Naturtalent

Biosensoren im Gurkenflug

Die fliegenden Samen der Java-Gurke sind Vorbild für kompostierbare Sensoren, die Messungen in der Natur erleichtern könnten.

Was kann fliegen wie ein Segelflugzeug und klingt wie ein beliebtes Salatgemüse, ist aber keines? Die Java-Gurke (Alsomitra macrocarpa) beziehungsweise ihre Samen – deshalb wird sie auch Flugsamen-Gurke genannt. Essbar ist sie nicht. In den tropischen Wäldern Südostasiens, etwa auf der namensgebenden Insel Java, klettert dieses Lianengewächs an Baumstämmen bis in 40 Meter Höhe. Ihr Ziel? Ihrem Nachwuchs einen Startvorsprung zu verschaffen,  wenn ihre Kapselfrüchte aufplatzen und Hunderte von geflügelten Samen dem Wind übergeben – je höher sie starten, desto weiter können sie fliegen.

Jeder Samen geht dabei in einem flügelförmigen Mäntelchen aus pflanzlichen Zellwänden auf Flugreise. Dieser Samenschirm sieht aus wie ein halbtransparenter, großer Schmetterling: 14 Zentimeter breit spannen sich seine Flügel. Genug Fläche, um Auftrieb zu erzeugen und den zwei bis drei Zentimeter großen Samen durch die Luft zu tragen. So kann der bis zu 100 Meter weit gleiten – und außer Konkurrenz zur Mutterpflanze optimale Keimbedingungen finden. Sobald die Flugsamen auf dem feuchten Waldboden landen, beginnt der Samenschirm, sich zu zersetzen.

Im Sustainability Robotics-Labor der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) in Dübendorf haben Forscher:innen nun einen Bio-Gleiter entwickelt, der fliegt wie Java-Gurken-Samen und sich am Ende zersetzt wie deren Samenschirm. Fabian Wiesemüller, Robotiker und Materialwissenschaftler, war als Doktorand ab 2019 maßgeblich an der Entwicklung beteiligt. Die Vision: einen „transienten“, das heißt biologisch abbaubaren Sensor zu schaffen, der autonom Umweltdaten ermittelt, ablesbar macht und dann zerfällt, „ohne dass wir toxische Materialien in die Natur einbringen“.

Bio-Gleiter misst pH-Wert

Ein kompostierbarer Messfühler klingt nach Science-Fiction. „Ist es auch“, sagt Wiesemüller. Aber mittlerweile Realität, zumindest bei der Empa. Das Team unter der Leitung von Mirko Kovac hat den biologisch abbaubaren Gleiter nach Java-Gurken-Vorbild konstruiert. Er sieht aus wie ein Bumerang und trägt einen organischen Sensor, der den pH-Wert der Umgebung messen kann. Dafür wird ein dem Lackmus verwandter, aus Flechten extrahierter Farbstoff verwendet: Er wechselt seine Farbe je nach dem Säuregehalt der Lösung, mit der er in Kontakt kommt. Das Ganze ist in Größe, Form und Aerodynamik dem Flugsamen erstaunlich ähnlich und wiegt nur 1,5 Gramm.

Das flugfähige Gehäuse des Gleiters besteht aus reiner Kartoffelstärke, die in eine 3D-Form gepresst wird. Der organische Sensorfarbstoff ist von einer Schutzschicht aus Cellulose, Gelatine und Schellack bedeckt. Diese Schicht öffnet sich wie eine Blüte, wenn sie mit Regen oder hoher Luftfeuchtigkeit in Berührung kommt. Als Nächstes reagiert der Farbstoff im Inneren auf die Nässe und zeigt den pH-Wert des Niederschlags an. Da dieser Niederschlag die Erde tränkt, erlaubt sein pH-Wert den Forscher:innen Rückschlüsse auf den pH-Wert – und mögliche Belastungen – des Bodens.

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Das Messsystem als Ganzes könnte so funktionieren: Die Bio-Gleiter werden von einer Mutterdrohne über schwer zugänglichen oder weitläufigen Gebieten abgeworfen. Wie die Flugsamen verbreiten sie sich in alle Himmelsrichtungen. Sobald sie landen und Feuchtigkeit aufnehmen, verändert sich die Sensorfarbe. Die Mutterdrohne fliegt das Gebiet erneut ab, scannt die Farbpunkte aus der Luft, ein Programm errechnet daraus, wie sauer oder basisch die Böden sind. Die Gleiter selbst zersetzen sich in der Natur laut Angaben der Empa schon nach sieben Tagen, nach weiteren drei Wochen auch die Sensoren.

Warum ist der pH-Wert wichtig? Er beeinflusst das Nährstoffangebot im Boden und damit das Wachstum von Pflanzen. Theoretisch könnten solche Sensoren auch Daten über Temperatur, UV-Einstrahlung oder Feuchtigkeit sammeln, meint Wiesemüller. Vor allem die Präzisionslandwirtschaft könnte von den autonomen Datensammlern profitieren.

Noch ist es nicht so weit. Wiesemüller: „Der Bio-Gleiter ist ein visionäres Projekt.“ Ein Pionier, der zeige, dass es transiente Sensoren überhaupt geben kann. „Das Thema wird in den nächsten Jahren mit der Klimakrise noch relevanter“: Müll in der Natur, Waldbrände, giftige Landwirtschaft – unsere Böden sind belastet und brauchen Schutz. Ein kleiner Sensor, der fliegt wie die Samen der Java-Gurke, könnte Großes leisten, nämlich die dafür nötigen Daten sammeln, ohne Müll zu hinterlassen. Flieg, kleiner Bio-Gleiter, flieg.

 

GRAFIK: Eva Leonhad, ELLEMENTE: Freepik / Macrovector, Flaticon / Kornkun / Octopocto / Freepik

Er sieht aus wie ein Bumerang und trägt einen organischen Sensor, der den pH-Wert der Umgebung messen kann: Der Bio-Gleiter.

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