Slow Down

Die entschleunigte Region

Das Wendland. Vor dem Mauerfall kamen die Wochenendbesucher aus Westberlin zum Luftschnappen hierher. Es war der nächste erreichbare Zipfel BRD. Heute zieht es Menschen aus ganz Deutschland in diese Region. Die Zeit fließt hier langsamer als überall sonst im Land. Ein Besuch im Idyll

Still sei es hier, sagt Jan. Herrlich still! Er breitet die Arme aus, hinter ihm fließt im Nebel gemächlich ein Fluss durchs Flachland. Jan ist Musiker, hat auf dem Kiez in Hamburg gelebt. Aber jetzt ist er hier angekommen, in der weiten Natur, der echten großen Freiheit, wo er nicht mehr die ganze Zeit buckeln muss, nur um die Miete zu bezahlen. So ähnlich sieht das auch Hanne, Juristin, die ebenfalls aus der Stadt hierher kam, und nun in ihrer roten Küche in der alten Beutower Wassermühle Kuchen backt, auch für Kunden. Hanne schaut hinaus zu den Schafen auf der Wiese und stoßseufzt: „Das Beste ist, dass es hier weniger Autos und weniger Menschen gibt. Und viel mehr Platz!“

Jan Wölke, 37, und Hanne Eis, 40, leben im Wendland. Im berühmten Anti-Atomkraft-Gorleben-Castor-Wendland. Beide sind aus der großen Stadt in den kleinen, östlichsten Zipfel Niedersachsens gezogen, ganz bewusst. Deshalb sind sie auch so gute Protagonisten für die Werbekampagne in eigener Sache, die der Landkreis Lüchow-Dannenberg 2018 gestartet hat. Der Kreis wirbt um Zuzügler, er braucht junge Leute. Und jede Menge Fachkräfte. Also setzt man auf die allgemeine Sehnsucht nach Entschleunigung.

Der Lockruf ins Wendland richtet sich an Großstadtüberdrüssige und Hamsterradmüde; an Familien, die ihre Kinder lieber im Matsch als auf Beton spielen lassen wollen; an Menschen, denen „Nix-los-hier“ wie Balsam in den Ohren klingt und eine langsame Internetverbindung Digital Detox verspricht.

„Entschleunigter Bereich… bitte warten…“, blinkt es auf der offiziellen Website, wenn Inhalte geladen werden. Zu der Wendland-Kampagne gehören acht kurze Imagefilme über glückliche Zuwanderer wie Jan und Hanne. Die rund eineinhalbminütigen Clips sind humorvolle Porträts, selbstironisch mit Blasmusik unterlegt. Jeder Film endet mit der stolzen Feststellung „Ich bin Wendländer“. Und der an einen Ikea-Slogan angelehnten Frage: „Bist Du schon unterwegs?“

Ein „Idyll im Niemandsland“

In Auftrag gegeben hat das Filmprojekt die Fachkräfteagentur Wendlandleben, die im alten Postamt der Kreisstadt Lüchow sitzt. Die 2017 gegründete Beratungsstelle ist ein Modellprojekt der Wirtschaftsförderung des Landkreises Lüchow-Dannenberg, dem mit knapp 50.000 Einwohnern kleinsten Deutschlands. Sie unterstützt seit 2017 Neu-Wendländer kostenlos und individuell in Sachen Wohnungs-, Haus- oder Jobsuche, Familienleben und Freizeit.

Das Wendland sei ein „Idyll im Niemandsland“, heißt es in einer Bürgerbroschüre, allerdings „geprägt von Landflucht und einer immer älter werdenden Gesellschaft“. Die Region ist strukturschwach und so einsam, dass sie jahrzehntelang als guter Ort für ein atomares Endlager galt. Die Landwirtschaft ist in dem ehemaligen innerdeutschen Zonenrandgebiet die wichtigste Branche. Große Unternehmen kann man an einer Hand abzählen. Felder, Wälder, Feuchtgebiete prägen die Umgebung, es gibt ein paar hübsche Fachwerkstädtchen wie Hitzacker oder Dannenberg.

Und die so genannten „Rundlinge“ aus dem 18. Jahrhundert, etwa 100 kleine Dörfer, deren Häuser und Höfe im Kreis um einen Dorfplatz herum angeordnet sind. Mit ihnen bewirbt sich das Wendland bereits zum zweiten Mal um die Anerkennung als UNESCO-Weltkulturerbe.

Eine weitere Besonderheit der Region ist ihr reges Kulturleben, unter anderem resultierend aus dem Gorleben-Protest, der Künstler und Kreative zur Unterstützung des politischen Widerstands anzog. Seit 1989 gibt es jedes Jahr im Mai Konzerte, Ausstellungen, Performances und Lesungen im gesamten Kreisgebiet; „Kulturelle Landpartie“ nennt sich dieses größte selbstorganisierte Kulturfestival Deutschlands. „Eintöniges Landleben? Fehlanzeige!“, wirbt das Regionalmarketing.

Das Wendland-Einmaleins

Sigrun Kreuser und Arne Schrader wissen, wie sich ein Umzug ins Wendland anfühlt. Schrader, 31, in der Agentur „Wendlandleben“ für PR und Medien zuständig, ist im Wendland aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte er in Braunschweig, arbeitete in Hamburg – und ist nun für den neuen Job in die Heimat zurückgekehrt. Seine Chefin Sigrun Kreuser, 52, kam vor 13 Jahren aus Köln, der Liebe wegen. „Ich wollte nie aufs Land“, sagt sie und lacht. Die Vielzahl der Cafés und Geschäfte, das Ausgehen, das Großstadt-Gefühl fehlten ihr in den Wendländischen Kleinstädten mit bis zu 10.000 Einwohnern. Es habe gedauert, bis sie wirklich angekommen sei, sagt Kreuser. Heute findet sie das schmalere Angebot gut, „man konzentriert sich auf anderes.“

Wie ihre Unterstützung für Neu-Wendländer konkret aussieht, kann man beim sogenannten Wendland-Einmaleins erleben, einem zwanglosen Vernetzungstreffen an jedem ersten Donnerstag im Monat. Es findet in einem Raum des alten Postamts statt, der sonst als Coworkingspace dient. Meistens kämen zwischen 20 und 30 Menschen, sagt Sigrun Kreuser. Diesmal sind es nur 15. Es ist 18 Uhr, wer mag, wirft ein bisschen Geld in ein Einmachglas neben den Flaschen auf dem Getränketisch – und greift erst einmal zu.

Hanne Eis steht am Buffet, die Frau aus dem Imagefilm, und sie hat in ihrer Mühlen-Küche gezaubert. Alles gesund, alles selbst gemacht, alles lecker, das meiste zudem regional und saisonal: Bulgur-Salat mit Roter Bete, Kürbisstrudel, frisch gebackenes Brot, Käse und Trauben, Birnen und Walnuss. Um einen großen Stehtisch reihen sich Zugezogene und Einheimische. Da ist ein schmaler 63-Jähriger, der schon seit Jahrzehnten in der Gegend lebt und dieses Jahr eine Gruppe für Gleichgesinnte aufgemacht hat, „Die Wendigen“, die „füreinander da sein wollen“ – vom gemeinsamen Theaterbesuch bis zum Fahrdienst zum Arzt.

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Christiane Langrock-Kögel

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