Portrait

Der Sobrelier: Égalité im Glas

Benoît d’Onofrio ist Sobrelier in Paris, er verkostet und kreiert alkoholfreie Getränke. Über einen Mann, der für flüssige Gleichstellung kämpft.

In einem großen Glasgefäß mit Zapfhahn treiben Apfelscheiben zwischen gerösteten Kiefernzweigen, Mandarinenschalen und Blättern der Studentenblume. Zwei Brotscheiben schwimmen an der Oberfläche des orangefarbenen Gebräus, überzogen von einem Hefeschimmer. Kleine Bläschen steigen auf. Benoît d’Onofrio tritt heran und schraubt den Deckel ab. Mit allen Sinnen prüft er den Inhalt: Seine Augen mustern ihn, er riecht säuerlich, fruchtig. Dann neigt er den Kopf, hält das rechte Ohr über die Öffnung, lauscht. Ein leises Zischen ist zu hören. „Es lebt“, sagt er mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Stolz. Die Fermentation hat begonnen. 

Benoît d’Onofrio ist Sobrelier. Den Begriff hat der 43-jährige Franzose vor zwei Jahren selbst erfunden. Sommeliers verkosten Weine und andere alkoholische Getränke. Ein Sobrelier ist eine Art Cuvée. Wie die Weine, die unterschiedliche Reben und Lagen mischen, gleicht er einem Mix: Er ist Geschmacksexperte für Feines mit und ohne Alkohol. Daher Sobrelier, von sobre, dem französischen Wort für nüchtern. „Ein Sobrelier ergänzt das alkoholische Angebot in der Gastronomie durch hervorragende alkoholfreie Getränke“, so d’Onofrio. Er sorgt für Égalité im Glas.

Blubbernde Kräuter: Ein neuer Geschmack entsteht, Foto: Pauline Gouablin

Im besten Fall durch eigene Kreationen, wie den Mix, der seit zehn Tagen in seinem Pariser Restaurant, der Sobrellerie, in drei großen Gefäßen unter einem karierten Geschirrtuch vor sich hin fermentiert. Der hochgewachsene Franzose trägt eine braune Schürze über dem blauen Langarm-shirt und einen Schnauzer. Mit ausladenden Gesten beschreibt er seine Leidenschaft: alkoholfreie Getränke. 

Sobrelier wie sobre, französisch für nüchtern

Ein nüchterner Sommelier im Land des Weins? D’Onofrio hat sich damit in eine Nische gewagt, die von vielen noch belächelt wird. Mit 10,4 Litern Alkoholkonsum jährlich pro Kopf liegt Frankreich im europäischen Vergleich weit vorne, nur knapp hinter Deutschland mit 10,6 Litern. Die Empfehlung der französischen Gesundheitsbehörden liegt bei maximal zwei Alkoholeinheiten pro Tag – bei einem Menü mit sechs Gängen à sechs Getränken schwer einzuhalten.

Doch die Zeiten ändern sich: Zwischen 2010 und 2020 ist der Alkoholkonsum in der EU in den meisten Ländern zurückgegangen, in Deutschland um einen Liter und in Frankreich sogar um zwei. Gleichzeitig wächst die Nachfrage nach alkoholfreien Alternativen. Der Begriff Sobrelier ist mittlerweile eine geschützte Marke, d’Onofrios Weg, sein Konzept vor Missbrauch zu bewahren. „Immer mehr Leute bezeichnen sich als Sobrelier“, sagt er. Das heißt aber nicht, dass sie auch seine Philosophie teilen.

Jetzt, im Dry January, hat d’Onofrio Hochsaison. Während dieser Challenge, bei der einen Monat lang auf Alkohol verzichtet wird, bekommt er besonders viel Aufmerksamkeit von Medien. Dabei glaubt d’Onofrio selbst nicht an die Wirkung des Dry January. „Mir geht es nicht darum, den Leuten vorzuschreiben, wie sie leben sollen – ob sie trinken oder nicht, ist ihre Sache. Ich möchte ihnen nur eine echte Wahl bieten, und zwar über einen Monat hinaus.“ 

Mir geht es nicht darum, den Leuten vorzuschreiben, wie sie leben sollen. Ob sie trinken oder nicht, ist ihre Sache. Ich möchte ihnen eine echte Wahl bieten.
— Benoît d’Onofrio

D’Onofrio sitzt an einem der leeren Holztische seines minimalistischen Restaurants, das Platz für zwanzig Leute bietet. In dem Regal hinter ihm stehen Holzskulpturen, die die Form von Flaschen nachahmen. „Viele Meilensteine in unserem Leben sind mit dem Konsum von Alkohol verbunden, wie dem Champagner bei einer Hochzeit. Aber warum eigentlich?“ Um soziale Situationen aufzuwerten? Genau diese Normen will er hinterfragen. „Es braucht immer noch Mut, in einer großen Gruppe nichts zu trinken. Ich wünsche mir eine Welt, in der unsere Unterschiede nicht mehr in den Vordergrund gestellt werden.“ Das versucht er zumindest in seinem Restaurant – dort gibt es zu je fünfzig Prozent alkoholische und alkoholfreie Getränke. 

Vom Caviste zum Sobrelier

Doch auch d’Onofrios Reise zum Sobrelier begann mit – Alkohol. Das Interesse an Getränken entwickelte er während seines ersten Jobs als „Caviste“ in der legendären Pariser Brasserie La Closerie des Lilas, in der einst Künstler wie Claude Monet, Pablo Picasso oder Ernest Hemingway ein Gläschen Wein tranken: „Meine Aufgabe war die Warenannahme und Verwaltung der Getränke, aber auch der Abwasch“, erzählt er. In den Pausen stöberte er in Büchern und Fachzeitschriften über Weine und andere Spirituosen, die er im Keller fand. Sein Chef, ein erfahrener Sommelier, erkannte sein Interesse am flüssigen Geschmack und motivierte ihn 2011, selbst eine Ausbildung zum Sommelier zu machen. Ein angesehener Beruf in Frankreich: Der französische Verband der Sommeliers UDSF (Union de la Sommellerie Française) zählt derzeit 1.400 Mitglieder, die Zahl der Sommeliers in ganz Frankreich wird jedoch auf rund 20.000 geschätzt.

In diesen sechs Monaten trainierte er seinen Geschmackssinn. Er lernte, Aromen zu beschreiben, sein Gedächtnis zu verbessern – wie schmeckt welche Rebe aus welcher Region in welcher Lage –  und Getränke zu präsentieren. Gleichzeitig wuchs aber auch sein Interesse an nicht-alkoholischen Getränken. „Ich hatte Glück, dass meine Ausbilder auch darauf  Wert legten“, sagt er.

Auch rein etymologisch habe das Wort Sommelier keinerlei Bezug zu Alkohol. „Ursprünglich bezeichnete es jemanden, der die Lasttiere des königlichen Hofs begleitete“, sagt d’Onofrio. Später wurde der Sommelier verantwortlich für die Getränkeauswahl am Hof. Seitdem hat sich der ­Beruf auf Alkohol, insbesondere Wein, verengt, was ihm, aus Sicht d’Onofrios, „nicht gerecht wird“. 

Nach seiner Ausbildung bildete er sich weiter, lernte Kaffee zu rösten, Tee aufzubrühen und sprach mit Fruchtsaftproduzent:innen über Fermentierung. Diese Erfahrungen nahm er mit in die Restaurants, in denen er arbeitete und erweiterte die Menüs um mehr alkoholfreie Varianten. „Dafür musste ich mir manchmal anhören: Du bist kein richtiger Sommelier.“ Eine Getränkekarte erweiterte er um eineinhalb Seiten mit alkoholfreien Angeboten. „Dann kam eines Tages eine Frau zu mir, die mit der Auswahl trotzdem nicht zufrieden war“, erzählt er. Sie war ihr noch nicht groß genug.

Foto: Mickaël A. Bandassak

Herr des Genusses: Benoît d’Onofrio, Sobrelier in Paris, komponiert und verkostet Getränke ohne Alkohol.

Elisa Kautzky

Weiterlesen