Als die berühmteste Kirche der Welt auf der Seine-Insel Île de la Cité inmitten von Paris Feuer fing, weinten und beteten die Menschen. Kurze Zeit später flatterten die gewagtesten Entwürfe von Architekturbüros aus aller Welt in das Pariser Rathaus, um den abgebrannten Dachstuhl der Kathedrale neu aufgebaut ins 21. Jahrhundert zu befördern. Darunter waren die Pläne des französischen Architekten Vincent Callebaut: Er träumte von einem Gewächshaus aus Kristall auf dem Dach der Notre-Dame. In einem Artikel über sein Projekt schrieb Callebaut: „Dieses Feuer ist ein Echo der gegenwärtigen Identitätskrise der Kirche sowie der ökologischen Herausforderungen, denen wir durch den Klimawandel gegenüberstehen.“
Seine Idee rief im Netz vielfach Entzücken hervor und wurde Tausende Male geteilt. Sie passt in den Zeitgeist eines neuen Paris, das eine nachhaltige und soziale Stadt sein will: das Paris von Bürgermeisterin Anne Hidalgo.
Unter ihrer Führung erlebt die französische Hauptstadt eine grüne Wiedergeburt: Im Kampf gegen Hitzeinseln lässt sie derzeit um den Eiffelturm, vor dem Rathaus und auf den Champs-Élysées Parks und Wälder anlegen. Im Juli hat sie ein Tempolimit von 30 Kilometern pro Stunde für ganz Paris durchgesetzt. Parallel dazu wird ein Großteil der Innenstadt verkehrsberuhigt. Wohin das Auge sieht, pesen Menschen auf den grünen und himmelblauen Leih-Fahrrädern der Stadt durch die Straßen. Eine Jahreskarte kostet nur 29 Euro.
Auch das Ufer der Seine, einst eine halbe Autobahn, wird nach und nach zur Flanierpromenade mit Stränden und Sportanlagen umgebaut. An der Brücke Pont Marie spielt ein Frauen-Trio fröhlichen Jazz vor dem Péniche Marcounet, einem Restaurant auf einem Lastkahn, vor dem die Gäste auf von Dünengras gesäumten Euro-Paletten einen Aperó zu sich nehmen. Die Straße davor hat sich durch Kreide in ein Kunstwerk verwandelt: zwei in die Unendlichkeit gestreckte Arme reichen sich die Hände.
All das in einer Stadt, die noch 2015 auf der Liste der Orte mit der weltweit schlimmsten Luftverschmutzung kurzzeitig vor Neu-Delhi den ersten Platz belegte und den Ruf genießt, fast keine Grünflächen zu besitzen. Hidalgo will die Stadt den Autos entreißen und den Pariser:innen zurückzugeben. Aber wirklich allen Pariser:innen?
Ein digitales Symposium über die Zukunft der Stadt im Juli. „Paris hatte bis in die 1970er nie einen Bürgermeister, es war im Besitz des Élysée-Palasts, keine Stadt für die Menschen“, sagt der Jurist Olivier Renaudie. Ansonsten sei es bei der Stadtplanung – wie im Rest der Welt – vor allem um die Vormacht des Autos gegangen. Seit den 60er-Jahren drückt die Ringstraße Boulevard périphérique der Stadt die Luft ab und trennt das Paris der orange beleuchteten Sandsteinbauten von den teilweise von Armut und Kriminalität geprägten Banlieues. Der Stadtkern kapselte sich von den Vororten ab, ist eine Insel innerhalb der Île-de-France selbst geworden.
Aufbruch in die 15-Minuten-Stadt
Auf dem Symposium präsentiert man nun das Projekt einer geeinten Metropole: auch die Vorstadtviertel sollen durch Parks und kulturelle Angebote lebenswerter werden. 100.000 Bäume sollen allein um die Périphérique gepflanzt werden. „Bis 2030 werden außerdem 60 neue U-Bahnstationen fertiggestellt sein, die die Vorstadt mit der Innenstadt verbinden“, erklärt Marine Binckli von Grand Paris Express, das den Bau der neuen Linien seit 2015 umsetzt. Das Metronetz wird nach der Erweiterung das größte Europas sein, noch vor London und Moskau. Ziel ist es, anstatt einer zentrierten Stadt eine Kiezkultur zu etablieren, ähnlich wie in Berlin. Hidalgo ist Verfechterin der sogenannten 15-Minuten-Stadt, in der man alles, was man zum Leben braucht, innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß, auf dem Rad oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen kann.
Dafür sollen Dutzende „ökologische Viertel“ gebaut werden, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Eines davon in Pantin, einer eigenständigen Stadt, die aber zum Metropol-Raum von Paris gehört und als Stadtteil betrachtet wird. 2016 wurde es in einem Ranking der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur schmutzigsten Stadt Frankreichs gewählt. Heute residieren Luxusfirmen wie Hermès unmittelbar neben armen Hochhaussiedlungen. Die Mieten steigen.
Gleichzeitig gilt Pantin als wegweisend für den Anschluss der Banlieues an die Stadt: Mit dem Kulturpark Cité de la musique und der Philharmonie von Stararchitekt Jean Nouvel direkt an der Grenze zur Innenstadt wurden hier in den vergangenen Jahren Gebäude gebaut, die sich früher niemand an der Périphérique hätte vorstellen können.
Von der Metro-Station Hoche der Linie 7 geht es 15 Minuten durchs Viertel, bis man stillgelegte Schienen erreicht. Ein großes, in bunten Farben bemaltes Bahnhofsgebäude steht dort. Eine Gruppe von Menschen sitzt lachend auf rustikalen Holzbänken und stellt aus Stoffresten Haargummis her. Hinter ihnen ragt ein vertikaler Garten in die Höhe, daneben ein gläsernes Gewächshaus. „Willkommen bei Mutter Erde“ steht auf Französisch auf einem Schild.
Die Fruchtbare Stadt
„Madame“ ruft eine Stimme, und durch den Eingang schlurft Stéphane Vatinel, ergrautes Haar und leuchtend blaue Augen, er trägt eine karierte Hose und ein offenes weißes Hemd. Hier kommt der Herr der Cité Fertile.
Die „Fruchtbare Stadt“ befindet sich genau auf dem Gelände, auf dem ab 2022 das neue Viertel entstehen soll. Früher war es ein stillgelegter Güterbahnhof. Die Stadt erlaubte Vatinels Firma, dem Sozialunternehmen Sinny&Ooko, das Gelände während der Planungsphase des Wohnviertels übergangsweise zu benutzen, um einen ökologischen und sozialen Begegnungsort zu schaffen. Mietfrei.
Vatinels Team pflanzte Bäume und legte Gärten an, kleidete die alten Industriegebäude mit ländlichen Blumentapeten und Kunst aus und machte sie zu Co-Working- Spaces, Cafés und einer eigenen Craftbier-Brauerei. In einer Halle finden Konzerte, Workshops und Ausstellungen statt, direkt daneben leben Bienenvölker. In wenigen Stunden wird hier der erste Honig des Jahres geerntet.
In einem der Bahnhofsgebäude platzen wir in eine Gruppe von jungen Leuten, die wild diskutieren. „Wir erlauben Kooperativen und NGOs, sich hier kostenlos zu treffen“, erklärt Vatinel. Nebenan tage gerade der WWF. Die Zimmer sind nach ihren Mottos benannt: Im „Robinson“ gibt es eine Inseltapete und pinke Spielzeugflamingos, im „Don Draper“ sieht alles so aus wie in einem 60er-Jahre-Büro.
Direkt vor der Halle findet regelmäßig ein Trödelmarkt statt, auf dem die Einwohner:innen von Pantin, zum Großteil Menschen mit Migrationshintergrund, kostenlos ihre Waren verkaufen können. Die Stoffresteverwerter:innen im Innenhof sehen aber doch überwiegend weiß aus. Vatinel blickt amüsiert auf die kleine Schar: „Ach, ich liebe sie. Das sind Geschäftsleute, die treffen sich hier für ihre privaten Workshops. Durch so was finanzieren wir uns.“ Seine weiche Stimme klingt spöttisch. Manchmal auch einen Schuss arrogant. Anne Hidalgo bezeichnet er als ein „mutiges Mädchen“, aber sie denke nicht „radikal genug“.
Gefühlt hat Vatinel so ziemlich jeden hippen, alternativen Ort der Stadt mitgestaltet. In seinem Comptoir Général am beliebten Canal Saint-Martin tanzten Studierende auf einem künstlichen, gestrandeten Schiff zwischen Gemälden, die die koloniale Ausbeutung Afrikas durch Frankreich kritisieren.
Am Bassin de Vilette, ein einst von Napoleon zur Trinkwasserversorgung künstlich angelegtes Wasserbecken, steht sein Pavillon des Canaux mitten auf dem Wasser. Hier fühlt es sich ein wenig an wie bei Alice im Wunderland: Man kann in gepolsterten Badewannen sitzen, Café allongé trinken und sich dabei feministische Vorträge anhören.
Ein anderes Kind von Vatinel ist die beliebte Recyclerie, wie die Cité Fertile ein ehemaliger Bahnhof, auf dessen Schienen ökologische Landwirtschaft betrieben wird. Unter von Efeu umrankten Stahlträgern trifft man sich zum Biobrunch oder schaut sich in einem Freiluftkino Dokus an.
Die Recyclerie liegt an der Petit Ceinture, dem stillgelegten Eisenbahnring im inneren Paris, dessen lang verwahrloste Flächen von den Bewohner:innen immer mehr zurückerobert werden. Jedes Jahr entstehen hier mit Unterstützung der Stadt neue öffentliche Gemüsebeete, Parks und Sportanlagen.
Auch Vatinel wird durch Mittel der Stadt Paris und der Region Île de France gefördert. Eine zusätzliche Finanzspritze kommt jedoch von der Bank BNP Paribas. „BNP! BNP! Wie kann er nur?“, äfft er seine Kritiker:innen nach. „Es macht mir nichts aus, dass ich mit ihrem Geld einen Ort wie die Cité Fertile erschaffen kann. Sie machen mir keine Vorschriften. Und wenn wir mit ihrer Hilfe die Menschen aufklären können über den Klimawandel, Gerechtigkeit und ein nachhaltiges Leben, tragen wir dann nicht dazu bei, dass sich auch BNP selbst verändern muss?“
Er beugt sich verschwörerisch herüber. „Die Leute hier wollen nicht, dass wir weggehen. Mehr und mehr schreiben dem Bürgermeister von Pantin: Bitte lasst die Fruchtbare Stadt hier! Was soll das auch sein, ein ökologisches Viertel? Es gehört mehr dazu, als erneuerbare Energie zu benutzen. Es muss ein Ort sein, der von den Menschen selbst kommt.“ Ein paar Minuten zu Fuß vom berühmten Jardin du Luxembourg baut die Stadt das neue Quartier Saint Vincent de Paul. Die sozialen Initiativen Aurore, Yes We Camp und Plateau Urbain durften ebenso wie Vatinel die Fläche während der Bauplanung von 2015 bis 2020 besetzen. In einem großen, historischen Krankenhaus errichteten sie Les Grands Voisins, die Großen Nachbarn. Hier entstanden farbenfrohe Notunterkünfte für Asylbewerber:innen und obdachlose Menschen. Pro Jahr gab es etwa 300 kostenlose handwerkliche oder ökologische Workshops und Veranstaltungen. Auf riesigen orientalischen Kissen saß man zusammen mit den Bewohner:innen, Studierenden und Familien bei Kaffee und Kuchen, es wurden kostenlos Fahrräder repariert, zerschlissene Klamotten genäht, gemeinsam gekocht und Kunst gemacht.
Die soziale Stadt
Steht man heute vor dem Eingang des Geländes, muss man bei der Erinnerung schlucken. Die Räume des alternativen Zusammenlebens sind teilweise abgerissen, der Boden von Baggern aufgewühlt. Auf die zugemauerten Fenstern hat jemand „Öffentlicher Platz“ gesprayt. Im Inneren des ehemaligen Krankenhauses kleben noch die Fotos der Menschen, die hier gelebt haben.
Inmitten der Bagger steht Delphine Jolivet, in ihren Händen türmen sich neongelbe Broschüren, Fotos und Pläne. Die Ingenieurin und Designerin arbeitet für Paris & Métropole Aménagement, eine Firma, die im Auftrag der Stadt Paris zahlreiche der neuen Ökoviertel plant und baut. „Bis 2026 entstehen hier 600 neue Wohnungen, vor allem für Familien, denn für sie gibt es in der Innenstadt sehr wenig Platz.“ 50 Prozent werden Sozialwohnungen sein, 20 Prozent für den Mittelstand und 30 Prozent für den freien Markt. Menschen aus ganz Frankreich konnten sich um die Wohnungen bewerben. Eine repräsentative Gruppe von ihnen begleitet jede Phase des Projekts und ist an der Gestaltung beteiligt. Die Gewerberäume des Viertels sollen vor allem sozialen Unternehmen zur Verfügung gestellt werden.
Sie sei traurig gewesen, als Les Grands Voisins gehen mussten, gesteht Jolivet, als wir durch die gespenstischen Räume in die oberen Stockwerke laufen. Aber sie stellt auch klar: Ohne die Stadt Paris hätte es das Projekt ja nie gegeben. Wir hören ein hektisches Flügelschlagen: Eine Taube versucht, aus einem der geschlossenen Fenster zu entkommen. Die Ingenieurin stellt sich auf die Zehenspitzen, um es für sie zu öffnen. „Die Großen Nachbarn waren für uns eine Inspiration. Wir wollen ihre Philosophie fortführen, alles gemeinsam zu gestalten.“ Knapp 70 Wohnungen in Saint Vincent de Paul sind so zum Beispiel für Geflüchtete reserviert. Gemeinschaftsräume, Cafés, eine eigene Schule und eine Halle für Theater und Events sollen die unterschiedlichen Bewohner:innen untereinander vernetzen. Es gibt einen Fahrradverleih und 4.000 Quadratmeter Grünflächen. Energie wird durch die neue Methode der Abwasser-Wärme aus der Seine gewonnen werden, Regenwasser im großen Stil aufgefangen.
Die Menschen, die bis 2020 hier gelebt haben, haben die Vereine Aurore und Plateau Urbain nach eigenen Angaben alle in anderen Einrichtungen untergebracht. Ob sie Les Grands Voisins in einem anderen Teil von Paris wieder neu aufbauen werden? „Nein“, sagt Marie Guilget von Plateau Urbain. „Es ging nie darum, den gleichen Ort wieder neu zu erschaffen, sondern das Konzept dahinter zu verbreiten.“ Les Grands Voisins hätte viele andere alternative Locations nach sich gezogen, die als Motor für eine soziale und ökologische Stadtentwicklung dienen sollen. Seit es schließen musste, haben die Vereine so mit Erlaubnis der Stadt unter anderem die temporären Räume Les Cinq Toits (Die Fünf Dächer) und das Village Reille gegründet; ersteres auf dem Gelände einer früheren Gendamerie-Kaserne, die in Sozialwohnungen umgewandelt wird, das andere in einem ehemaligen Kloster. In beiden Locations finden Geflüchtete nun wieder erste Anlaufstellen, um eine Unterkunft oder einen Ausbildungsbetrieb zu finden, sie können hier Französisch üben, lernen, wie man einen guten Lebenslauf erstellt und umsonst und ökologisch essen.
Guilget hofft, dass Saint Vincent de Paul auch weiterhin ein Ort für alle bleibt. „Wir werden es beobachten: Werden sie die Mieten wirklich niedrig halten, wird es wirklich ein solidarisches Miteinander geben?“ Das Les-Grands-Voisins-Team ist nicht aus der Welt, unter anderem richtet es in dem Quartier ein Restaurant ein, das von geflüchteten Köchen geführt werden soll. Vielleicht ist auch die Zukunft von La Cité Fertile nicht so düster, wie Stéphane Vatinel denkt? Er hat auf jeden Fall schon einen nächsten Plan: „Ich träume von einem französischen Hobbingen, in dem alle in bewachsenen Häusern leben.“
Und das Gewächshaus auf der Notre-Dame? Unter Protesten der Kirche wurden alle innovativen Pläne zur Neugestaltung abgeschmettert, stattdessen wird der Dachstuhl praktisch originalgetreu wieder aufgebaut. Für eine grüne Notre-Dame war Paris nicht bereit. Noch nicht.
Dieser Text erschien in der Ausgabe August/September 2021 mit dem Titel „Schatzinseln: Diese Orte zeigen uns, wie wir den Kampf gegen die Klimakrise meistern“. Das aktuelle Heft könnt ihr hier kaufen.
Das Paris von Anne Hildago, der Bürgermeisterin: Straßen verwandeln sich in Kunstwerke, Autos werden immer mehr aus der Stadt verbannt.