Die Zukunft des Autos ist süß. Zumindest, wenn es nach VW-Markenchef Ralf Brandstätter geht, der im Juli 2021 verkündete, in Brasilien wolle Volkswagen mehr und mehr „grünen“ Treibstoff aus Bagasse beziehen: So nennt man die gemahlenen Überreste, die in der Zuckerproduktion nach dem Auspressen von Zuckerrohr zurückbleiben. Lässt man die Bagasse fermentieren, kann man daraus Bioethanol destillieren.
Brasilien ist der größte Zuckerhersteller der Welt und nach den USA der zweitgrößte Produzent von Bioethanol. Zwischen 2007 und 2019 stieg die Produktion von 18 Milliarden Liter auf 34 Milliarden Liter, bis 2030 sollen es 54 Milliarden werden. Mittlerweile macht Zuckerrohr-Ethanol laut Daten des brasilianischen Energieministeriums fast 20 Prozent des brasilianischen Energiemixes aus und wird in großem Stil Benzin beigemischt.
Aber das Geschäft ist mehr als schmutzig. Oft kriminelle Großlandbesitzer:innen kontrollieren in Brasilien den Zuckermarkt, sie roden gewaltige Flächen für den Anbau und vertreiben dabei Klein-Bäuer:innen und Indigene. Wurde im Jahr 2000 allein im Amazonas-Bundesstaat Maranhão auf 19.912 Hektar Zuckerrohr angebaut, waren es im Jahr 2019 laut dem Brasilianischen Institut für Geografie und Statistik bereits 47.405 Hektar – eine Steigerung um fast 140 Prozent. Die gesamte Anbaufläche im Land beläuft sich derzeit auf über zehn Millionen Hektar, ein großer Teil liegt im Gebiet des Atlantischen Regenwaldes. Um die ehrgeizigen Pläne von Staat und Industrie bis 2030 zu erreichen, werden weitere fünf Millionen Hektar benötigt.
Also ließ Präsident Jair Bolsonaro Ende 2019 ein seit dem Jahr 2009 geltendes Dekret annullieren, das den Anbau von Zuckerrohr im Amazonasgebiet und dem weltweit größten Sumpfgebiet Pantanal verhinderte. Dabei stehen Teile des letztgenannten Biosphärenreservats unter Naturschutz, sie gehören seit 21 Jahren zum Weltnaturerbe der Unesco. Neben der Rodung verursacht auch der Anbau von Zuckerrohr ernste ökologische Kollateralschäden: Es braucht enorme Mengen an Wasser und ist extrem anfällig für Schädlinge, weshalb in der Landwirtschaft Unmengen von Pestiziden eingesetzt werden.
Nachhaltiges Nischenprodukt
„Wenn Bioethanol ein Anreiz ist, die Entwaldung voranzutreiben, kann er kein nachhaltiger Energielieferant sein“, sagt Oliver Inderwildi. Der Ökonom und Chemiker forscht an der Cambridge-Universität zu smarten und nachhaltigen Dekarbonisierungsmaßnahmen. „Sobald eine Pflanze in Monokultur angebaut wird, nimmt der Befall durch Schädlinge immer stärker zu, und der CO2-Abdruck bei einem interkontinentalen Import ist gigantisch.“ Dennoch sei Zuckerrohr ein nachwachsender Rohstoff und habe eine bedeutend bessere CO2-Bilanz als Erdöl. Das Abfallprodukt Bagasse als Energieträger ist also durchaus sinnvoll, findet Inderwildi, so lange das Zuckerrohr verantwortungsvoll und ökologisch angebaut werde. „Für lokale Energiesysteme und eine effektive Kreislaufwirtschaft ist es ein sehr gutes Nischenprodukt.“
Die bedeutendste Organisation, die sich für eine nachhaltige Zuckerrohr-Industrie einsetzt, ist die Initiative Bonsucro, die unter anderem in Zusammenarbeit mit dem WWF ins Leben gerufen wurde. Im Rahmen der Bonsucro-Audits werden der Energie- und Wasserverbrauch sowie die Treibhausgasemissionen von Zuckerfabriken bewertet und optimiert. Wer ein Bonsucro-Zertifikat haben will, dass von der EU als Nachhaltigkeitsstandard anerkannt wurde, muss Löhne und Arbeiter:innenrechte sichern, darf kein geschütztes Gebiet roden und muss Pestizide stark reduzieren.
Livia Ignácio, Bonsucro-Managerin in Brasilien, ist überzeugt, dass nachhaltiger Zuckkerrohranbau möglich ist. „Über 130 Zuckermühlen sind bereits von Bonsucro zertifiziert. Unsere Daten zeigen, dass sie ihre CO2-Emissionen nach nur einem Jahr um durchschnittlich 5,5 Prozent reduzieren.“ Ignácio gibt außerdem an, dass von Bonsucro zertifizierte Mühlen durchschnittlich 11,5 Tonnen Zuckerrohr pro Hektar mehr produzieren als nicht zertifizierte.
Potenzial hat auch die sogenannte Vinasse, die vergorene Melasse von Zuckerrohr, aus der in Brasilien auch Biogas hergestellt wird. Würden alle Nebenprodukte von Zuckerrohr zur Energiegewinnung genutzt, könnte man damit neue Anbauflächen einsparen und trotzdem mehr Energie gewinnen. Zu den Kunden des zertifizierten Zuckerrohrs von Bonsucro gehört neben Coca Cola Lego: Aus Zuckerrohr-Bioplastik sollen nachhaltige Bauklötze entstehen.
„Eine großartige Pflanze, wenn es um Kreislaufwirtschaft geht“
Unterdessen setzen Chemiker Inderwildi in Cambridge und andere Forschende weltweit ihre Hoffnung auch auf eine andere Zuckerpflanze: die Blaue Agave. Die Sukkulente ist heimisch in Mexiko, aus ihrem ananasförmigen Kern wird der berühmte Tequila gewonnen. „Die Agave hat gegenüber Zuckerrohr einige bedeutende Vorteile“, erklärt Inderwildi. „Sie kann in trockenen, noch ungenutzten Wüstenregionen gedeihen und konkurriert daher nicht mit Ackerflächen für Nahrungsmittel. Außerdem braucht sie praktisch kein Wasser, ist hitze- und dürreresistent.“
Für Europa ist die Agave interessanter als Zuckerrohr, weil sie auch in Spanien und Portugal wächst. Hier gibt es bereits Plantagen, die Sisal herstellen, eine Faser, die aus den Blättern der Sukkulente gewonnen wird. Aus Sisal wurden bis in die 1960er-Jahre Kaffeesäcke, Taue und andere Materialien hergestellt – bevor billiges Plastik zum Einsatz kam und die Faser verdrängte. Designer:innen weltweit haben die Faser in den vergangenen Jahren wiederentdeckt und verarbeiten sie zu eleganten Teppichen. „Es ist eine großartige Pflanze, wenn es um Kreislaufwirtschaft geht“, sagt Inderwildi.
In Mexiko, dem Heimatland der Agave, wird an der Universität Coahuila an der Produktion von Agaven-Ethanol geforscht. Laut den Forscher:innen werden im Land bisher etwa vierzig Prozent der Tequila-Agave als Produktionsabfälle vernichtet. Das ungenutzte Potenzial ist also riesig.
In Australien führten Wissenschaftler:innen fünf Jahre lang eine chemische Analyse auf einer eigens dafür angelegten Agavenfarm in Queensland durch. Ein internationales Team rund um den Biotreibstoff-Experten Xiaoyu Yan von der Universität Exeter wertete den Versuch 2020 aus und kam zu dem Schluss: „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Bioethanol aus Agave dem aus Mais und Zuckerrohr in Bezug auf Wasserverbrauch und Qualität, Treibhausgasemissionen sowie Ethanolausstoß überlegen ist.“ Auch Yans Team betonte, wie wichtig die Nutzung von Agave in Form einer Kreislaufwirtschaft sei: So bauen seit Neuestem mehrere australische Getränkehersteller auf Tausenden Hektar Land Agaven an, um nach mexikanischem Vorbild Schnaps zu brennen. Auch die Abfälle des ersten australischen Tequilas sollten nicht verschwendet werden.
Produktion von Bioethanol: die Tequila-Agave hat ein bisher beinahe ungenutztes Potenzial.