Herr Bühler, das Bild einer Berliner Republik, geprägt von Ränkespielen einer Lobbykratie, ist verbreitet. Bedroht Lobbyismus die Demokratie?
Joachim Bühler: Nein, ohne professionelle Interessenvertretung funktioniert unsere liberale Demokratie nicht. Das Gemeinwohl entsteht erst aus dem Widerstreit von Interessen, die jedes Mal neu ausgehandelt werden müssen. Dafür müssen Entscheidungsträger:innen diese Interessen natürlich kennen. Lobbyismus gehört daher seit jeher zur Demokratie. Schon im frühen englischen und US-amerikanischen Parlamentarismus haben Vertreter:innen von Kirchen, Wirtschaft und Gesellschaft auf die Abgeordneten in der Wandelhalle, der Lobby, vor dem Parlament gewartet, um ihnen ihre Anliegen vorzutragen. Und dann musste die Politik entscheiden, welche Argumente sie überzeugend findet, welchen Interessen sie also welches Gewicht geben will.
Lobbyismus als Bedrohung, ja/nein?
Nein, sagt Joachim Bühler, Geschäftsführer des TÜV-Verbands. Aufgabe der sechs TÜV Unternehmen in Deutschland ist es, Menschen und Umwelt vor negativen Folgen von Technik zu schützen.Wirtschaftsinteressen zum Beispiel …
Bühler: Nicht nur, Lobbyismus ist bunt wie unser Leben, heute gehören genauso soziale Einrichtungen, NGOs, Kirchen, Gewerkschaften, kleine zivilgesellschaftliche Initiativen dazu. Alle Organisationen, die professionell Bürger:innenanliegen vertreten. Egal, ob es um Kitaplätze oder eine Fabrikansiedlung geht.
Wofür trommeln Sie denn als TÜV?
Bühler: Für technische Sicherheit. Wir prüfen nicht nur Autos, sondern auch Kernkraftwerke, Lebensmittel oder Künstliche Intelligenz (KI). Wenn man sich im Parlament etwa über KI streitet, liefern wir Argumente für mehr KI-Sicherheit. Ein Abgeordneter ist ja meist kein KI-Experte. Um Entscheidungen treffen zu können, muss er wissen: Wie kann diese Technik überhaupt kontrolliert werden, was ist möglich, was ist sinnvoll?
Christina Deckwirth: Aber Herr Bühler, Sie zeichnen hier ein Idealbild von Interessenvertretung, das es so leider nicht gibt. Natürlich ist Lobbyismus grundsätzlich notwendig für eine Demokratie. Nur ist die Interessenvertretung eben nicht so bunt wie unser Leben. Zwar gibt es mittlerweile eine gewisse Vielfalt, doch die Ressourcen sind extrem unterschiedlich verteilt. Finanzstarke Akteur:innen werden sehr viel stärker wahrgenommen als andere. Das verzerrt politische Entscheidungen und gefährdet die Demokratie. Es geht um Macht.
Lobbyismus als Bedrohung, ja/nein?
Ja, sagt Christina Deckwirth, seit 2011 Referentin bei Lobbycontrol, einer NGO, die sich für eine bessere Kontrolle von Lobbyarbeit einsetzt. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind Klima und Umwelt.Woran hakt es konkret?
Deckwirth: Konzerne und starke Wirtschaftsverbände haben mehr Geld und geben ein Vielfaches für Lobbyarbeit aus. Allein die Gasindustrie hat 2021 40 Millionen Euro in Lobbyarbeit gesteckt. Die drei größten Umweltverbände, die schwerpunktmäßig zu Gas arbeiten – BUND, Greenpeace und Deutsche Umwelthilfe –, investierten zusammen nur 1,5 Millionen Euro, um ihrer Kritik Gehör zu verschaffen.
Spiegelt sich das Ungleichgewicht nur im Geld wider?
Deckwirth: Nein, auch in der Besetzung von Gremien oder einflussreichen Konferenzen. Beispiel Autogipfel der Bundesregierung. Dort wird auf hochrangiger Ebene verhandelt, welche Förderungen an die Autoindustrie fließen. Eigentlich versteht sich dieses Treffen als Mobilitätsgipfel. Doch eingeladen werden nur Autokonzerne, der Verband der Automobilindustrie (VDA), immerhin auch die IG Metall und die Betriebsräte. Aber warum fehlen alle Kritiker:innen? Umweltverbände, Wissenschaft, andere Verkehrsträger wie die Bahn?
Bühler: Ja, die Mittel sind sehr unterschiedlich verteilt, die Zahlen liegen auf dem Tisch. Aber: Ist es überraschend und ehrenrührig, dass Unternehmen mit wirtschaftsnahen Instrumenten für ihre Sache trommeln? Sie betreiben professionelles Marketing in eigener Sache. Die Regelungen des Staates betreffen sie ja auch besonders.
Deckwirth: Es ist doch eine Fehlinterpretation, dass es bei Wirtschaftsthemen nur um Wirtschaft geht, um das Wohl von Unternehmen oder den Standortfaktor Deutschland. Es geht genauso um Klimaschutz, Verbraucher:innenschutz, die Lebensqualität aller. Deshalb müssen kritische Stimmen gerade bei vermeintlich reinen Wirtschaftsthemen stark vertreten sein.
Bühler: Zudem – schießt Geld wirklich Tore wie im Fußball? Wer sich die besten Spieler:innen kaufen kann, gewinnt – wer die tollsten Hochglanzbroschüren macht, auch? Das bezweifle ich. Auch der Mobilitätsgipfel wurde de facto nicht nur wegen der finanziellen Mittel der Autolobby zum Autogipfel. Ich glaube eher, es ist eine Kulturfrage – es fällt uns immer noch schwer, Mobilität jenseits des Autos zu denken.
Deckwirth: Schießt Geld bessere Tore? Wenn man sich die Bundesliga oder die Champions League anschaut, schon. Sicher, Geld bestimmt nicht immer, welche politischen Entscheidungen getroffen werden. Auch Proteste von Zivilgesellschaft oder NGOs können sehr wirkmächtig sein, wenn sie glaubwürdig sind und Themen ansprechen, die viele für relevant halten …
… wie beim Freihandelsabkommen TTIP, das nach Protesten gekippt wurde, obwohl laut Analysen des Vereins Bürgerbewegung Finanzwende 92 Prozent der Lobbying-Termine mit Unternehmen stattfanden.
Deckwirth: Aber Herr Bühler, bezweifeln Sie wirklich, dass Geld einen Einfluss auf die Politik hat?
Bühler: Ich glaube, dass die Rolle des Geldes überbewertet wird. Wir sollten Politiker:innen nicht unterschätzen. Dass ein Pro-Fußgänger-Verband nicht so schick und massiv auftreten kann wie ein Industriekonzern, wissen die doch auch. Es ist Aufgabe der Politik, einzuordnen: Von wem kommt ein Schreiben, was ist für mich überzeugend? Wer glaubwürdig seine Interessen vertritt, die relevant sind für alle, wird gehört, auch wenn die Industrie das kritisch sieht. Das zeigen Lieferkettensorgfaltsgesetz oder die KI-Verordnungen …
Deckwirth: … die dennoch weit hinter den Forderungen der Zivilgesellschaft zurückblieben. Sicher gibt es viele Politiker:innen, die unterschiedliche Anliegen im Blick haben und wissen, dass sie beeinflusst werden sollen, wenn Lobbyist:innen mit exklusiven Veranstaltungen locken. Doch ein Teil der Politiker:innen hat es eben nicht im Blick. Und es ist naiv zu sagen, es beeinflusst mich nicht, wenn ich eingeladen, in Netzwerke eingebunden, von einer Seite ohne Ende umgarnt werde. Hätte es keine Wirkung, würden Konzerne nicht so viel Geld investieren.
Bühler: Die Frage ist aber auch: Welche Überzeugungen haben Politiker:innen selbst, welche Parteipolitik vertreten sie? Wenn sie dafür gewählt wurden, sich für den Erhalt der Verbrenner einzusetzen, ist es logisch, dass sie eine Nähe zu denen suchen, die ihnen Argumente liefern. Natürlich gehört es zu ihrer Verantwortung, sich auch mit den Gegenpositionen auseinanderzusetzen.
Deckwirth: Wir sehen ja, wie die Nähe von Parteipolitiker:innen zu Lobbyorganisationen immer wieder zu Verzerrungen führt. Nehmen wir die Kampagne der Verbrenner- und Gasindustrie für den Biodiesel HVO 100, ein aus Sicht der Wissenschaft irrelevantes Nischenprodukt. Der Pseudoökodiesel wird von der FDP gehypt, um am Verbrenner festhalten zu können. Da haben Verkehrsminister Volker Wissing und Staatssekretär Oliver Luksic viel zu große Nähe gesucht, FDP-Chef Christian Lindner und Porsche-Boss Oliver Blume sind sogar persönlich verbandelt.
Die EU hat das Aus des Verbrenners schon beschlossen …
Deckwirth: … und Deutschland hat immer wieder blockiert, ist als Sprachrohr der Autoindustrie aufgetreten. Jetzt gibt es von CDU, FDP und Verbrennerlobby großen Druck, das beschlossene Aus wieder aufzubrechen.
Bühler: Wir werden ja auch dauerhaft an Verbrennern nicht vorbeikommen, schon für Schwerlasttransporte, Schiffe oder Flugzeuge. Für Pkw ist die Elektromobilität fraglos am effizientesten. Richtig ist aber auch: 850.000 Arbeitsplätze in Deutschland hängen an der Autoindustrie, die zur Weltspitze bei der Verbrennertechnologie zählt und jetzt Anschluss an diese Erfolge in der E-Mobilität sucht. Dass die Politik die Sorgen der Autoindustrie ernst nimmt, ist da doch verständlich. Sie muss das abwägen. Und das hat trotz Autolobby ja zum Verbrenner-Aus geführt.
Welche Lobbymethoden sollten tabu sein?
Deckwirth: Wenn gemeinwohlschädliche Interessen als Gemeinwohl verkauft werden. Das ist immer dann eine ganz wichtige Lobbymethode, wenn sich die eigenen Interessen kaum noch verkaufen lassen. Beispiel fossile Energie. Exxon wusste schon seit den 1970er-Jahren aus eigenen Forschungen, wie schädlich das Verbrennen von Öl für das Klima ist – aber hat öffentlich das Gegenteil gesagt, gezielt Zweifel an der Klimawissenschaft gestreut und die Angst geschürt, dass die Wirtschaft ohne fossile Energie zugrunde ginge. Deshalb ist Transparenz so wichtig: Wer hat wen für was beauftragt?
Bühler: Da stimme ich Ihnen zu. All unsere Positionen sind daher auf unserer Website einsichtig. Wenn wir Meinungsforschungsinstitute beauftragen oder Forschungsprojekte mit Hochschulen machen, führen wir das genau auf. Ein No-Go ist natürlich, wenn ein Abgeordneter Geld bekommt, damit er eine Entscheidung pusht, die den Interessen einer Lobby gefällt.
Deckwirth: No-Go ist auch, wenn eine Professorin wie Veronika Grimm die Regierung in Energiefragen berät und zugleich sehr viel Geld als Aufsichtsrätin von Siemens Energy bekommt. Oder wenn Fördergelder unter Freund:innen vergeben werden – wie neulich bei der Förderung für Wasserstoff im Verkehrsministerium. Wir brauchen auch für Ministerien Regularien. Verhaltensregeln etwa: Persönliche Beziehungen müssen offengelegt werden, Fördergelder unter Freund:innen tabu sein.
Woran fehlt es noch?
Deckwirth: Ich beginne mal positiv: Die Möglichkeiten, von der Politik in die Wirtschaft zu wechseln oder umgekehrt wurden eingeschränkt, das geht jetzt erst nach 1 bis 1,5 Jahren. So wurden Schranken für Einflussnahmen hochgezogen. Nach einer Reform des Lobbyregisters mussten alle Verbände bis Sommer 2024 genauer eintragen: Wer sind sie, wofür stehen sie, wie viel Geld fließt, in wessen Auftrag arbeiten sie? Auch Ministerien sind nun verpflichtet, ihre sogenannte Lobbyfußspur offenzulegen. Heute kann man besser sehen, auf welche Gesetzgebungsprozesse Einfluss genommen wurde. Aber es hakt vor allem noch bei der Umsetzung. Wer trägt sich wie wo genau ein? Sind alle Einträge korrekt?
Bühler: Wir haben dort 45 Gesetzesvorhaben aufgelistet, zu denen wir der Politik unsere Position nahegebracht haben. Das Ausfüllen hat den Verband wochenlang auf Trab gehalten. Es wird mehr sinnvolle Transparenz bringen, ja, aber auch die Professionalisierung verstärken. Kleine Lobbyorganisationen haben da Probleme.
Deckwirth: Hat sich das Verfahren erst mal etabliert, wird es sicher einfacher. Es lohnt sich. Bürger:innen, Medien und die Politiker:innen selbst können sich viel leichter über Einflussnahmen und Positionen informieren.
Bühler: Auch für uns als Lobbyist:innen ist es in der Tat gut zu wissen, wer engagiert sich in welchem Bereich, wie genau sehen die Stellungnahmen aus?
Deckwirth: Trotzdem gibt es Mängel. Wir brauchen eine unabhängige Behörde, die Lobbyregeln und Transparenz überwacht. Die Bundestagsverwaltung, die bisher kontrolliert, untersteht ja dem Bundestag selbst – das heißt den Parteienvertreter:innen. Natürlich bestehen da potenziell Interessenskonflikte. Nötig ist auch eine strengere Kontrolle der Parteienfinanzierung. Warum gibt es in Deutschland keine Deckelung für Parteispenden wie in Frankreich? Zwar ist es verboten, an Parteispenden Bedingungen zu knüpfen. Und doch entsteht häufig zumindest der Anschein von Einflussnahme – schließlich fließt Geld selten ohne Hintergedanken.
Bühler: Vielleicht ist es Zeit, dass sich unser Parteiensystem ganz von der Unterstützung durch Spenden in größerem Ausmaß verabschiedet. Wir sollten uns andere Finanzierungsmittel einfallen lassen. Aber ich möchte noch mal zurück zum Lobbyregister. Warum müssen sich da Kirchen und Gewerkschaften nicht eintragen? Die vertreten doch genauso ein Interesse.
Deckwirth: Stimmt, aber das gilt auch für Arbeitgeber:innenverbände, die sich ebensowenig registrieren müssen. Nur regt sich niemand darüber auf. Das ist ein Standardframing in der öffentlichen Debatte. Es wird immer gern auf die Lobbyaktivitäten von Umweltverbänden und Gewerkschaften gezeigt, gerade wenn Politiker:innen zu NGOs wechseln oder NGO-Vertreter:innen in die Politik. Schaut, heißt es dann, ihr seid auch nicht besser, Ökolobby. Doch statistisch sind diese Fälle Ausnahmen. Die meisten Politiker:innen wechseln in die Wirtschaft oder in wirtschaftsnahe Verbände, da gibt es einfach mehr Geld zu verdienen. So wird ein Zerrbild produziert, das die Zivilgesellschaft abwertet: Es ist alles das Gleiche. Ist es aber nicht.
Bühler: Natürlich gehören Arbeitgeber:innen genauso ins Lobbyregister. Aber ich teile Ihre Auffassung vom schiefen Framing nicht. Als Wirtschaftsvertreter habe ich umgekehrt den Eindruck, dass Lobbyismus immer stark mit Wirtschaft verbunden und damit als irgendwie illegitim markiert wird. Auch NGOs und Zivilgesellschaft vertreten Interessen und versuchen, Politiker:innen zu überzeugen. Wenn wir uns da nicht ehrlich machen, erzeugen wir ein verqueres Bild: Böse Wirtschaft gegen gute Zivilgesellschaft und NGOs.
Deckwirth: Das wäre natürlich zu einfach, aber die Wirtschaft kann selbst ihre Interessen durchsetzen. Doch wir brauchen auch eine starke Zivilgesellschaft, unabhängige Wissenschaften, Medien. Diese sind immer wieder Adressaten von Schmähkampagnen. Die Gemeinnützigkeit der Deutschen Umwelthilfe (DUH) etwa wurde von Lobbyist:innen infrage gestellt, nachdem die DUH gegen die Luftverschmutzung durch die Autoindustrie geklagt hatte. Aber zivilgesellschaftliche Organisationen sind auf das Statut der Gemeinnützigkeit angewiesen, dadurch müssen sie weniger Steuern zahlen – und können mehr in Kampagnen und Lobbyarbeit investieren. Wir sollten das Gemeinnützigkeitsrecht daher stärker schützen.
Christina Deckwirth, Referentin bei der NGO Lobbycontrol (li.), Joachim Bühler, Geschäftsführer des TÜV-Verbands (re.).