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Eingepackt in drei Thermolagen plus Drysuit, schaukle ich auf einem Fischerboot am nördlichsten Zipfel Europas. Vincent Kneefel, ein befreundeter Unterwasserfotograf, gleitet mit seiner bullaugenförmigen Kamera ins Wasser. Er will Orcas für sein Buchprojekt The Ocean Story fotografieren. Gut vierzig Meter entfernt stechen schwarze Finnen aus den Wellen, sie sind so lang, wie ich groß bin. Sie trennen das Wasser wie Schwerter, lautlos, bis auf ihr prustendes Ausatmen. „Los jetzt!“, brüllt mir der Kapitän mit Kippe im Mundwinkel zu, Adrenalin schießt durch meine Blutbahnen, als hätte mir der Seebär mit seinen Worten eine Spritze verpasst. Ich bleibe mit einer Flosse am Motor hängen und plumpse ins sechs Grad kalte Novemberwasser. Filmreif. Die Luft im Drysuit lässt mich wie eine Boje treiben. Ich drücke aufgeregt den Kopf unter Wasser und atme tief ein – schade, dass ich den Schnorchel noch nicht im Mund hatte.
Dies ist mein Fangirl-Moment. Zeit an der Nordsee und am Atlantik verbringe ich am liebsten im stürmischen Herbst oder Frühling, Bücher und Dokumentationen über die Wunder der Ozeane faszinieren mich seit der Kindheit, ich besuche keine Aquarien und esse Walen keine Fische weg. Bei den Dokus Blackfish und The Cove habe ich durchgeweint. The Whale dokumentiert die Geschichte des einsamen Orca-Weibchens „Luna“ bei Vancouver, die sich mit Menschen anfreundet. Und doch kann ich jetzt als Boje im Bergsfjord nur an Frank Schätzings Fiktion Der Schwarm denken. Darin greifen „Killerwale“ Menschen an.
Die fünfköpfige Orca-Gruppe ist nur noch etwa zwanzig Meter entfernt, sie nehmen Kurs auf uns. Männchen werden bis zu zehn Meter lang, doch ohne medialen Filter wirken die Tiere plötzlich klein und verletzlich, wahrscheinlich, weil die Landschaft um sie herum so gigantisch ist: kantige Berge mit Adern aus Schnee, lange Wellen, die der eisige Meereswind in die Fjorde hineindrückt. Die nächstgelegene Stadt ist drei Fähr- und zwei Busstunden entfernt. Hier und da klammert sich ein Holzhäuschen an die Felsen, fährt ein Fischkutter sein Netz ein. Es ist Heringssaison.
Atlantische Heringe überwintern an der Küste Norwegens, wo sie ein Festmahl aus Plankton erwartet. Orcas und Buckelwale folgen ihnen in die Fjorde. Noch. Teile der Barentssee haben sich in nur 16 Jahren um 1,5 Grad erwärmt, den Tieren wird es zu heiß. Vincent ist gekommen, um solche Geschichten zu erzählen: Ozeanerhitzung, Überfischung, Plastikmüll, und was wir dagegen tun können. Der Niederländer hat lange beim WWF gearbeitet, ist passionierter Fotograf, Kitesurfer und Hockeyspieler. Warum er keine Angst habe, will ich auf dem Boot von ihm wissen. „Ich finde alles gefährlich, was nicht vorhersehbar ist. Zum Beispiel ein Torschuss beim Hockey. Orcas gehören nicht dazu.“
Ich höre nur das dunkle Fjordwasser schwappen, sonst ist es ruhig. Die Strömung zieht mich mit sich, die Sicht ist schlecht. Auf etwa fünf bis zehn Meter müssten die Tiere an mich heranschwimmen, damit ich sie sehe – ihre Entscheidung. Obwohl ich mit Drysuit und Kappe einer Robbe ähnele, vertraue ich auf das gute Sehvermögen der Orcas. Nähern sie sich, dann aus Neugierde.
Das Wort „Killerwal“ ist ein Missverständnis. Nicht nur, weil Orcas zur Familie der Delfine gehören. Manche Orca-Populationen jagen neben kleinen Fischen auch Wale und Haie. Spanische Seefahrer:innen tauften sie daher wohl „asesinas de ballenas“, Killer von Walen. Irgendwann wurde das verkürzt und weltweit übernommen. Angriffe von freilebenden Orcas auf Menschen wurden noch nie gemeldet. Angriffe auf Boote schon. Im Sommer 2020 rammte eine Orca-Gruppe Segelschiffe vor der spanischen Küste. Einige Meeresbiolog:innen vermuten, dass die Schatten der Boote Ängste auslösten. Denn kurz zuvor waren zwei verwandte Weibchen von Harpunen verletzt worden. Orcas haben außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten, sind sozial und empathisch, können Traumata erleben und in Dimensionen wie Vergangenheit und Zukunft denken, so der deutsche Verhaltensforscher Karsten Brensing. Muttertiere, die ihre Babys tot zur Welt bringen, trauern, indem sie die Kadaver durchschnittlich eine Woche an der Wasseroberfläche balancieren. Es kommt vor, dass Orcas fremde, einsame Artgenossen in ihre Herde aufnehmen, und dass sie sich die Sprachen anderer Delfinarten aneignen.
Sie sind verschwunden, wahrscheinlich tief unter mir durchgetaucht, ohne hallo zu sagen. Völlig zu Recht, nach meinem amateurhaften Auftritt. Ich paddele zurück zur Strickleiter des Bootes. Sein Kapitän lauert mit einer Angel an der Reling. Nach wenigen Sekunden zieht er sein Mittagessen aus den Fluten, Kabeljau. Hinter ihm geht die Morgenröte nahtlos in den Sonnenuntergang über. Die Bucht ist noch gut besucht: In der Ferne prusten Buckelwale Fontänen in die Dämmerung, Adler kreisen über den Klippen, Möwen stellen Fischkuttern nach. In meinem Kopf läuft kitschige Filmmusik. Auch wenn ich mich wohlfühle: Ich gehöre hier nicht hin.
Orcas haben außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten, sind sozial und empathisch. Der Spitzname „Killerwal“ ist irreführend.