidbare Zumutungen mitzutragen, sich begeistern lassen für den Umbau? Und warum packt die Politik nicht selbst diesen Umbau an?

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Auf eine Revolution der Demokratie. Revolution bedeutet allerdings keineswegs Barrikadenkämpfe, Gewalt und Zerstörung, genauso wenig ist Revolution immer ein Aufstand von unten gegen oben. Das ist häufig einfach Revolutionskitsch. Reformen sind oft viel revolutionärer, indem sie eine Gesellschaft nachhaltig maßgeblich verändern. Das zeigen die Einführung des Sozialstaates, die Bildungssreformen, die Ausweitung des Wahlrechts, die Frauengeschichte. Frauen zum Beispiel sind dabei in der Regel eben nicht auf die Barrikaden gegangen, sie haben erfolgreich mit friedlichen Mitteln gekämpft, Briefen und Vereinsgründungen etwa. All das zeigt: Wir können radikale Veränderungen schaffen, ohne dass die Gesellschaft brennt.

Was schlagen Sie konkret vor?

Wir haben keinen politikwissenschaftlichen Ratgeber geschrieben. Wir gehen der Frage nach, warum so wenig passiert, obwohl wir in diesem großartigen System der Demokratie leben. Die Antworten darauf sind ein Hinweis, was sich grundlegend ändern sollte, um die Krisen zu bewältigen: ein neues Bild von Bürgerlichkeit, von Verantwortung, von einem Staat, der Menschen ernst nimmt, von einer mutigen und radikalen Politik.

Foto: Studio Fabian Hammer

Hedwig Richter, Demokratiehistorikerin an der Hochschule der Bundeswehr in München

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