Schwerpunkt: Freiheit der Wissenschaft

Mach mal Slow Science

Paper raushauen, Drittmittel einwerben, turboforschen — das Wissenschaftssystem ist zum Durchlauferhitzer geworden. Ideen für Reformen und eine Wissenschaft, die sich gegen Angriffe von rechtsaußen zu wehren weiß.

Plötzlich, im Sommer 2021, ploppen Tausende Tweets auf: „Ich arbeite seit fünf Jahren mit Kettenverträgen, ich bin verzweifelt.“ „Ich forsche bis in die Nächte, aber weiß nicht, ob ich morgen meine Miete zahlen kann.“„Ich publiziere immer Neues, aber wird das reichen?“ Binnen Tagen formt sich ein Chor von Stimmen auf Twitter, eine Welle des Protests gegen die Arbeitsbedingungen von Wissenschaftler:innen. Schon lange hatte ein Fristgesetz des Bundesforschungsministeriums, das den Großteil der Wissenschaftler:innen jahrelang in befristeten Verträgen gefangen hält, evaluiert werden sollen. Macht es Wissenschaft wirklich innovativer und durchlässiger für die nächste Generation? In einem heiteren Erklärvideo des Ministeriums segelt eine Zeichentrick-Hanna, Doktorandin der Biologie, umsichtig durch den Forschungsalltag, sie weiß, dass man eine Unikarriere frühzeitig planen muss,  lässt sich beraten, alles kein Problem. „Nichts als Hohn“, sagt Amrei Bahr. Schon lange hat sie sich mit ihren Kolleg:innen Sebastian Kubon und Kristin Eichhorn Gedanken über Reformen des Fristgesetzes gemacht. Dann entsteht in ihrem gemeinsamen Twitter-Chat die Idee: Lasst uns dem Wissenschaftsprekariat ein Gesicht geben. Wir sind die Hannas. Am 10. Juni um 9.11 Uhr geht #IchBinHanna online. Noch am selben Tag steht der Hashtag auf Platz eins der Deutschlandtrends auf Twitter.   

Viel Arbeit, kaum Stellen  

Heute ist Amrei Bahr Juniorprofessorin für Philosophie an der Universität Stuttgart, Beamtin auf Zeit also. Sie steckt in der Juniorprofessur fest, ohne Aussicht auf Entfristung. X-mal schon hat sie sich auf unbefristete Stellen beworben, mehrfach kam die Absage erst nach zwei Jahren. „Es gibt einfach nicht genug Stellen.“ 

Als sich Bahr nach ihrem Studium für die Wissenschaft entschied, aus Liebe zu ihrem Fach Philosophie und der Freude an der Suche nach Erkenntnis, war ihr zwar klar, dass es schwierig würde – nicht aber, wie schwierig. Nach ihrer Promotion hangelt sie sich fünf Jahre mit acht Arbeitsverträgen durch, oft überlappend in Teilzeit an unterschiedlichen Lehrstühlen. Immer wieder wird sie von Kolleg:innen ermutigt: „Wenn du es nicht schaffst, wer dann?“ Also schiebt sie die Bedenken beiseite. Die Abhängigkeit von Vorgesetzten, mit denen sie zusammenarbeitet und die doch über ihre Zukunft entscheiden. Bloß nicht zu unkonventionelle Forschungsfragen stellen, niemandem auf den Schlips treten. Die Arbeitszeiten, die kein Ende finden. In der Forschung, der Gremienarbeit, später beim Einwerben von Drittmitteln fürs nächste Projekt. Und immer ist da der moralische Druck: noch schnell die Hausarbeiten von Studierenden korrigieren, auch wenn die Stelle längst ausgelaufen ist. Bahr: „,Wissenschaft ist schließlich etwas Besonderes, wie oft habe ich diesen Satz gehört.“ Über Kinder nachzudenken, erlaubt sich die 39-Jährige seit Jahren nicht. „Irgendwann kommt der Investitionsfehlschluss – so viel reingesteckt und dann alles hinschmeißen? Nein.“  

Wissenschaft ist etwas ganz Besonderes, wie oft habe ich diesen Satz gehört?
— Amrei Bahr, Juniorprofessorin

So wichtig sie ist – das Wissenschaftssystem selbst steht zunehmend in der Kritik. 

Da sind zum einen Arbeitsbedingungen vor allem der Wissenschaftler:innen unter 40, die Amrei Bahr mit der Initiative #IchBinHanna sichtbar macht. 90 Prozent arbeiten laut Bundesbericht Wissenschaft (BuWik) befristet, kloppen 8 bis 10 Überstunden die Woche. Ein Fünftel der Postdocs der Max-Plack-Gesellschaft zeigen nach einer Studie von Postdoc Net Symptome einer mittelschweren Depression, trotzdem sagen 80 Prozent, sie führen ein „sinnvolles, einigermaßen glückliches“ Leben. Eine typische Ambivalenz in einem Job zwischen hoher intrinsischer Motivation und Prekariat. 

Stimmung im deutschen Wissenschaftsbetrieb: Zwischen intrinsischer Motivation und Prekariat, Grafik: Eva Leonhard

Da sind zum anderen die Finanzierung der Forschung, der Veröffentlichungsdruck und die Bewertung von F…

Foto: Pexels / Pavel Danilyuk

Wissenschaftsalltag: Veröffentlichungen raushauen, Forschungsanträge schreiben.

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