Es ist eine dieser Start-up-Bilderbuchlandschaften: Berlin, eine Fahrradstraße im Businesskiez Mitte, Backsteinbau mit Rundbogenfenstern, roh verputzte Wände, Kicker, in der Lobby ein Neonschriftzug an der Wand: „Passion“. Anna Alex, blonder Bob, Basecap, Sneaker, schwingt sich aus einem der altrosa Samtsessel, schnell, schnell zum Konferenzsaal. „Das Meeting ist schon im Gange“, flüstert sie und setzt sich an den langen Tisch zu Nick und Charly, Tim, Tony und den anderen, die heute aus Schweden und England, aus Spanien und der Schweiz angereist sind. Alle sechs Wochen ist Teamtreffen, immer gehört persönlicher Austausch dazu, strukturiert in 15-Minuten-Zweiertalks: Was macht dich neugierig? Was bedeutet Erfolg für dich? Anna Alex hat die Frage für sich längst beantwortet: „Mir geht es um Purpose – etwas Gutes bewirken.“ Deshalb hat sie die Firma gegründet: Nala Earth.
Welchen Wert hat die Natur? Und wie machen wir Menschen an den Schalthebeln der Ökonomie diesen Wert klar? Konzernen mit 100 Produktionsstätten und 500 Zulieferern, jenen 80 Big Playern also, die die globale Wirtschaft prägen. „Natur in die Boardrooms bringen“, nennt Anna Alex ihre Mission, in den Raum also, in dem Entscheidungen getroffen werden. Über Fabrikbau und Abholzung, Lieferketten und Rohstoffförderung. Laut World Economic Forum hängen fünfzig Prozent der globalen Wirtschaftsleistung von intakter Natur ab: dass genug Wasser für Baumwollfelder zur Verfügung steht, Mikroben für gute Bodenqualität sorgen, Insekten Pflanzen bestäuben. „Das haben wir zu lange für selbstverständlich gehalten“, sagt Alex. Firmen wie Eishersteller Häagen-Dazs müssen schon jetzt im Frühling Bienenkolonien zu ihren Plantagen in Kalifornien einfliegen, um die Mandelbäume zu bestäuben. Wildbienen gibt es dort nicht mehr. „Mit Nala Earth machen wir Companys klar: Wenn die Natur stirbt, stirbt auch das Unternehmen.“
Nala Earth ist eine Softwaremaschinerie, die den Zustand der Natur an jedem beliebigen Standort unter die Lupe nimmt und Risiken für das Unternehmen berechnet. Aus fünfzig Datenquellen weltweit, von Satelliten der European Space Agency und Nasa über Open Forest Watch bis zur ETH Zürich, stellt das Team ein „Dashbord für die Biodiversität“ zusammen. Unternehmen sehen damit: Liegen wir an einem Naturschutzgebiet, das vielleicht bald ausgeweitet wird? Sinkt der Grundwasserspiegel in der Region, sodass Wasser für die Produktion knapp werden könnte? Und welchen Einfluss hat unsere Produktion auf die Biodiversität am Standort? Alex: „Wir geben ihnen das Wissen für strategische Entscheidungen an die Hand, an denen in der Klimakrise niemand mehr vorbeikommt.“ Auch jene Daten, die sie brauchen, um die neuen Anforderungen der Nachhaltigkeitsberichterstattung an die EU zu erfüllen. Und die Großen beißen an: von Autobauer Volkswagen bis Chemiegigant BASF.
Vor zwanzig Jahren noch hätte sich Anna Alex nicht vorstellen können, dass sie mal die Player des Big Business um den Finger wickelt. Andererseits: Schon als Kind hat sie gelernt, sich durchzusetzen. Für die Hunde ihrer Familie ist sie der Boss. Sie liebt Tiere und Natur, an Wochenenden streift sie durch die Wälder vor Hamburg, dann geht’s in den Reitstall. Sie sitzt auf den größten, wildesten Pferden, obwohl sie mit 13 Jahren kaum die Kraft hat, sie zu halten. „Einmal habe ich bei einem Turnier den ersten Preis bekommen, nur weil ich oben geblieben bin.“
Tiere einschläfern? Dann lieber in der Wirtschaft was bewegen
Lange will Anna Alex Tierärztin werden. Bis ihre Mutter die entscheidende Frage stellt: „Aber kannst du sie auch einschläfern?“ Also geht Alex nach Freiburg, studiert Volkswirtschaft, Soziologie, Psychologie. Es ist der Perspektivenmix, der sie interessiert: Wie tickt die Wirtschaft, wie erklärt sich die Dynamik der Vielen, was bestimmt das Verhalten des Einzelnen? Damals entsteht ihr Gespür für unterschiedliche Blickwinkel auf ein Problem, das später so wichtig ist, um die Big Player zu überzeugen. Dass Alex danach in die Wirtschaft geht, liegt an einer Vermutung: Hier kann ich am meisten bewirken.
Theoretisch. Praktisch muss sie in ihrem ersten Praktikum im Sommer 2008, Unternehmensberatung KPMG, bei 40 Grad Kostüm und Strumpfhosen tragen, obwohl es keinen Kundenkontakt gibt. Wälzt nur Zahlen in der Steuerabteilung. Ein Freund rät: „Probier’s doch mal mit einem Start-up.“ Alex wechselt zum Online-Kredit-Newcomer Smava. Und verliebt sich gleich zweimal: in die Start-up-Welt – und den Produktmanager. Heute ist er ihr Mann.
Bei Smava gibt’s Sneaker statt Strumpfhosen, lockeren Teamspirit, und endlich kann sie einfach machen. Zum Chef gehen, wenn sie eine Idee hat oder Kritik. Abschluss und Noten zählen fast nichts, Ideen und Wille alles. Sich als Praktikantin für die Firma beim Ernst & Young Award bewerben? Klar, leg los.

Später, in ihrem ersten echten Job bei Rocket Internet, dem Star unter den Inkubatoren der Start-up-Szene in den 00er-Jahren, lernt Alex selbst, wie man das macht: ein Start-up bauen. Was ist in den USA erfolgreich? Das holen wir her, aber fix. Pragmatisch umsetzen, sich nicht mit Ja-Abers aufhalten. Die beste Idee gewinnt. Sie ist mittendrin, als Firmen wie Zalando und Groupon groß werden. Arbeit bis in die Nächte, Pizza, Kicker. In anderthalb Jahren wächst das Rocket-Team von 30 auf 150 Leute und Alex hat ihr „Toolkit fürs Leben“ entdeckt: Start-up-Bau. Wo sonst legen Investor:innen Millionen Euro auf den Tisch, damit du einfach loslegst? „Wo sonst kann man als junger Mensch so schnell so viel bewegen?“ Nur will sie nicht mehr zuschauen. Sie will selbst ran, gründen. Hundefutter, Gaming, Fashion. „Egal was.“
Ein Wohnzimmer im Sommer 2012. Anna Alex und ihre Kollegin Julia Bösch versinken in Hemden, Schuhen, Hosen, Gürteln. Sie stellen Männer-Outfits für jeden Anlass zusammen. Eine Art Kochbox für Männermode, „Personal Shopping ins Digitale übersetzt“, nennt es Alex. Nach dem Launch von Outfittery liegen sie nachts wach, morgens geht der erste Blick auf die Zahlen. Wird es funktionieren? Es funktioniert. Die Kund:innen lieben es, die Investor:innen kommen, die Presse feiert sie: zwei erfolgreiche Gründerinnen in der männlich dominierten Start-up-Szene. Allerhand. Ja, mit diesem Toolkit lässt sich was bewegen. Aber ist es wirklich egal was?
Er Betrugsbekämpfung, sie Climate-Tech
2018, nach einer langen Wanderung, steht Anna Alex dann mit ihrem Mann auf einem Berg. Vogelgesang, der Duft des Grases unter ihren Füßen, in der Ferne gluckert leise ein Bach. „Wir hatten gerade ein Kind bekommen, das zweite war unterwegs und plötzlich wurde die Frage wichtig: Wie können wir für eine Welt sorgen, in der sie auch morgen noch gerne leben?“ Auf dem Berg treffen sie eine Verabredung: Er kümmert sich um die Menschen, sie setzt sich für Natur und Tiere ein. Er geht in die Betrugsbekämpfung, sie gründet eine der ersten Climate-Tech-Companys der Zeit: Planetly.
Mit ihrem Kumpel Benedikt Franke von Rocket Internet entwickelt Alex eine Business-Idee, eine Art Vorläufer von Nala Earth: eine Software, mit der Unternehmen ihre CO2-Emissionen messen und Einsparmöglichkeiten ermitteln können. Der Zeitpunkt ist perfekt, Klima das Thema des Moments, Fridays for Future auf der Straße und bei Planetly stehen Unternehmen Schlange. BMW, Home 24, 350 Firmen sind dabei. Investor:innen überhäufen sie mit Millionen, schnell hat das neue Start-up 250 Mitarbeiter:innen. Eine „irre Reise“– mit jähem Ende: 2021 wird Planetly von der US-Firma Onetrust gekauft, die will es richtig großziehen. Welch Erfolg. Doch Onetrust verzockt sich, ein Jahr später macht es Planetly dicht. „Ich war noch Geschäftsführerin und musste meine Leute selbst entlassen – schrecklich.“ Der Glaube ans Toolkit aber bleibt: Start-up bewegt was.
Das Meeting bei Nala Earth ist vorbei. Der Blick von Mitgründer Nick Zumbühl wandert aus dem Konferenzraum im Dachgeschoss über Berlin. Fernsehturm, Dom, Synagoge. Irgendwo da draußen gibt es noch mehr von ihnen, den Firmen, die umdenken, auch wenn sich das gesellschaftliche Klima gegen Climate Tech gedreht hat. Unternehmen wie VW oder Intersport haben neuerdings Biodiversity-Spezialist:innen im Leitungsteam, Zementhersteller Holcem oder die IMG Bank eine:n „Head of Nature“. „Mit Nachhaltigkeit allein aber überzeugen wir keine:n mehr, nur mit Zahlen“, sagt Zumbühl. „Viele Firmen haben verstanden, dass es um Geld geht und um überlebenswichtige Unternehmensstrategien.“

Natürlich, es gibt auch die Greenwasher, die ein Bienenvolk auf ihr Firmendach stellen und das für Biodiversitätsschutz halten. Andere scheren sich nur um Natur, weil sie müssen, fürs Reporting. Manche nutzen den Nala-Check für den guten Ruf: Schaut, unter unseren Stromtrassen und Solarparks nimmt die Biodiversität zu. Auch gut, wenn die Fakten das zeigen. „Einige schwenken richtig um, investieren etwa ins Recycling, weil sie an unseren Zahlen sehen: Frisches Wasser gibt’s am Standort bald nicht mehr“, sagt Zumbühl. Und auch Banken fragen bei Kreditvergaben zunehmend: Könntet ihr Ärger wegen Naturzerstörung bekommen?
Anna Alex legt die Hände auf ihren Bauch – Kind drei ist bald am Start. Die 40-Jährige schaut noch alle 14 Tage im Office vorbei, sie hat vor allem Geld aus ihren Planetly-Anteilen investiert, am Konzept mit gefeilt, ihr Netzwerk mobilisiert. Das Operative stemmen Zumbühl und Mitgründer zwei, Nicolas Somogyi. Die große Climate-Tech-Welle ist vorbei, die Start-up-Szene weitergezogen. Nala Earth bleibt. „Das Thema bleibt ja auch“, sagt Anna Alex. „An manchen Tagen trifft es mich härter, an anderen weniger, dass es so viele Menschen ganz oben gibt, die so viel Einfluss und so wenig Wissen über den Wert der Natur haben.“ Also weitermachen – was sonst?
Anna Alex, Gründerin von Outfitery, Planetly und Nala Earth.