Im Gespräch mit Rutger Bregman

„Die Geschichte zeigt uns, dass es anders geht“

Der niederländische Historiker und Journalist, Rutger Bregman, skizziert in seinen Büchern eine bessere Welt, damit sich die Menschen eine bessere Welt vorstellen können. Denn genau das sei „unser wahres Problem“, sagt Bregman – deswegen ändere sich unser Wirtschaftssystem auch nach schweren Finanzkrisen nicht. Im Interview fragen wir ihn, ob die aktuelle Krise ein Wendepunkt sein könnte. Sind wir bereit für radikalen Wandel?

Du schreibst in deinem Buch „Utopien für Realisten“, dass radikale Veränderungen meist plötzlich durch Krisen stattfinden und nicht Schritt für Schritt. Nach der Finanzkrise 2008 veränderte sich nichts am System, weil es deiner Meinung nach keine guten Alternativen gab. Ist heute etwas anders und wenn ja, was?

Die Richtung, in die wir weltweit gehen, ist auf jeden Fall anders als noch 2008. Das kommt auch durch die Coronakrise. Menschen in der Mitte der Gesellschaft haben ein größeres Bewusstsein für unsere Probleme. Einige Beispiele: Die neoliberale Financial Times druckte bereits vor einem Jahr einen Leitartikel, der einen kompletten Politikwechsel forderte – wir sollten über eine aktivere Rolle des Staats nachdenken, über höhere Vermögenssteuern und ein bedingungsloses Grundeinkommen. Als Joe Biden der neue Präsidentschaftskandidat wurde, waren viele enttäuscht. Ein moderater Demokrat würde nicht für die nötigen radikalen Veränderungen sorgen, hieß es. Was er aber in den ersten 100 Tagen Amtszeit auf den Weg gebracht hat, finde ich bemerkenswert. Sein American Rescue Plan soll die Kinderarmut halbieren. Ein enormer Trendbruch. Es würde mich nicht überraschen, wenn seine Klimapolitik ähnlich ambitioniert wird. In den Niederlanden hat sich die sozialdemokratische Partei noch vor zehn Jahren ausschließlich mit der staatlichen Schuldenkrise beschäftigt. Heute sagen sie: Wir müssen mehr Schulden machen, um unsere Schulden beim Planeten gutzumachen. 

Doch die große Frage bleibt: Geht das alles schnell genug voran?

Auch auf Good Impact: Bregmans Plädoyer für ein positives Menschenbild

Also du glaubst, dass sich bei den meisten Menschen inzwischen ein Problembewusstsein gebildet hat. Das ist die gute Nachricht. Allerdings fehlt immer noch ein konkreter Plan, wie uns die nötigen Transformationen gelingen? 

Die Geschichte zeigt uns, dass es anders geht. Wie unser Zusammenleben gerade funktioniert, ist nicht selbstverständlich, sondern befristet. Trotzdem können sich viele Menschen nur schwer vorstellen, in einem antikapitalistischen System zu leben. Aber alles, was Menschen geschaffen haben, kann auch durch Menschen verändert werden. Nur kostet das Zeit, oft mehrere Generationen. Das sieht man an den historischen Bewegungen, die etwa zu demokratischen Verfassungen führten, zur Abschaffung der Sklaverei oder zur rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau. Vor 30 oder 40 Jahren war die Anzahl Vegetarier*innen und Veganer*innen, die es heute gibt, undenkbar. Ich glaube an historische Systemwechsel. Aber die Wissenschaft gibt uns dafür ein extrem eingeschränktes Zeitfenster. 

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Wie beurteilst du Alternativkonzepte wie den Green New Deal oder die Donut-Ökonomie, nach der sich zum Beispiel die Stadt Amsterdam richten möchte? 

Ich bin skeptisch. Jede*r kann einfach sagen, dass er*sie für die Donut Ökonomie beziehungsweise Kreislaufwirtschaft ist. Ich möchte wissen, wie der konkrete Plan aussieht. Ich ärgere mich über links-progressive Menschen, die vor allem über Bewusstseinsveränderungen reden, über neue Worte, Ideen und Ideologien. Das ist nicht konkret. 

Denn unsere Zivilisation fußt immer noch auf vier Säulen: auf der Produktion von Plastik, Zement, Stahl und Ammoniak. Ohne diese Klimakiller funktioniert unsere Gesellschaft bisher nicht. In der Landwirtschaft ist Ammoniak immens wichtig – ohne Kunstdünger, nur mit Bio-Betrieben, wird uns die Transformation nicht gelingen. Wäre Zement hinsichtlich seines CO2-Fußabdrucks ein Land, wäre es das drittgrößte Land der Welt. Gleichzeitig mangelt es in vielen Metropolen an Wohnraum. Wir wissen noch nicht, wie wir all die Dinge, die wir dringend brauchen, ohne den Ausstoß von CO2 produzieren können. Aktuell entsteht eine Spannung zwischen schönen Träumen von der Zukunft und der konkreten Realität. Sind wir alle bereit, Opfer zu bringen? 

Es ist zudem sehr populär, historische Vergleiche zu ziehen, etwa zwischen dem Green New Deal und dem New Deal. Gern wird auch die gesellschaftliche Mobilisierung, die wir jetzt brauchen, mit der Mobilisierung in den USA und in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs gleichgesetzt. Ich als Historiker schaue mir an, was es im Zweiten Weltkrieg für die USA bedeutet hat, zu mobilisieren: Wie haben sie ihre ökonomische Ordnung von einem Tag auf den anderen umgeworfen? Das hatte harte Konsequenzen. Die Steuern schossen in die Höhe, auf bis zu 90 Prozent für die Reichsten. Die Freiheit der Menschen wurde extrem eingeschränkt, viele Produkte konnten nicht mehr gekauft werden, etwa Autos und Staubsauger. Es gab ein Tempolimit von 35 Meilen pro Stunde (Anm.d.Red. umgerechnet ca. 56 km/h). Weigerten sich Unternehmer*innen, an der Kriegsproduktion teilzunehmen, wurden sie verhaftet. 

Was ich damit sagen will: Es reicht nicht, zu appellieren, dass wir unseren CO2-Ausstoß bis 2030 halbieren und bis 2050 bei null ankommen müssen. Das ist eine enorme Aufgabe! Wie viel ist uns das wert? Wie schmerzhaft wird es werden? 

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Wessen Aufgabe ist es vor allem, positive Visionen zu kreieren, um Veränderungen zu bewirken?

Jede*r kann sich ein nachhaltigeres, besseres Zusammenleben vorstellen. Viele wünschen sich mehr Zeit für die Familie, Freund*innen und Hobbys. Aber, dass wir eine Win-Win-Situation finden, mit der es jeder*m besser geht und die gleichzeitig unsere großen Probleme löst, ist nicht realistisch. Jede*r Bürger*in muss sich die Frage stellen: „Was bin ich bereit, aufzugeben?“ Wir müssen nicht so tun, als ob der Verzicht aufs Fliegen oder auf tierische Produkte Spaß macht. Wir dürfen nicht in eine Rhetorik verfallen, dass alles schön wird. Dann werden Menschen enttäuscht und wütend. Dann bricht die ganze Bewegung in sich zusammen. 

Heißt das, wir müssen aufpassen, dass unsere Zukunftsvisionen realistisch bleiben, damit sich niemand am Ende „betrogen“ fühlt? Dabei schreibst du in deinem Buch auch, dass nur radikale Visionen echte Veränderungen schaffen.

Die Wirklichkeit ist sehr radikal. Was Wissenschaftler*innen jeden Tag berichten ist radikal. Der Zustand, in dem wir uns befinden, ist radikal. Wenn du eine gemäßigte politische Person bist, dann bist du eigentlich die/der Wahnsinnige (lacht). Es ist vollkommen normal, auf eine radikale Situation mit radikalen Mitteln zu reagieren. Der Kapitän der Titanic, die auf den Eisberg zusteuert, die nahende Katastrophe im Blick, würde nicht sagen „Leute, lasst uns lecker essen heute Abend!” Er muss radikal eingreifen, um zu verhindern, dass das Schiff sinkt. 

Auch auf Good Impact: Appell von Journalistin Sara Schurmann – „Als vierte Gewalt sollten wir die Klimapolitik kontrollieren”

Wer muss jetzt radikal eingreifen?

Ich bin kein Fan davon, Individuen von Politik und Wirtschaft zu trennen. Wir tragen alle die Verantwortung und wir müssen alle gleichzeitig handeln. Die Linken reden viel über das System, nach dem Motto: „Shell ist an allem Schuld“. Das hören wir natürlich gerne und vergessen dabei, dass wir mit unserem Lebensstil – wie wir wohnen, essen und reisen – Großabnehmer der Ölkonzerne sind. 

Greta Thunberg ist ein gutes Beispiel dafür, wie eng verbunden politische Glaubwürdigkeit und Biografien sind: Sie aß erst vegan, verzichtete aufs Fliegen und überzeugte ihre Eltern davon, Solarpanele und ein Elektroauto anzuschaffen, bevor sie ihren politischen Schulstreik begann.

Rutger Bregman

Rutger Bregman (1988) ist Historiker, Journalist beim niederländischen Online-Medium „De Correspondent” und Buchautor. Seine Bestseller „Im Grunde gut” (2020) und „Utopien für Realisten” (2017) wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Der britische Guardian taufte ihn „das niederländische Wunderkind der guten Ideen”.
Bild: Maartje ter Horst

Du kritisiert auch, dass die linken Parteien keine progressiven, hoffnungsvollen Visionen mehr schaffen.

Einerseits müssen wir ein Ziel vor Augen haben, um zu wissen, wo wir gemeinsam hinwollen. Ich denke, dass die erfolgreichsten Aktivist*innen in der Geschichte diejenigen waren, die sowohl politisch als auch persönlich radikal waren. In normalen Zeiten hat ein Staat keine Hilfe nötig. Da reicht es, ein anständiger Mensch zu sein, der brav seine Steuern zahlt, ab und zu spendet und lieb ist zu seiner Umgebung. In Krisenzeiten ist das nicht genug. Dann wird mehr von den Menschen verlangt. 

Bürger*innen sind schließlich keine Kund*innen der Regierung und die Regierung ist kein Dienstleister. Auch wenn sich einige Bürger*innen aktuell so verhalten, oder? 

Natürlich können die Menschen die Corona-Maßnahmen kritisieren. Bisher war die Krise ein Triumph der Wissenschaft. Wir haben in kurzer Zeit effektive Impfstoffe entwickelt. Aber haben zu träge agiert. Wenn wir schon bei einem Virus zögern, während die Krankenhäuser ihre Belastungsgrenzen erreichen, wie wollen wir dann der Klimakrise begegnen? Deren Folgen sind noch fataler und werden mit noch größerer Verspätung sichtbar.

Hast du ein konkretes Beispiel im Kopf, ein Land oder eine Gesellschaft, die ihr kapitalistisches System schon zukunftsorientierter gestaltet?

Warum wir keine Paywall haben

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Abstrakte, theoretische Diskussionen über Kapitalismus versus Kommunismus oder Markt versus Staat finde ich nicht zielführend. Natürlich wäre ich lieber Teil des schwedischen Kapitalismus, als des US-amerikanischen Systems. In Schweden ist die Qualität des Bildungs- und Gesundheitssystems höher. Dort herrscht mehr Chancengleichheit und weniger Armut. Die skandinavischen Länder sind außerdem Vorreiter in Sachen nachhaltige Entwicklungen. Der dänische Windenergie-Markt ist riesig und in Norwegen ist das Elektroauto bereits Standard.

Manchmal funktionieren Märkte gut, manchmal löst die Regierung Probleme, manchmal können sich Menschen selbst einen Mittelweg zwischen Staat und Markt organisieren – den „Commons”. Wir sollten nicht zu dogmatisch sein. Aber wenn wir die Herausforderungen betrachten, wird deutlich, dass wir einen stärkeren Staat brauchen, eine stärkere zentralisierte Regie und höhere Vermögenssteuern, um die Transformationen zu finanzieren.

In der radikalen Wirklichkeit können wir es uns nicht leisten, ideologische Präferenzen zu haben. Beispielsweise brauchen wir alle Energieträger, die wir kriegen können – nicht nur Solar und Wind oder Wasserstoff und Biomasse. Ich glaube an die Kraft von Utopien. Nur ist es 2021 und 2030 müssen wir schon radikal anders leben! Zeitmangel verlangt Pragmatismus. Wir sind aber auf dem richtigen Weg, zumindest in Europa. Klimaleugner*innen sind hier ein Randphänomen geworden. Im Vergleich zum Rest der Welt macht die EU ambitionierte Klimapolitik. Der EU-Emissionshandel (EU ETS) etwa ist eine der weltweit substanziellsten Maßnahmen gegen die Klimakrise. 

Bild: IMAGO / Horst Galuschka

Rutger Bregman entwirft in seinen Arbeiten positive Welt- und Zukunftsbilder. Sein Bestseller „Im Grunde gut“ wurde in 43 Sprachen übersetzt. Hier ist er zu sehen beim größten deutschen Philosophie-Festival, phil.cologne, 2018.

Miriam Petzold

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