Ein Brand im Parque Chapultepec ist an diesem Morgen im Frühsommer Tanya Müller-Garcias Hauptproblem. Die Luftsensoren im größten Stadtpark von Mexiko City haben Alarm geschlagen, nur wenige Sekunden später wandert Müller-Garcias Blick angestrengt über die vier Flachbildschirme in ihrem Büro.
Ein paar Kilometer vom Brandherd entfernt, kann Müller-Garcia in Echtzeit die Veränderung der Luftqualität im Park verfolgen. Sie blickt auf die weiß schimmernden Zahlen mit den CO2– und Ozonwerten – alles stabil – und informiert sich über die Größe des Feuers. Aufrecht am Schreibtisch stehend, den Hörer in der Hand, erteilt sie Anweisungen.
Müller-Garcia ist die Umweltministerin von Mexiko City. Seit 2012 im Amt, wäre für die 43-jährige Deutsch-Mexikanerin eine Verschlechterung der Luftqualität, gar ein Abbrennen einer großen Grünfläche, ein herber Rückschlag. Einerseits. Andererseits: Hätte ihr bei Amtsantritt jemand gesagt, dass einmal ein Feuer in einem Park ihr größtes Problem an einem Arbeitstag sein würde, sie hätte dankend angenommen.
Zuckerbrot und Peitsche für den Moloch Mexiko Citys
Mexiko City – ein Moloch mit mehr als 20 Millionen Einwohnern, knapp die Hälfte davon lebt im Stadtzentrum. „La ciudad“, das ist eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, der Inbegriff einer Metropole, die aus allen Nähten platzt: Verkehrshölle, Megacity, Menschenchaos. Vor allem war die Stadt berüchtigt als die schmutzigste der Welt. Doch diese Zeiten sind vorbei. Auch wegen der Arbeit von Müller-Garcia.
Seit 2010 regiert der Plan Verde die Hauptstadt Mexikos: Bis 2030 soll der grüne Plan zusammen mit anderen Projekten dafür sorgen, dass aus der grauen eine grüne, nachhaltige Stadt wird. Es ist ein zäher Kampf. Doch langsam zeigen sich Erfolge. Mit einer Mischung aus neuen Gesetzen, steuerlichen Anreizen und Pädagogik hat sich Mexiko City auf den Weg gemacht, eine der grünsten Städte in Lateinamerika zu werden.
Müller-Garcia nennt das Programm eine Mischung aus „Zuckerbrot und Peitsche“. Sie lacht, weil sie diese Wendung noch aus ihrer Zeit in Deutschland kennt. In Mexiko City geboren, wuchs die Tochter eines Deutschen am Bodensee in Baden-Württemberg auf. In einer Idylle also, mit sauberer Luft, gut ausgebauten Radwegen und funktionierendem Nahverkehr.
Ein Multitalent für die Umwelt
Dann kam Mexiko City. Als Teenager zog sie 1988 zurück in die Heimat ihrer Mutter. Die Zeit nach ihrem Umzug nennt sie höflich „einen Riesenunterschied“. Tatsächlich gab es zu dieser Zeit das Thema Umweltschutz in Mexiko City nur auf dem Papier: Kein Polizist setzte das offizielle Fahrverbot für PKW durch, zusätzlich sorgten die Benzinraffinerien im Norden der Stadt verlässlich für Nachschub an kaum gefilterten Industrieabgasen. Smog und Abgase umschlossen Mexico City fest wie ein Ring; die Luft war so schlecht, dass die Spatzen tot von den Bäumen fielen.
Kein Wunder, dass Müller-Garcia lieber über die Gegenwart spricht. Denn die kann sie mitgestalten. 2012 berief der neu gewählte Bürgermeister Miguel Ángel Mancera sie in sein neues Kabinett. „Er wollte weniger Politiker, sondern mehr Fachleute in seinem Team“, sagt Müller-Garcia, die geradezu prädestiniert zu sein scheint für den Posten: Sie hat in Berlin „International Agricultural Economics and Management“ studiert und arbeitete danach als Agraringenieurin in Honduras. Jahrelang pendelte sie: USA, Berlin, Honduras. 2002 kehrte sie schließlich nach Mexiko City zurück – voller Ideen, wie sie ihre Geburtsstadt von der Atemnot befreien könnte.
Sie engagierte sich. Als Wissenschaftlerin. Als Aktivistin. Sie unterstützte den Ausbau von Stadtgärten im Zentrum von Mexiko City, in denen die Anwohner selbst angebautes Gemüse ernten können. Sie machte sich einen Namen, der bis in die höchsten Kreise der neuen Regierung reichte. Müller-Garcia wurde als Spezialistin für urbanen Gartenbau Politikerin. Und legte los.
Mit kostenlosen Rädern gegen die Luftverschmutzung
„Die Zeit der Straße ist vorbei“, wiederholt sie unermüdlich, wenn es ihr etwa um die Bedeutung der Radfahrer für eine Verbesserung der Luftqualität geht. Vorbei sind für sie Straßen, die einzig für den Autoverkehr konzipiert sind. Straßen sind für Müller-Garcia öffentlicher Raum. Und der ist für alle da. Für Fußgänger, Fahrräder, den Nahverkehr – und erst ganz am Schluss für Privatautos.
Untersuchungen im Auftrag ihres Umweltministeriums ergaben, dass von den 20 Millionen Autofahrten pro Tag in Mexiko City mehr als die Hälfe kürzer als acht Kilometer sind. Für Müller-Garcia ein klares Zeichen, eine Infrastruktur für den Fahrradverkehr zu schaffen. Im Zentrum, in den Szenevierteln Condesa und Roma und an den großen Avenidas rund um die Siegessäule am Paseo de la Reforma kann man jetzt kostenlos Fahrräder leihen, mit denen sich auf extra angelegten Fahrradspuren entlang der Straßen schnell und sicher an den Staus vorbeiziehen lässt. Mehr als 200.000 Nutzer haben sich bislang registriert.
Müller-Garcia gibt zu, dass die Zahl gemessen an der Bevölkerung niedrig ist. „Aber das Interesse wird immer größer.“ Weil viele Einwohner das Fahren auf zwei Rädern nie gelernt haben, unterhält die Stadt sogar eigene Fahrradschulen. Dennoch bleibt ein Problem, das die auf das Engste bebaute Stadt nicht lösen kann: Es gibt keinen Platz für mehr Grünflächen. Zwar gibt es in Mexiko City eine Vielzahl an Parks – ob Bosque de Chapultepec, die Schwimmenden Gärten von Xochimilco oder die baumgesäumten Alleen von Roma oder Condesa. Doch angesichts der mehr als 50 Millionen Tonnen Schadstoffe, die Autos und Fabrikschlote jährlich in die Luft pusten, ist die Wirkung der Grünflächen auf die Luftqualität marginal.
Das Gemüse kommt vom Dach
Müller-Garcia fand die Lösung auf den Dächern der Stadt. Die sind flach, unbebaut – und bieten darum Millionen Quadratmeter an freier Fläche. Und die will sie begrünen: die „Azoteas verdes“ sollen die Luft kühlen, Sauerstoff liefern und Schadstoffe filtern. Zugleich dienen sie als Gärten mit Gemüse, Früchten und Gewürzen für die Privathaushalte. Außerdem steigerten sie den Immobilienwert der Gebäude.
Allein 2015 stellte das Umweltministerium mehr als 1,3 Millionen Euro für das Projekt bereit und ließ Dächer auf fast 30 Gebäuden mit einer Gesamtfläche von über 60.000 Quadratmetern begrünen. Nur ein Anfang, das ist Müller-Garcia klar. Doch rechne man das Potenzial der „Azoteas verdes“ hoch, werde die Luftqualität in allen Stadtteilen deutlich verbessert.
Doch auch wenn das Umweltministerium Rahmenbedingungen und Anreize setzt – um möglichst große Wirkung zu erzielen, braucht es mehr: das Engagement der Bevölkerung. Das ist jedoch gerade bei Dachterrassen kaum vorhanden.
Die Idee gefällt vielen: begrünte Dächer, auf denen jeder kostengünstig eigenes Gemüse ernten kann. Bessere Luft! Doch die Dachterrassen, die Müller-Garcia bislang bauen ließ, gelten als zu kompliziert und zu teuer. Sie bestehen aus abdichtenden Folien, dazu Kiesbetten und Erde, verteilt über die gesamte Fläche der Dächer. Das sorgt für Zweifel: Ist das Gewicht nicht zu hoch für die teils über 100 Jahre alten Häuser? Wird nicht doch Wasser durch die Decke tropfen? Und: Ich kann mir das trotz finanzieller Anreize des Umweltministeriums einfach nicht leisten! Für den normalen Bürger nachvollziehbare Argumente, keinen Umbau in Erwägung zu ziehen.
Gärten in Modul-Bauweise
Müller-Garcias Idee hat also Lücken, die aber immer mehr Kleinunternehmer und NGOs in Mexiko City füllen. Sie nennen sich ReUrbano, Cultiva Ciudad oder Sembradores Urbanos, Stadtbauern. So heißt die Non-Profit-Organisation, in der Lily Foster seit 2007 mit ihrem Team aus Architekten, Ökologen und Designern Pläne entwickelt, um leere Dachterrassen in blühende Gärten zu verwandeln. Die US-Amerikanerin kam vor mehr als zehn Jahren mit einem Forschungsstipendium der Berkeley Universität nach Mexiko City. Das Thema: Stadtökologie. Foster legte Gärten an in den Brachen, die das Erdbeben von 1985 in die Stadt gerissen hatte, und forschte über den Schadstoffabbau mithilfe von Pflanzen und Pilzen. Als sie von der Initiative der Umweltministerin hörte, dachte Foster gleich: Dachterrassen, das ist etwas für Sembradores Urbanos!
Seitdem haben Foster und ihre Mitstreiter hunderte Dächer in ganz Mexico begrünt. Sie setzen jedoch anders als die Stadtverwaltung auf Modul-Bauweise: verschieden große und hohe Holzkästen, die auf den freien Flächen aufgestellt werden. „Wir imitieren das System der Natur mit ihren Abläufen“, sagt Foster. Damit meint sie: Die Blätter höher wachsender Pflanzen spenden Schatten für kleinere, Laub dient als Kompost.
Wegen der Modul-Bauweise kosten Fosters Terrassen wesentlich weniger als die Anlagen von Müller-Garcia. Auf dem begrünten Dach über Fosters Büro finden Workshops für Schulen, aber auch für Erwachsene statt, um die Idee zu verbreiten. Wer von Fosters Modell überzeugt ist, kann die Module online bestellen und selbst mit dem Umbau beginnen. Bei Problemen stehen Foster und ihr Team mit Rat zur Seite.
Der Wandel von Grau zu Grün kommt in Mexiko City also immer mehr auf Touren. Müller-Garcia verweist nicht ohne Stolz auf die Bürgermeister von Städten wie Paris, Tokio oder Rio, die mittlerweile zu ihr kommen, um sich Ideen für den grünen Umbau ihrer Städte abzugucken. Natürlich sei der Weg noch längst nicht zu Ende.
Als nächste Herausforderung nennt Müller-Garcia die bessere Anbindung der Außenbezirke der Stadt an den Nahverkehr – von der Stadt jahrzehntelang vernachlässigt. Dennoch: Die Zeiten, als Mexico City die schmutzigste Stadt der Welt war, sollen mit Müller-Garcia als Umweltministerin endgültig vorbei sein. Daran ändern auch ein paar Flammen in einem Park nichts.
Mexiko City hat mit starker Luftverschmutzung zu kämpfen. Die Umweltministerin Tanya Müller-García will das ändern