Ehrenamt vor Gericht

Was machen eigentlich Schöff:innen?

Gerade werden die Schöff:innen für die nächsten fünf Jahre gewählt. Sie sind an Strafverfahren beteiligt und üben damit ein wichtiges demokratisches Ehrenamt aus. Was haben die Schöff:innen vor Gericht zu tun?

Wenn Magdalena Schmidt-Weigand einen Verhandlungstermin hat, geht sie am prachtvollen Haupteingang des Aufschrift „Für Vollzugsjustizbeamte“. Personaleingang. Amtsgerichts in Berlin-Moabit vorbei, biegt ab in die Wilsnacker Straße bis zu der kleinen Seitentür mit der Schmidt-Weigand zieht Anmeldung und Ausweis aus der Tasche, der Justizbeamte nickt, hoch geht es über zwei Treppen und lange Gänge in das Besprechungszimmer des Richters. Was liegt heute an? Drogenmissbrauch, Schlägerei, Diebstahl? Welche Zeug:innen sind geladen? Ein paar kurze Notizen. Die Tür zum Gerichtssaal öffnet sich, Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Angeklagte warten schon. Dann nimmt Magdalena Schmidt-Weigand Platz auf der Richter:innenbank.

Seit fünf Jahren ist Magdalena Schmidt-Weigand Schöffin am Jugendgericht und mit ihren 32 Jahren eine Seltenheit im Ehrenamt. Nach einer internen Umfrage des Bundesverbandes Ehrenamtliche Richterinnen und Richter sind gerade mal fünf Prozent unter 50 Jahren alt. Schöff:innen werden für fünf Jahre gewählt, haben bis zu zwölf Verhandlungen im Jahr, die mal wenige Stunden, mal Tage, im Extremfall Wochen dauern können. Für den Zeitaufwand gibt es 7 Euro pro Stunde, bei Verdienstausfall zusätzlich stündlich maximal 29 Euro brutto. Vorzeitig aussteigen ist nicht, auch Umzug, ein neuer Job oder die Geburt eines Kindes sind kein Argument. „Das schreckt gerade Jüngere ab“, vermutet Verbandspräsident Andreas Höhne.

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus

Bewerber:innen für dieses vielleicht wichtigste Ehrenamt der Demokratie werden im Frühjahr 2023 wieder händeringend gesucht. Landauf, landab steht die Wahl der Laienrichter:innen für die Strafgerichte an. An Landgerichten sprechen zwei Schöff:innen und drei Berufsrichter:innen Recht, an Amtsgerichten sitzen zwei Lai:innen neben einem Profi. 60.000 Schöff:innenstellen sind daher bundesweit zu besetzen, doppelt so viele müssen sich bewerben, so steht es im Gesetz. Die Idee für das Amt ist in Artikel 20 des Grundgesetzes festgelegt: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, daher ist das Volk an der Ausübung dieser Staatsgewalt gerade dort zu beteiligen, wo sie wie nirgends sonst in das Leben von Menschen eingreift, über Freiheit und Strafe entscheidet, über Einweisung in die Psychiatrie oder Bewährungsauflagen. Das Volk sitzt mit am Richter:innentisch und stellt dem Sachverstand von Jurist:innen die Lebenserfahrung von Lai:innen zur Seite.

Das Amt steht allen Staatsbürger:innen zwischen 25 und 70 Jahren offen, vorausgesetzt sie sind nicht vorbestraft – und keine Jurist:innen. Eine schriftliche Bewerbung bei der Kommune reicht, sie muss die Wahl im Amtsblatt ausschreiben. Amtsblatt? Da fängt das Problem an. Wer kennt es, wo finde ich es, kurz, wer bekommt überhaupt mit, dass Schöff:innenwahl ist? Und jede Kommune geht anders vor. So hat Hamburg gerade 23.000 Bürger:innen angeschrieben: „Begründen Sie, warum Sie nicht Schöff:in werden können.“ Andere Kommunen klopfen bei Vereinen an: Wen schlagt ihr vor? Melden sich nicht genug Freiwillige, werden Einwohner:innen im Melderegister ausgelost. Ein „Schöff:innenwahlausschuss“ bestimmt aus den Vorschlägen die Schöff:innen für die nächsten fünf Jahre, im Idealfall einen in puncto Alter, Beruf und Geschlecht repräsentativen Bevölkerungsmix. Für die Wahlen 2023 hat der Verband daher erstmals mit einer großangelegten Online-Kampagne für das Amt getrommelt: „Auch du kannst Schöffe sein. Bewirb dich.“

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Schmidt-Weigand hat schon mit 15 ihre Mutter, eine Schöffin, in den Gerichtssaal begleitet. Es hat sie nicht mehr losgelassen: Was geht in den Menschen vor, über deren Leben und Taten dort verhandelt wird? Was ist passiert, dass sie Straftaten begehen? „Ich weiß, wie privilegiert ich bin – weiß, akademisch, deutsch.“ Daran kann sie nichts ändern. Aber sie kann versuchen zu verstehen und auszuloten: Was kann getan werden, um den Menschen aus dieser Situation zu helfen? „Immerhin bin ich nur doppelt so alt wie die meisten, über die dort verhandelt wird.“

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Mehr als ein Jahr nach der Bewerbung beim Jugendgericht lag der Umschlag im Briefkasten: „Herzlichen Glückwunsch, Sie sind jetzt Jugendschöffin.“ Was das heißt, erfuhr Schmidt-Weigand, die als Beraterin für Mental Health arbeitet, erst richtig bei einem Einführungstermin des Landesschöff:innenverbandes. Dass Entscheidungen mit Zweidrittelmehrheit gefällt werden etwa – zwei Schöff:innen können einen Berufsrichter überstimmen – oder dass Schöff:innen vor Gericht selbst Fragen stellen dürfen.

Pflicht sind solche Einführungen nicht. Manchmal organisieren die Verbände umfangreichere Fortbildungen,Kommunen und Gerichte machen kaum Angebote. Jörg Schmitz, Künstler aus Hanau, ärgert das, seit er Schöffe ist. Vor zwei Jahren hat er daher Schöffen TV gegründet, eine YouTube-Plattform voller Infos über das Amt. „Wenn Laien ohne Kenntnisse neben Berufsrichter:innen sitzen, gibt es ein Machtgefälle“, so Schmitz. „Schöff:innen müssen wissen, worauf es ankommt, um ihre Rolle gut ausfüllen zu können.“

Die richtigen Fragen stellen

Das „Fragerecht“ im Gerichtssaal ist eine gute, wichtige Sache, aber nur „Tatsachenfragen“ sind erlaubt, sonst droht der Vorwurf der Befangenheit. „Man muss die richtige Technik kennen und trainieren“, so Schmitz. „Sonst ist die Hemmschwelle hoch, manche Schöff:innen fragen nie.“

Schöffin Schmidt-Weigand weiß, wie Aufregung und Unsicherheit bremsen können. Sie macht sich genaue Notizen, oft genug hat sie erlebt, wie sich Erinnerungen von Zeug:innen oder Angeklagten ändern im Laufe eines langen Prozesses. Erst liegt das Messer rechts, später links. Ganz sicher. Sie fragt Richter:innen noch im Besprechungszimmer: Kann ich spontan fragen oder läuft das über Sie? „Ich halte es für eine Sache des Respekts, Fragen zu klären, wenn ich welche habe.“ Die Angeklagten haben sich „mit den Augen verabredet“, das Opfer abzuziehen? Schmidt-Weigand: „Wie habe ich mir das vorzustellen?“ Sie erklären ihre Tat mit „So ist das in der Jugend“? Schmidt-Weigand: „Was heißt das?“ Wie sonst soll sie urteilen, die „Zwischentöne entschlüsseln“, die so wichtig sind, um sich ein Bild zu machen über Motive, Hintergrund, Ablauf einer Tat?

Oft ärgert sie sich über all die Erwartungen, die am Jugendgericht auf die Angeklagten einprasseln. Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Du musst, du musst, du musst … Ohne, so sieht sie es, ausreichend nach den Ursachen zu fragen, warum diese Jugendlichen vieles nicht wissen, können, schaff en. „Ich frage lieber: Was wäre, wenn dir keine Hindernisse im Leben im Weg lägen? Oder: Was brauchst du, damit dir so ein Fehltritt nicht wieder passiert?“ Sicher, manche zucken mit den Schultern, andere fühlen sich veräppelt. Aber es gibt auch jene, die antworten: „Jemanden, der jeden Tag kontrolliert, dass ich aufstehe und zur Schule gehe.“ Schmidt-Weigand: „Es gehört zu unserem Job, geeignete erzieherische Maßnahmen zu finden. Ich finde es wichtig, Jugendliche daran zu beteiligen.“

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Ein anspruchsvolles Ehrenamt

Es ist diese andere Perspektive auf die Lage vor Gericht, die Schöff:innen für Hasso Lieber so unverzichtbar macht. Lieber hat jahrelang in Bochum Recht gesprochen, heute informiert der Pensionär auf seiner Website parijus.de über das Amt, gibt Online-Fortbildungen, schreibt Bücher in Sachen kleines Schöff:innen-Einmaleins. „Bei der Rechtsprechung ist die menschliche Beurteilung mindestens ebenso wichtig wie das juristische Know-how: Ist ein Angeklagter glaubwürdig, wie beurteile ich seine oder ihre Motive? Gemeinsam kommt man auf ganz andere Gedanken.“ Doch immer noch winke ein Teil der Richter:innen ab: „Ich lass mir doch von Laien nicht ins Handwerk pfuschen.“ Lieber hält das für gefährlich. Seit den 1990er-Jahren sei das „Justizsystem auf Ökonomisierung getrimmt“. Seit einer Justizreform entscheiden nun bis zum Strafmaß von zwei Jahren Richter:innen alleine. Das ist billiger. Auch sonst verzichten manche Jurist:innen gern auf den Blick der Lai:innen: Nach der aktuellen Studie Die Praxis der Verständigung im Strafprozess werden Schöff :innen bei vielen „Gerichtsverständigungen“ – Deals zwischen den Parteien – aus dem Raum geschickt. Lieber: „Dabei ist das nicht zulässig.“

Manchmal hakt die Zusammenarbeit aber auch, sagt Lieber, weil die Schöff :innen nicht wirklich geeignet seien. „Es ist ein extrem anspruchsvolles Ehrenamt, man muss sich eine Meinung bilden und äußern können, sich mal durch lange Dokumente arbeiten, langweilige Sitzungen durchhalten und alles mit dem Job vereinbaren.“ Dass Laienrichter:innen nicht auch nach solchen Fähigkeiten ausgewählt werden, hält Lieber für dringend reformbedürftig.

Schmidt-Weigand hat sich wieder beworben. Schlaflose Nächte hat ihr ein Urteil noch nicht bereitet, „meist war die Lage eindeutig, ein Glück“. Nicht immer fühlt sich ein Urteil gut an, gerade bei Sexualstraftaten, die sie manchmal tagelang verfolgen. Die Arbeit im Räderwerk der Justiz hat ihr Bild vom Rechtssystem geändert. „Ich habe Public Policy studiert, aber die Praxis der Demokratie ist unendlich viel komplexer.“ Angeklagte, Opfer, Zeug:innen, Sozialpädagog:innen, Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Jugendamt an einen Tisch bringen – schon das ein Kraftakt. „Eines hätte ich nie gedacht: Wie sehr sich alle von den Richter:innen bis zu den Justizvollzugsbeamt:innen in diesem System wirklich bemühen, einen guten Job zu machen.“

Foto: unsplash / Tingey Injury Law Firm

Die Göttin der Gerechtigkeit, Justitia, mit Waage – zur Abwägung der Sachlage (Symbolbild).

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