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Mitten im quirligen Stadtzentrum der Mittelmeermetropole Marseille liegt La Plage des Catalans: ein beliebter, nur 150 Meter langer Sandstrand, zwischen einer Baustelle, aus der einmal ein Sterne-Hotel werden soll, und den vergilbten Sozialwohnungsblöcken aus Nachkriegszeiten. Einige Anwohner:innen haben an der Meerespromenade ihren festen Treffpunkt für ein Schwätzchen, einen Kaffee oder eine Zigarette. Im Sommer suchen hier viele Abkühlung, im Winter ist es ruhiger. Seit Ende vergangenen Jahres stechen Menschen in Neoprenanzügen heraus. Mit Kameras ausgestattet, sind sie auf dem Weg zu einem Museum im Meer.
Dort, 100 Meter zwischen dem Strand und einer großen weißen Boje, liegen versenkte Kunstwerke. Wer hinausschwimmt, kann sie auch von oben ohne Taucherbrille erkennen. Auf dem Meeresgrund der Hafenstadt, in fünf Metern Tiefe, stehen acht Statuen. Von grün-grauen Algen überzogen und vom Lichtspiel der Sonne verzerrt scheinen sie sich zu bewegen. Wer sie näher betrachten möchte, muss hinabtauchen. Den Kopf unter Wasser kommt einem unweigerlich ein Gedanke in den Sinn: Atlantis, die versunkene Stadt.
Unterwassermuseum: Kunst als Warnung
Doch warum steht die Kunst auf dem Meeresgrund? „Ich will meiner Stadt etwas zurückgeben“, sagt Antony Lacanaud, Inhaber zahlreicher Restaurants, Hobbytaucher und Direktor des Musée Subaquatique de Marseille (MSM), dem Unterwassermuseum von Marseille. Rechtlich gesehen ist das Museum ein Start-up. Allerdings ist der Eintritt kostenlos, das Projekt also eine gemeinwohlorientierte Attraktion für Bewohner:innen und Tourist:innen. Ein Viertel der Kosten von 400.000 Euro trägt nach Berichten der Lokalzeitung Marsactu die Stadt Marseille, der Rest kommt durch private Spenden und Partnerorganisationen zusammen. Die Kunst soll vor allem eine Warnung sein: Es steht nicht gut um die französischen Küsten.
Normalerweise hat Menschengemachtes im Meer kein gutes Image. Genau damit hat der britische Künstler Jason deCaires Taylor gebrochen. Im Laufe seiner Karriere verschrieb er sich umweltfreundlicher Kunst. Er entwickelte das Konzept der Unterwasserstatuen und hat es bereits im Museo Atlántico Lanzarote und im Museo Subacuático de Arte (MUSA) in Cancún umgesetzt. Antony Lacanaud entdeckte Taylors Konzept auf einer Reise und holte es nach Südfrankreich.
Denn, wie im ganzen Mittelmeer, gibt es hier von Massentourismus oder Überfischung verödete Unterwasser-Wüsten, in denen weder Pflanzen noch Tiere leben können. Korallen und Algen finden keinen Nährboden, Weichtiere und Fische suchen vergeblich nach Schutz vor Fressfeinden oder Rückzugsmöglichkeiten, um sich fortzupflanzen. Am wohlsten fühlen sie sich in dichten, verwinkelten, felsigen Milieus. Die Skulpturen als künstlich angelegte Riffe helfen bei der Entwicklung einer solchen Umgebung. Auf den extra angerauten Oberflächen der Statuen können sich Mikroorganismen und Korallen ansiedeln. Die Nahrungskette wird wiederhergestellt: Fische werden diesem neu aufkeimenden Leben folgen und dadurch Meeressäugetiere, etwa Delfine, und Seevögel anlocken. Aus Beton wird ein neues Biotop. Darauf lassen die Erfolge aus den Vorgängerprojekten schließen: Vor vier Jahren wurden 35 Statuen an der Küste vor Lanzarote versenkt. Seitdem hat sich nach Angaben des Museums die Korallen-Population verdoppelt. Jetzt gibt es 60 Prozent mehr Mollusken (Muscheln, Schnecken, Tintenfische) und 20 Prozent mehr Fische als zuvor.
In Marseille stehen die Skulpturen vor dem populärsten Strand der Stadt. In den Sommermonaten besuchen ihn jeden Tag Tausende Menschen. Wieso wurde gerade dieser Ort für die Kunst gewählt? Für Museumsdirektor Antony Lacanaud liegt in dieser „Strandkultur“ der Schlüssel: „Sie ist das soziale Bindeglied, durch das sich die verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft mischen.“ An diesem Strand seien alle gleich. Er begreift es als Chance, so viele unterschiedliche Menschen auf einmal mit seiner Idee erreichen zu können: Die Kunst soll ihnen allen die Notwendigkeit des Schutzes ihrer Küste bewusst machen und sie für mögliche Folgen der Umwelt- und Klimakrise sensibilisieren.
Neptun, Nymphen und ein Eisbär
Die Skulpturen in Marseille wurden nicht von Jason deCaires Taylor selbst geschaffen, sondern stammen von zehn anderen Künstler:innen aus Frankreich. Bei der Gestaltung der Statuen wurde ihnen freie Hand gelassen, solange sie die entscheidenden Merkmale, die Taylor herausgearbeitet hat, respektieren: Die Skulpturen müssen aus ph-neutralem und inertem, das heißt chemisch nicht reagierendem Beton sein, damit sich Algen entwickeln können. Im Idealfall haben sie auch Hohlräume, die der Meeresfauna Unterschlupf bieten.
Neben der Statue eines Baums, der eine Stadt zu verschlingen scheint, und überdimensionalen Meerestieren warten mythische Gestalten im Ozean, etwa Neptun oder die Nereiden. Evelyne Galinksy hat diese Meeresnymphen geschaffen. Der Legende nach beschützen sie Seeleute. Schöpfer des Eisbären, der unweit der Nymphen steht, ist Michel Audiard. Er spielt mit ambivalenter Symbolik: Seine Skulptur ist nicht nur eine Hommage an den Bären von François Pompon im Pariser Musée d’Orsay, der Eisbär drückt auch eine Warnung aus: Sein Platz ist nicht auf dem Meeresgrund, sondern auf Eis – dessen Zerstörung gefährlich voranschreitet.
Das Museum hat im November 2020 eröffnet, mitten im zweiten harten Lockdown Frankreichs. Eigentlich hätte es am 8. Juni 2020, am Welttag der Ozeane, eingeweiht werden sollen. Nicht nur wegen der Pandemie hat sich das verzögert.
Juli 2018: Der Küstenschutz-Verband der Region Bouches-du-Rhône, zu dem auch Anwohner:innen des Strandabschnittes gehören, hält die Zusage der Stadt für „zu voreilig“ und nennt es einen „ökologischen und sicherheitstechnischen Irrglauben, dessen künstlerischer Inhalt unklar“ sei. Was mit regelmäßigen Demonstrationen am Strand und vor dem Rathaus beginnt, endet vor Gericht. Ökologische Gründe gegen das Projekt nennt der Verband in der Klage keine. Die Sorge gilt vor allem den Besucher:innen. Deren Sicherheit sei, so heißt es, durch die voraussichtlich zu hohe Besucher:innenzahl gefährdet. Laut der französischen Organisation zur öffentlichen Gesundheitspflege gilt Ertrinken als führende Todesursache bei Unfällen des täglichen Lebens, vor allem bei Unter-25-Jährigen.
Das Team des Museums wehrt sich gegen die Vorwürfe und präsentiert positive Bilanzen anderer Unterwassermuseen und verweist auf den Vorbildcharakter der Einrichtung. Auch die lokale Prominenz macht sich für das Projekt stark: Geneviève Maillet, eine bekannte Fachanwältin für See- und Umweltrecht, und Morgan Bourc’his, dreifacher Weltmeister im Apnoetauchen, sind Pat:innen des Museums.
Schließlich einigen sich beide Parteien auf neue Sicherheitsmaßnahmen. Im Sommer werden Tauchclubs der Region geführte Tauchgänge anbieten. Außerdem werden Bojen befestigt, die als Ausruhmöglichkeit dienen. Ein Überwachungsausschuss ist in Planung, Rettungswesten und Schwimmbretter sollen kostenlos zur Verfügung gestellt werden.
Unterwassermuseum: Inspiration für Umweltschutz
Das Mediterranean Institute of Oceanography (MIO) im südfranzösischen Luminy wird für 15 Jahre mit der Überwachung des Unterwassermuseums beauftragt. Sandrine Ruitton, Expertin für Meeresökologie und Biodiversität an dem Institut, versichert: Das Museum dürfe der Umwelt nicht schaden. Daher wird die Entwicklung unter Wasser überwacht und regelmäßig öffentlich Bericht erstattet: über die Ichthyofauna, den Gesamtbestand aller Fische, die Makrofauna, die Bodentiere, Besiedlung und Zustand der Statuen und das Wachstum von Neptungras. Die Pflanze gilt als Indikator für hohe Wasserqualität. Das Projekt sei erst nach einer Umweltverträglichkeitsprüfung genehmigt worden, sagt Ruitton. „Die Regierungsbehörden sind sehr vorsichtig, bevor sie eine Genehmigung erteilen und die Vorschriften sind sehr streng.“ Dass zu viele Besucher:innen das Biotop stören könnten, befürchtet sie nicht. Der kurze Strand und fehlende Parkplätze begrenzen den Zugang zu den Statuen, motorisierte Schifffahrt und Fischerei sind ohnehin verboten. Ruitton: „Bedenken für die Umwelt habe ich nicht, im Gegenteil, das Museum wird das Ökosystem stützen und bestenfalls die Menschen dafür sensibilisieren.“
In Cannes und in der Lagune von Ajaccio auf Korsika könnten bald ähnliche Installationen entstehen. Marseille hätte dann noch immer das erste Unterwassermuseum des Mittelmeeres, aber nicht mehr das einzige.
Dieser Text erschien online am 25. Mai 2021 und in der Ausgabe 02/2021.
Auf dem Meeresgrund der Hafenstadt Marseille, in fünf Metern Tiefe, stehen acht Statuen. Wer die Skulpturen näher betrachten möchte, muss hinabtauchen. Den Kopf unter Wasser kommt einem unweigerlich ein Gedanke in den Sinn: Atlantis, die versunkene Stadt.