Sie öffnet lustvoll ihren Mund, schließt die Augen, stöhnt. Schwarze Locken fallen ihr über die Schultern, als sie ihren Kopf in Zeitlupe zurückwirft. Vor der katholischen Kirche St. Anna in Vilnius kommt die junge Frau zum Höhepunkt.
2018 versuchte sich Litauens Hauptstadt in einer offiziellen Tourismuskampagne als „G-Punkt Europas“ in das Bewusstsein der Welt zu stöhnen. Denn, so der Slogan: „Nobody knows where it is, but when you find it – it’s amazing“. Die Werbespots zeigen Tourist:innen von vorne, die das, was sie gerade betrachten, ziemlich antörnt. Dann ein Perspektivwechsel, nun sind ihre Rücken zu sehen, sie stehen vor Sehenswürdigkeiten in Vilnius.
„Nur fünf Prozent der Briten, drei Prozent der Deutschen und sechs Prozent der Israelis wissen mehr als den Namen und die ungefähre Lage von Vilnius“, zitiert Inga Romanovskienė, die Leiterin der Tourismuszentrale Go Vilnius, eine eigene Studie. „Anstatt die beschämende Tatsache zu vertuschen, dass wir unbekannt sind, haben wir beschlossen, sie zu umarmen.“ Es folgte die Kampagne „Vilnius, amazing wherever you think it is“. 2019 wurde dafür eine Straßenumfrage in Berlin gefilmt. Befragte vermuteten die Stadt in Schweden, Belgien, Italien, Venezuela oder Rumänien.
Europas größter Fintech-Hub
Über Užupis – einer von Künstler:innen gegründeten, autonomen Republik mitten in Vilnius – schweben bunte Heißluftballons wie gigantische Blumenblüten. Am Boden des bewaldeten Stadtkerns staunen sich Besucher:innen durch die Gassen einer kleinen, stolzen Gesellschaft. Sie erfahren, dass die mit 600 Kilometern längste Menschenkette der Welt, „The Baltic Way“, 1989 von hier bis nach Tallinn führte, dass sich die litauische Regierung gerne mit Großmächten wie China anlegt, etwa indem sie Taiwan als Republik anerkennt. Und, dass sie in Europas größter Hightech-Hoffnung gelandet sind.
Litauen ist digitalisiert, unbürokratisch, effektiv. Der jährlichen „Doing Business“-Untersuchung der Weltbank zufolge ist Litauen eines der unternehmensfreundlichsten Länder der Welt. Die Tech-Szene in Vilnius lässt Orte wie London, Singapur und Amsterdam hinter sich, wenn es um „Kapital-Effizienz“ geht: Pro Kopf fließen hier so viel Investments in Tech-Start-ups wie nirgendwo sonst. Litauen ist Europas größter Fintech-Hub, mit mehr als 230 Fintech-Unternehmen bei nur knapp drei Millionen Einwohner:innen. Und: EU-weit hat das Land den höchsten Frauenanteil in Fintechs. Knapp 50 Prozent der Belegschaft sind weiblich, so ein Report der staatlichen Organisation Invest Lithuania von 2020.
„Wir wurden lange übersehen. Europa hörte auf mit Polen“, sagt die Investorin Jone Vaituleviciute. Das ändere sich jetzt. „Immer mehr Investmentfonds aus den USA fokussieren sich auf Litauen, weil sie hier weniger Konkurrenz haben als in Estland, wo bereits viel Geld von erfolgreichen Gründer:innen fließt, Angel Capital.“ Das Interesse ausländischer Fonds und der Zuzug ausländischer Tech-Firmen sind das Verdienst der Regierung, von Invest Lithuania und der Bank von Litauen. Sie vereinfachten das Zulassungsverfahren für Unternehmen und automatisierten eine Reihe von Aufsichtsverfahren, aber vor allem machten sie mit: „Der Staat leistet gute Arbeit, indem er selbst in Risikokapitalfonds investiert und private Investor:innen anwirbt“, so Jone Vaituleviciute.
Bild: privat
Die junge Frau ist Managerin bei Startup Wise Guys, einem baltischen Investmentfonds und Accelerator, der sich parallel zu Estlands erstem „Einhorn“-Triumph, Skype, 2012 etablierte. Einhörner sind Start-ups mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde US-Dollar vor dem Börsengang beziehungsweise Ausstieg von Kapitalgeber:innen. Litauens Wundertiere heißen Tesonet, Deeper oder KiloHealth. Vaituleviciute bezeichnet sie als „inoffizielle“ Einhörner, weil sie nie Risikokapital eingesammelt haben, aber dennoch global durchgestartet sind. Im Fintech-Bereich skalieren zum Beispiel TransferGo und Ondato. Ziticity, Trafi und Spark besetzen das im Baltikum ebenfalls heiße Thema E-Mobility. Trafi etwa fasst alle in einer Stadt verfügbaren kommerziellen und öffentlichen Verkehrsmittel in einer App zusammen, so etwa in München, Zürich oder Bogotá und bereits seit 2019 als „BVG Jelbi“ in Berlin. Das Onlinemagazin Forbes titelte daraufhin: „Aufgepasst, Uber. Berlin ist das neue Amazon für Verkehr“. Ubers größte Konkurrenz aber kommt aus Estland: Bolt (ehemals Taxify) ist Europas größte Plattform für urbane Mobilität.
„Es kommt für uns nicht in Frage, nicht zu expandieren. Die baltischen Märkte sind sehr klein, was aber eigentlich ein Vorteil ist: Wir denken die Skalierung von vornherein mit“, erklärt Jone Vaituleviciute. Auch die Entrepreneurin Milda Mitkutė sagt: Litauer:innen „müssen größer denken. Dafür bietet sich Tech besonders gut an.“ Mitkutė hat Vinted mitgegründet, einen Online-Marktplatz für Secondhand-Kleidung. Vor zwei Jahren stieg der Unternehmenswert durch frisches Risikokapital auf über eine Milliarde Euro, heute liegt er bei 3,5 Milliarden.
*Fintech ist zusammengesetzt aus „Financial Services“ und „Technology“. Gemeint sind junge Unternehmen, die digitale Finanzdienstleistungen anbieten, etwa alternative Bezahlverfahren und Crowdfunding.
Bild: Vinted
Talentsuche im Ausland
Der neue Hauptsitz von Vinted liegt im Viertel Naujamiestis westlich der mittelalterlichen Altstadt von Vilnius. In dem gläsernen Gebäude namens „Uptown Park“ duftet es nach Silicon Valley: lichtdurchflutete, offene Work Spaces, ein Fitnessstudio mit Blick auf den begrünten Innenhof, Barista-Café, eine Kita, Sofa-Lounges. Die Ausstattung ist secondhand und lokal produziert, verteilt sich über vier Etagen und 900 Arbeitsplätze.
Die Idee heißt zunächst „Mano Drabužiai“, meine Kleidung, sie kommt Milda Mitkutė und Justas Janauskas 2008 in einer Bar in Vilnius. Wenig später lernt Entwickler Janauskas zwei Couchsurferinnen aus München kennen, Sophie Utikal und Susanne Richter. Sie sehen ihn programmieren, fragen nach, finden: So etwas fehlt in Deutschland. Aus einer zufälligen Bekanntschaft wird ein Team, das Kleiderkreisel und Mamikreisel in Deutschland vermarktet. Seit November 2020 sind beide Plattformen vereint unter dem Namen Vinted. Mitkutė spricht von einer „Bewegung des bewussten Konsums“, die allein in Deutschland heute 11 Millionen Vinted-Mitglieder zählt. „Wir hätten niemals gedacht, dass sich Vinted mal zu einer internationalen Community mit über 45 Millionen User:innen in 15 Märkten entwickeln könnte.“ Aktuell baut Vinted die Dependance in Berlin stark aus, sucht vor allem Software-Entwickler:innen und Datenwissenschaftler:innen. „Auch wenn meine Heimat Litauen voller fantastischer, smarter Talente steckt – für ein schnell wachsendes Unternehmen ist der heimische Pool rasch ausgeschöpft.“
Jone Vaituleviciute sieht darin die größte Herausforderung für baltische Start-ups: Aufgrund fehlender IT-Talente im Land und rasant steigender Gehälter rekrutieren litauische Start-ups nun in Belarus und Ukraine, sogar in Indien und Südostasien. Die Durchschnittslöhne in West- und Osteuropa gleichen sich immer mehr an. Mitarbeitende eines Start-ups in Vilnius verdienen monatlich im Durchschnitt 2.700 Euro brutto, erfahrenes IT-Personal liegt bei 4.000 bis 6.000 Euro, so der litauische Tech-Start-up-Verband „Unicorns LT“. Allerdings gestaltet sich „die Suche nach leitenden Angestellten im Ausland sehr schwierig für uns, da unsere Netzwerke und HR-Kontakte nicht mal bis nach Berlin reichen“.
Hier setzt Lukas Kaminskis an. Der 24-jährige Programmierer gründete mit 16 sein erstes Tech-Start-up, sein drittes heißt Turing College: eine digitale IT-Schule, die anstelle von Zertifikaten Jobs vergibt. Partner-Unternehmen und Mentor:innen, etwa von Vinted und KiloHealth, gestalten die Lehrpläne mit, nutzen das Programm als Talent-Pool. Turing College ist das erste litauische Start-up, das vom Accelerator „Y Combinator“ gefördert wird, der schon Airbnb anschob.
Bild: privat
Kaminskis’ Gründerteam trifft sich bei Regus, einem Co-Working-Space im Norden von Vilnius, auf der anderen Seite des Flusses Neris, der aus Belarus gen Westen strömt. Doch seine Mitarbeitenden verstreuen sich über Europa, sitzen in Rotterdam, Kopenhagen und Barcelona. Aber: „Die besten Entwickler:innen, die wir einstellen, kommen aus der Ukraine, Russland, Litauen und Lettland. Ich denke, wegen unserer Historie: Das sowjetische Bildungssystem war schon in den Grundschulen stark auf Mathematik und Physik ausgerichtet.“ Die Technikaffinität besteht weiterhin. Auf 1.000 Bürger:innen kommen in Slowenien, Polen und Litauen fast 20 Absolvent:innen von MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik), zeigt der 2018 veröffentlichte McKinsey-Bericht „The Rise of Digital Challengers“. 2018 waren 41 Prozent der MINT-Absolvent:innen in Osteuropa weiblich, westeuropäische Länder kamen auf 33 Prozent.
Am 11. März 1990 erklärte Litauen seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion und musste sich als Gesellschaft neu erfinden. „Unsere Start-up-Szene ist so jung, dass wir vieles von Anfang an richtig machen konnten“, meint Vaituleviciute. „Wir haben nie zugelassen, dass sich eine Bro-Kultur ausbreiten kann“, das Kumpel-Gehabe in der von Männern geprägten, westlichen Techwelt. 1991 befreiten sich die beiden Nachbarn. „Westeuropa sieht die baltischen Staaten immer als eine Einheit, in der sich Menschen gegenseitig anfeuern. Das tun wir. Aber wir messen uns auch stark an ihnen, vor allem an Estland.“
Die digitalste Gesellschaft der Welt
Estland war Litauen in einer Sache lange Zeit voraus. 2014 führte sie als erste Nation der Welt das Programm „e-Residency“ ein. Erst 2020 zog Litauen nach. Damit kann etwa eine deutsche Unternehmerin ein estnisches oder litauisches Unternehmen gründen, von Berlin aus leiten und chinesische Kund:innen bedienen. Bankgeschäfte, Zahlungsabwicklungen, Steuern – alles wird online gemanagt. Laut Florian Marcus, Berater für digitale Transformation des Verbands E-Estonia, habe Estland heute knapp 4.000 deutsche „e-Residents“ mit über 1.200 Firmengründungen.
99 Prozent aller staatlichen Dienstleistungen können in Estland online abgewickelt werden, weil Bürger:innen über eine digitale Identität verfügen, basierend auf einer digitalen Unterschrift und einem E-Ausweis. Persönliches Erscheinen ist daher nur noch für zwei Ereignisse notwendig: Hochzeit und Scheidung. Litauens Verwaltung ist zu etwa 90 Prozent digitalisiert. Und Deutschland? Auf kommunaler Ebene sind es dem aktuellen Deutschland-Index der Digitalisierung zufolge 24 Prozent. Das liegt auch am hinkenden Glasfaser-Ausbau. Anteilig an allen stationären Breitband-Anschlüssen kam Litauen 2020 laut OECD auf 76,6 Prozent Glasfaser, Deutschland lag bei 5,4 Prozent.
Als wohlhabendes Land könne sich Deutschland eine ineffiziente Bürokratie schlicht leisten, so Florian Marcus. Die neuen baltischen Republiken hingegen mussten jede Krone, Litas und Lats umdrehen. Der Anteil von durch Armut bedrohte Menschen bleibt hoch, vor Corona waren es 26 Prozent in Litauen, knapp 21 Prozent im EU-Durchschnitt.
Entrepreneurship wird vor allem in den jungen Generationen im Baltikum als Katapult angesehen – in die Welt und den Wohlstand. Vorbilder gibt es genug, die drei reichsten Esten haben Tech-Start-ups gegründet, Bolt (Mobilität) und Wise (Fintech). Entrepreneur Lukas Kaminskis glaubt: „Wir versuchen, die alten kapitalistischen Länder einzuholen und Möglichkeiten zu finden, schneller zu sein.“ Das Momentum ist da. Wegen der Pandemie lädt das Silicon Valley nun zu virtuellen Pitch-Runden; baltische Software-Start-ups starten durch. Immer mehr Unternehmer:innen und Investor:innen entdecken Vilnius auf der Landkarte. Sie wollen den Höhepunkt nicht verpassen.
Vilnius hat sich weltweit als Tech-Hub etabliert. Ausländische Tech-Unternehmen wie Uber, Revolut und Flo Health lassen sich daher hier nieder, und immer mehr internationale Fonds investieren in litauische Start-ups.