Freek Wallagh in Amsterdam

Was macht ein Nachtbürgermeister?

Amsterdam hat einen neuen Nachtbürgermeister. Freek Wallagh will das Leben nach Sonnenuntergang sicherer und inklusiver machen. Wie sieht seine Arbeit aus?

Das Publikum hat sich in zwei geteilt. Durch die Menschengasse zur Bühne schreiten Cowboyboots in Schlangenleder-Optik. In Scheinwerferlicht und Dutzende Augenpaare gehüllt, nimmt Freek Wallagh noch einen Schluck aus seinem Whiskeyglas, bevor er es scheppernd auf einem Stuhl am Bühnenrand abstellt. „Bürger:innen von Gomorrha“, ruft er den Zuschauer:innen zu, „ich freue mich, hier zu sein. Wegen meines Jobs bin ich derzeit stark verkatert. Wenn ihr euren Applaus daher bitte auf ein absolutes Minimum beschränken könntet …“ Lachen, schnipsen, klatschen. Wallagh ist der neue Nachtbürgermeister Amsterdams. Aber heute ist er Dichter.

Seit 2003 wird in Amsterdam alle zwei Jahre ein:e Nachtbürgermeister:in gewählt. Ende März 2023 entschieden sich Bürger:innen und eine Jury aus Kulturschaffenden für Freek Wallagh. Dahinter steht die unabhängige Stiftung N8BM A’DAM – ihre Ziele: das Nachtleben auf die politische Agenda der Stadtverwaltung setzen, Subkulturen und Diversität fördern. Das Stiftungsteam finanziert sich vor allem über private Sponsor:innen, aber erstmals steuert nun, Post-Pandemie, die Gemeinde Amsterdam etwas bei: 10.000 Euro für das Jahr 2023. Nachtbürgermeister:innen gibt es in Paris, Tokio, New York, aber auch in Mannheim, Dortmund oder Leipzig.

Kein Politiker, sondern Künstler

Vor seinem Auftritt sitzt Freek Wallagh auf der Terrasse von Sexyland und dreht sich eine Zigarette. In dem Kulturzentrum direkt am Fluss namens IJ findet heute Nacht der „Pleasure Poetry Slam“ statt, Wallagh ist einer von fünf Teilnehmenden. Die untergehende Sonne fällt auf seine müden, von Kajal umrandeten Augen, wärmt seine Brust, er trägt einen tief ausgeschnittenen Cardigan ohne Shirt. Zwischen seinen Brusthaaren blitzt der silberne Anhänger einer Kette, ein kleiner Davidstern. „Sorry, ich bin etwas kaputt, vielleicht musst du mich löchern.“ Seit er das Amt innehat, ist er vier- bis fünfmal die Woche nachts unterwegs. „Ich habe eh Insomnia. Wenn ich schon keinen Schlaf bekomme, kann ich genauso gut weggehen.“ Tagsüber hat Wallagh Meetings mit Gemeinderät:innen, „aber nicht vor 13 Uhr“. Nur für die Bürgermeisterin, Femke Halsema, macht er eine Ausnahme, „12 Uhr“, Wallagh lacht.

Ob er sich als Politiker sieht? Niemals. „Ich bin ein Künstler und Organisator, der mit Politiker:innen zusammenarbeitet.“ Das geht, weil er „beide Sprachen spricht“: Wallagh hat Politikwissenschaften studiert, war in der linken Partei Partij van de Arbeid und ihrer Jugendorganisation Jonge Socialisten aktiv. Das Nachtbürgermeisteramt ist für ihn ein Vollzeitjob, obwohl er damit kaum etwas verdient. Über die Runden kommt der 25-Jährige mit Auftritten als Dichter oder Eventorganisator: Burlesque- und Drag-Shows, Punkkonzerte, Gesellschaftskritisches. Letztens ging es um die „Disneyfizierung“ Amsterdams, Wallagh veranstaltete einen dystopischen Vergnügungspark, ließ dort Underground-Künstler:innen auftreten.

I love nights like these ‘cause our city more and more often feels like we are
expedited from paradise, released from Eden, set against a tree (…)*

 

Hausbesetzungen legalisieren

Hinter Wallagh kräuselt sich das Wasser der IJ, Containerschiffe ziehen vorbei. Der Fluss trennt die Grachtenhäuser der Innenstadt vom kratzigen Bezirk Amsterdam-Noord, wo Wallagh wohnt, mit Sexyland am Ufer wie eine Art Grenzposten. Ist er mal im touristischen Zentrum unterwegs, dann etwa in der experimentellen Gallerie Vrij Paleis, in der Punk-Kneipe The Cave oder im politischen Café Vrankrijk, einem ehemals besetzten Haus. Wild besprüht wirkt es wie ein Protest inmitten teuer sanierter Häuserblöcke mit Smoothiebars und leer stehenden Spekulationsobjekten. „Kraken“, Häuser besetzen auf Niederländisch, hat in Amsterdam seit den 60er-Jahren Tradition, seit 2010 ist es eine Straftat. Wallagh nennt das: „Kriminalisierung von Obdachlosigkeit“. Kraken bereichere zudem die urbane Szene: „Wichtige Kulturstätten wie das Konzerthaus Paradiso oder Gemeinschaftsgärten und Gemeindezentren wurden von Besetzer:innen aufgebaut.“

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A garden paradise,
Flowers, trash, distant cars racing
A highway separates us from troubles mortals might be facing

 

Auf der Bühne macht Wallagh regelmäßig Pausen, greift zu seinem Whiskeyglas und schwenkt es in seiner Hand, bevor er trinkt, badet in der Stille und den Blicken. Im Publikum ruft jemand: „I love you!“ … „I love you too.“

„Die Nacht fühlt sich an wie eine kleine Bastion der Schönheit in einer hässlichen Welt“, sagt Wallagh im Interview. Hier spürt er das, was der Gesellschaft bei Tageslicht oft fehle: Zärtlichkeit, Verbindung, Offenheit, Freiheit. Doch der Schutzraum steht unter Angriff von rechts, sagt Wallagh, für die Verteidigung riskiert er viel. Gewalt hat der Amsterdamer selbst mitten in der Stadt erlebt, vor dem königlichen Palast am Dam. „Ich wurde von einer Gruppe umzingelt und geschubst, die mich als jüdisch identifiziert hat. Der Holocaust sei eine Lüge, schrien sie, und ich ein jüdischer Dämon. Viele Menschen schauten einfach nur zu.“ Kurz danach, im November 2022, sollte der antisemitische Verschwörungstheoretiker David Icke bei einem Covid-Protest auftreten. Wallagh organisierte eine Gegendemonstration. „Wir tanzten zu Klezmermusik, probierten dem Hass mit Humor zu begegnen.“ Natürlich ist Faschismus für viele Menschen eine Bedrohung, People of Color, Frauen, LGBTIQ. „Mein Aktivismus richtet sich daher gegen jegliche Form von Diskriminierung.“

Let me smell the revolution on your breath
Our little naked picnic, celebrating Bourgeoisie death (…)
Let us ponder proletarian penetration, voyeuristic, for the world to see
Fuck away to an equal nation,
or at least to a certain degree

 

Einen Safe Space für alle schaffen

Die Nacht muss sicherer werden, für alle. Deswegen ist Wallagh für mehr Nachtbusse und „Ask-for-Angela-Kampagnen“ in allen Clubs und Bars. Wenn Besucher:innen das Barpersonal nach Angela fragen, ist das ein Codewort für: „Ich werde belästigt, brauche Hilfe“, erfunden 2016 in England. Auch setzt sich Wallagh für Umkleideräume in der Reguliersdwarsstraat ein, wo vor allem queere Nachtkultur gelebt wird. So können sich Menschen, die lieber nicht in ihren Party-Outfits anreisen wollen, vor Ort umziehen. Und im überlaufenen Rotlichtviertel Amsterdams, De Wallen, würde Wallagh gern mehr legale Arbeitsplätze für die Sexarbeiter:innen schaffen – in vertrauter, geschäftiger Umgebung, und nicht in einem versteckten „erotischen Zentrum“ außerhalb der Innenstadt, wie es die Gemeinde aktuell diskutiert.

And when the dust has settled (…) we’ll move our bodies to another struggle 

 

Freek Wallagh war 15 Jahre alt, als er das „wilde, merkwürdige Mokum mit all seinen ausgefransten Rändern“ zum ersten Mal richtig kennenlernt. Mokum ist ein beliebter, jiddischer Spitzname für Amsterdam, ziert Boote und Souvenirs. Damals schon schreibt er Poesie und fiktive Geschichten, und manchmal verkauft er Interviews an Zeitungsredakteur:innen. Denn Wallagh kennt Menschen, die sie nicht kennen: Hausbesetzer:innen, Sexarbeiter:innen, Drag-Artists. Er schleicht sich in Clubs, ist fasziniert, was er „in der Nacht findet“. Sexualität als Spektrum zum Beispiel, wie er es bisher nur aus offenen Gesprächen mit seiner Mutter, von Beruf Archäologin, kannte.

Mit 17 beginnt er als Dichter in der Punkszene aufzutreten, bei illegalen Partys, oft in besetzten Häusern. Heute noch sagt er: Dort gibts die besten Partys überhaupt. Der Teenager kommt nicht zur Ruhe, ständig zieht die Familie um, achtmal in drei Jahren. Einmal, weil die Eltern sich scheiden lassen, ein anderes Mal, weil die Großmutter stirbt. „Meine Oma war wie ein Elternteil für mich.“ Wallagh kratzt sich am linken Auge, grinst, „keine Sorge, ich werde nicht emotional“. Sie war Malerin, samstags lud sie die Nachbarschaft ein zum Mitmachen. Morgens kamen die Kinder, mittags die Jugendlichen und abends die Eltern, erinnert sich Wallagh. „Die Erwachsenen holten sich ihren Rat für alle möglichen Probleme, während ich mit Malzeug und Weingläsern herumlief.“

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Freek Wallagh

„Kunst ist kein Luxus, sondern ein Mittel zum Überleben“

Gemeinschaft und Kunst, darum geht es Wallagh heute noch als Nachtbürgermeister, tief geprägt auch von seiner jüdischen Herkunft. „Meine Familie musste quer durch Europa fliehen und alles, was sie mitnehmen konnten, war ihre Kultur“, sagt Wallagh. „Kunst ist kein Luxus, sondern ein Mittel zum Überleben.“ Alles, was die Grenzen verwischt, prüde Hüllen fallen lässt, verbindet, das begeistert ihn. „Ein Event ist für mich dann besonders, wenn man sich danach fragt: WTF habe ich da gerade gesehen?“

Wie in der Nacht im Sexyland. Act Nummer zwei beim „Pleasure Poetry Slam“ beginnt wie eine Zeremonie schwarzer Magie. Durch die Menschengasse zur Bühne schreiten Combat-Boots, darüber ein schwarzer Tüll-Spitzen-Rock und ein Korsett. In den Händen hält die Person brennende Kerzen in gusseisernen Ständern. Auf dem Boden vor dem Mikro liegt eine kreisförmige Plastikplane, umsäumt von weiteren Kerzen.

I prefer life after dark, cause the less we see the more we feel

Sie besprüht die Plane mit einer Flüssigkeit und stellt sich drauf. Dann: Tosende Beschreibungen einer Sexszene zu Metal-Musik, sie lässt die kleinen Flammen über ihren Körper wandern. Tiefschwarzes Wachs tropft auf ihre nackte Brust.       

*Auszüge aus Freek Wallaghs Gedicht sind kursiviert dargestellt

 

Fotos: Miriam Petzold

Freek Wallagh vor einem seiner Lieblingsclubs im Norden Amsterdams, Sexyland.

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