Die Rechte und Pflichten des Wassers

Wie Flüsse weltweit Personenstatus bekommen

Überall auf der Welt bekommen Flüsse, Wälder und Lagunen den Status von juristischen Personen und damit Rechte zugesprochen. Kann das die Natur vor den Menschen retten?

Die Holzboote, die über den Río Atrato gleiten, sind leuchtend orange, grün und blau gestrichen. Der drittgrößte Fluss Kolumbiens ist von Palmen gesäumt und bahnt sich auf 750 Kilometern Länge seinen Weg vorbei an Wäldern und Sümpfen bis hin zum karibischen Meer. Doch das Wasser des Atrato ist voller Gift. Illegaler Bergbau hat ihn mit Quecksilber und Blausäure gefüllt. Die Menschen, die am Ufer des Flusses in der Region Choco leben, erleiden ungewöhnlich häufig Fehlgeburten oder erkranken an Krebs.

2016 kommt es zu einem bahnbrechenden Urteil: das kolumbianische Verfassungsgericht spricht dem Atrato die Rechte auf Regeneration, Pflege, Erhaltung und Schutz zu. Zwei Jahre später verleiht das oberste Zivilgericht des Landes dem gesamten kolumbianischen Amazonasgebiet eine Rechtspersönlichkeit. „Der große Fortschritt dieser Fälle ist, dass die Afrokolumbianer:innen und indigenen Gemeinden, die für diese Urteile kämpften, an Bedeutung und Ansehen gewonnen haben, und sich nun mehr Menschen für sie und den Fluss interessieren. Das führt zu einer langsamen, aber wichtigen Veränderung der Machtdynamik im Land“, sagt Catalina Vallejo Piedrahíta, eine kolumbianische Anwältin. Zusammen mit den Jurist:innen Elizabeth Macpherson aus Neuseeland und Rahul Ranjan aus Indien untersucht sie im Auftrag der norwegischen Regierung, wie sich Personenrechte auf den Zustand von Flüssen weltweit auswirken.

Rechte der Natur sind ein indigenes Konzept

Der sogenannten „Rights of Nature“-Bewegung liegt das in vielen indigenen Kulturen herrschende Verständnis zugrunde, dass die Natur und die Menschheit zwei Seiten derselben Medaille sind, keine getrennten Lebewesen, sondern eins. Zuerst in die Rechtsordnung eines Staates übersetzt wurde diese Philosophie im indigen geprägten Lateinamerika: In den Andenstaaten Ecuador und Bolivien sind die Rechte von Mutter Erde seit 2008 und 2010 verfassungsrechtlich anerkannt. So klagt eine Naturschutzorganisation in Ecuador 2021 erfolgreich gegen ein Unternehmen, das in einem Urwald umweltschädlichen Bergbau betreiben wollte.

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Doch die Forschung zeigt: Juristische Personenrechte allein reichen für einen nachhaltigen Umweltschutz nicht aus. „Die Abholzung im Amazonasgebiet nimmt weiter zu, und der Atrato ist nach wie vor stark verschmutzt, wir sehen keine echten Fortschritte“, sagt Vallejo Piedrahíta. Was fehlt? Klare juristische Zuständigkeiten, einheitliche Verwaltungsstrukturen – und Pesos.

„Die Region Choco und das Amazonasgebiet gehören zu den ärmsten und am stärksten benachteiligten Regionen Kolumbiens“, erklärt Vallejo Piedrahíta. „Es müssen also mehr finanzielle Mittel bereitgestellt werden, um die grundsätzlich guten Gesetze umzusetzen. Das ist die Aufgabe der nationalen Regierung und des Kongresses.“ Bisher stellt Kolumbien nur einen Bruchteil seines Staatshaushalts für das Umweltministerium bereit. Außerdem sind die Regionen auch Territorium von kolumbianischen Paramilitär- und Guerilla-Gruppen sowie von kriminellen Kartellen. „Wenn es keinen Frieden mit diesen Gruppen gibt und der Staat nicht die Kontrolle über das Land übernimmt, kann es keinen wirklichen Schutz und keine Wiederherstellung der Ökosysteme geben.“

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Der Ganges verliert seine Rechte

Die Privilegien, die dem Atrato 2016 zumindest auf dem Papier zukamen, wurden dem berühmtesten Fluss Asiens 2017 wieder weggenommen: Nachdem ein Gericht im indischen Bundesstaat Uttarakhand den heiligen Ganges als „juristische und lebende Person mit allen entsprechenden Rechten“ ausrief, betonte es auch die mit der juristischen Definition einer Person einhergehenden „Pflichten“ des Flusses. Die Regierung von Uttarakhand, wo der Ganges entspringt, ging daraufhin zum Obersten Gericht Indiens und argumentierte, dass die Regelung zu Ansprüchen gegen die Flüsse im Falle von Überschwemmungen oder Ertrinken führen könnte. Wer aber den Fluss vertreten und für ihn zahlen sollte, wenn ihn Millionen von Menschen, die am Ufer leben, auf Schadenersatz verklagen, lässt das Gesetz aus. So wurde es gekippt.

Jurist Rahul Ranjan ist selbst in einem Haus direkt an einem indischen Fluss aufgewachsen und hält das gescheiterte Gesetz für extrem ignorant. „Das größte Problem ist, dass es nicht zusammen mit den Gemeinden, die am Fluss leben, erarbeitet wurde, sondern von oben diktiert.“ Besonders kritisch sieht Ranjan, dass der Ganges im Gesetzestext als „Legal Minor“ bezeichnet wurde. „Dieses Gesetz verniedlicht den Fluss, macht ihn zu einem Kind. Stattdessen sollte man ihn und die Menschen, die seit Jahrtausenden dort leben, ernst nehmen.“

Der Ganges ist an einigen Stellen seines 2.500 Kilometer langen Verlaufs biologisch so gekippt, dass es dort keinerlei Leben mehr gibt. Das Hauptproblem sind aber laut Ranjan nicht die Menschen, die dort die Asche ihrer Verstorbenen verstreuen oder sich rituell waschen, sondern die schlechten Abwassersysteme der Tausenden Dörfer und Städte entlang des Flusses, die Industrie, die ihre Abfälle direkt in den Fluss leitet, und die überdimensionierten Dämme, die zum Beispiel im Jahr 2013 zu einer tödlichen Überschwemmung des Ganges führten. Korruption und mangelnde Aufsicht schützen diese Unternehmen vor strafrechtlicher Verfolgung, sagt Ranjan. Ihnen müssten schärfere Gesetze und Kontrollen auferlegt werden. „Als ich für meine Recherchen am Ufer des Ganges entlangreiste, erzählten mir die Sadhus, also die hinduistischen Asketen und Eremiten*, die dort leben, im Hinblick auf die riesigen Dämme: ‚Es ist so, als habe man dem Fluss die Gliedmaßen abgetrennt und diesen verstümmelten Körperteilen dann Rechte gegeben.‘“

Weltweites Vorbild: Der Whanganui

Wie geht es besser? Ein Vorbild für die Umsetzung von Rechten für die Natur, an dem sich auch Kolumbien und Indien orientieren könnten, ist Neuseeland. Oder wie das Land in der Sprache der indigenen Bevölkerung der Māori heißt: Aotearoa. In einem beispiellosen Kampf, der über 150 Jahre andauerte, erfochten die Māori, dass einer der größten und wichtigsten Flüsse des Staates, der Whanganui, ebenfalls zu einer juristischen Person ernannt wird.

Um die Handlungsfähigkeit des Flusses sicherzustellen, hat die Regierung ihm einen Fonds in Höhe von 30 Millionen neuseeländischen Dollar – knapp 18 Millionen Euro – zugesprochen. Zusätzlich erhielten diejenigen Māori-Gemeinschaften, die am Whanganui leben, 80 Millionen Dollar Entschädigung für die historische Ausbeutung und Zerstörung des Flusses seitens der Krone.

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Elizabeth Macpherson, Umweltjuristin an der Universität von Canterbury in Christchurch, ist gerade auf dem Weg zu den Ufern des Flusses, um Feldforschung zu betreiben. „Ich kann nicht für die Māori sprechen, ich bin nur eine Beobachterin von außen“, betont Macpherson. „Wichtig ist jedoch zu erklären: Der Status als juristische Person ist nur ein kleiner Teil von dem, was hier passiert. Für die Māori ist der Fluss ihr Vorfahr, um den sie sich kümmern müssen.“ Für die menschliche Vertretung des Flusses wurde „Te Pou Tupua“ gebildet, das Gesicht des Flusses. Diese Institution besteht aus zwei Māori, die den Fluss rechtlich vertreten. Eine:r der beiden Vertreter:innen tut das im Namen der Krone. „Der westliche Begriff einer juristischen Person kann nur eine Annäherung an die Beziehung zwischen dem Fluss und den Māori sein“, erklärt Macpherson. „Für die Gemeinden des Whanganui gilt: Ich bin der Fluss und der Fluss ist ich, in ihrer Sprache: Ko au te awa, ko te awa ko au.“ Es ginge den Māori nicht um die Befähigung zum Klagen, sondern darum, dass die Interessen des Flusses und aller Menschen, die mit und durch ihn leben, gemeinschaftlich gewahrt werden. Zu diesem Zweck wurde ein Rat gebildet, in dem neben der Krone auch Vertreter:innen aus verschiedenen Abteilungen der Regierung beteiligt sind, Umweltorganisationen und touristische Unternehmen, aber ebenso die Firma Genesis Energy, die  über 80 Prozent des Flusses in ihrem Wasserkraftwerk nutzt, eine in Neuseeland wichtige Energiequelle, die den Fluss aber auch ökologisch belastet.

Diesem Beispiel folgend wurde in Kolumbien 2018 ebenfalls ein Gremium von „Guardiánes“, auf deutsch „Wächter“, gegründet, um die Interessen des Flusses zu vertreten und die Ressourcen des Flusses auf nachhaltige Weise zu bewirtschaften. Das reicht jedoch nicht aus, findet Anwältin Vallejo Piedrahíta. „Neben den Gemeinden und dem Umweltministerium müssten dort auch andere Ministerien und das nationale Planungsbüro vertreten sein. Denn ohne das Zusammendenken von Haushalt, Bildung, Agrarpolitik und Verkehrspolitik kann die Umweltkrise nicht bewältigt werden.“

Macpherson, Ranjan und Vallejo Piedrahíta sind sich sicher: Auch wenn die Umsetzung komplex ist, die „Rights of Nature“-Diskussion hilft, unser System grundsätzlich anders zu denken und zu transformieren. Macpherson und andere Wissenschaftler:innen haben gemeinsam die Online-Plattform Eco Jurisprudence Monitor gegründet: Auf einer interaktiven Landkarte werden mehr als 300 Fälle weltweit sichtbar, wo derzeit Rechte für die Natur verhandelt werden oder schon durchgesetzt sind. Jüngst haben wir auch in Europa den ersten Meilenstein gesehen: Die Salzwasserlagune Mar Menor an der spanischen Mittelmeerküste wurde im Frühjahr 2022 als erste Natur-Entität Europas zur juristischen Person ernannt.

Foto: Lucas Vallecillos

Pilgerinnen baden und beten im heiligen Fluss Ganges in Indien. Seine Privilegien als rechtliche Person wurden dem Fluss 2017 wieder weggenommen.

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