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Was meint der Westen, wenn er vom Osten spricht? Im neuen Asterix und Obelix-Band verschlägt es die Gallier dorthin. Er wird als dunkler, nebelverhangener Fleck an der Grenze zu Deutschland dargestellt und „Barbaricum“ genannt. Im Laufe der Geschichte tauchen langbeinige Schönheiten mit Namen wie „Kalaschnikova“ auf, die Sonne scheint niemals und das Essen ist fettig und ranzig.
Die deutsch-polnische Journalistin und Osteuropaexpertin Alice Bota begründet in ihrem neuen Buch Die Frauen von Belarus das geringe westeuropäische Interesse an den Protesten gegen die grausame Diktatur in Belarus mit einer gedanklichen Distanz, die den Osten Europas als weit weg, irrelevant und rückständig erscheinen lässt. Sie zitiert Konrad Adenauer, der sogar gesagt haben soll, für ihn beginne „die asiatische Steppe gleich hinter Braunschweig“. Alles jenseits dieser Grenze erscheint als ominöse Einheit. Bota schreibt: „Der Osten, das war damals die Sowjetunion und ist heute Russland.“
Den „Osten“ und den „Westen“ hat es nie gegeben
In unserem kollektiven Gedächtnis verorten wir noch 30 Jahre nach dem Mauerfall diesen imaginierten östlichen Schmelztiegel irgendwo zwischen Zuckerbäckerkirchen und billigen Zigaretten, Matrjoschkas und sozialistischen Plattenbauten, Tundra und nie endenden Wodka-Eskapaden. Ein Ort, der vor allem in den Biografien von Hollywood-Gangstern auftaucht, aber nicht in jenen von Held:innen.
Für die Spezifika der Region, für die unglaubliche Vielfalt ihrer uralten Kultur, die innovative Wirtschaft und die progressiven Bewegungen fehlt im Westen meist das Interesse. Dabei hat es „den Osten“ oder „den Westen“ nie gegeben. Unsere Kulturen waren immer miteinander verwoben. Aber wer weiß schon, dass es im ukrainischen Lemberg, das lange zu Österreich gehörte, eine Wiener Kaffeehaustradition gibt? Oder dass in der polnisch-litauischen Adelsrepublik, in der zwei Sachsen zum König gewählt wurden, eines der ersten Demokratie-Experimente der frühen Neuzeit stattfand? Der Osten, das ist genau wie der Rest Europas eine Melange der Kulturen und Widersprüche. Orthodoxes Christentum, Judentum, katholische Kirche und Islam. Römische Paläste in Split, venezianische Brunnen in Montenegro, osmanische Balkone in Skopje und Sinti:ze- und Rom:nja-Kulturfestivals in Sofia. Dennoch wird die Region heute nach wie vor auf ihre sozialistische Vergangenheit reduziert.
Erzählt man, dass Estland das erste und einzige Land der Welt ist, in dem sowohl das Staatsoberhaupt als auch die Regierungschefin Frauen waren, erntet man großes Erstaunen. Niemand weiß, dass Casablanca, der berühmteste Hollywood-Film überhaupt, von einem ungarischen Regisseur geschaffen wurde. Und wer hätte jemals geglaubt, dass das Unternehmen Kleiderkreisel, heute als Vinted bekannt, aus Litauen stammt?
Die Wirtschaft in Osteuropa boomt
Dabei boomt die Start-up-Landschaft von Krakau über Vilnius bis Kiew. Im ersten Quartal 2021 legte der Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft beeindruckende Zahlen vor: Demnach ist der deutsche Handel mit Osteuropa um 6,7 Prozent gewachsen und damit dreimal so stark wie der deutsche Außenhandel insgesamt. Polen ist inzwischen nach China und den Niederlanden der drittgrößte Lieferant Deutschlands und unser fünftstärkster Handelspartner. Umgekehrt treiben die Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei mehr Handel mit Deutschland als mit China oder den USA. Und immer mehr Oststaaten, allen voran Moldawien, die Ukraine, Nord-Mazedonien und Georgien, wollen Teil der EU werden und weg vom übermächtigen Nachbarn Russland.
All das in einer Zeit der maximalen Krise. Während dieser Artikel geschrieben wird, muss Polen der EU jeden Monat eine millionenschwere Strafe zahlen, weil es den Rechtsstaat abbaut und die EU-Verfassung unterläuft. In Belarus unterdrückt der Diktator Alexander Lukaschenko sein Volk, während zeitgleich rechtspopulistische Parteien in Osteuropa Fremdenfeindlichkeit und Homophobie verbreiten. In der Ukraine herrscht Krieg.
Kulturelle Werte-Doktrin des Westens
In den Ländern der Osterweiterung, denen vom Westen Gleichberechtigung versprochen wurde, gibt es eine Teilung zwischen jenen, die die EU enthusiastisch lieben, und jenen, die sich von ihr bevormundet und nicht ernst genommen fühlen. Für Letztere ist das gewaltige Lohngefälle zwischen Ost und West und die damit einhergehende Abwanderung der jungen Fachkräfte aus dem Osten eine demütigende Erfahrung. Gleichzeitig haben sie das Gefühl, sie müssten ihre Werte gegen den Westen verteidigen: Während Nationalstaat und organisierte Religion in Westeuropa an Bedeutung verlieren, mussten die Menschen in Osteuropa im Sozialismus für beides hart kämpfen. Insofern verwundert es nicht, dass viele osteuropäische Menschen die EU und nach den Erfahrungen der Sowjetunion überhaupt jedes staatenübergreifende Gebilde auch mit Misstrauen betrachten. Vor allem eine EU, die politische Entscheidungen immer noch entlang der Westachse ausmacht. So gaben etwa 2020 bei einer Umfrage des gemeinnützigen Instituts STEM in Tschechien zwar 57 Prozent der Befragten an, die EU-Mitgliedschaft positiv zu bewerten, aber auch 61 Prozent, dass die tschechische Regierung keinerlei Einfluss auf EU-Politik habe.
Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev erläutert in seinem Buch Europadämmerung, dass der Optimismus der EU während der Osterweiterung auf Francis Fukuyamas These aus Das Ende der Geschichte basierte: Nach dem Fall der Sowjetunion würden Nationen auf der ganzen Welt erkennen, dass man das westliche Weltbild in allen Aspekten kopieren müsse. Die Globalisierung sollte dabei bitte so ablaufen, dass zwar Waren und Ideen global zirkulieren, die Menschen aber brav zu Hause bleiben und ihre Gesellschaft dort nach deutschem und US-amerikanischem Vorbild demokratisieren.
Dass die Themen Migration und Flucht sowie die massive Ungleichheit des Wohlstands in dieser Prognose vollkommen ignoriert wurden, dass die Überlegenheit des Westens dabei stets auch als kulturelle Werte-Doktrin galt, sieht Krastev als die Hauptursachen für die aktuelle Identitätskrise der EU.
Der Versuch einer konstruktiven Betrachtung des Ostens soll all diese Krisen weder ausblenden, noch verharmlosen. Er soll viel eher dazu ermutigen, sich mit seinem Potenzial zu beschäftigen. Denn wer sich ein geeintes, vielfältiges Europa wünscht, darf den Osten nicht als Schild gegen Russland oder als billige Werkbank betrachten, sondern muss ihn als ebenbürtigen Teil Europas sehen, dem man mit Respekt begegnen und von dem man lernen kann. Tun wir das nicht, werden wir ihn verlieren.
Kampf für eine europäische Zukunft
Statt weiter anzuklagen, geht es in dieser Ausgabe darum, ein Osteuropa zu zeigen, in dem es sehr viel Fortschritt und sehr viele eigene Ideen gibt. In dem sich 80 Prozent der Pol:innen und 81 Prozent der Slowen:innen als überzeugte EU-Bürger:innen fühlen. Es soll von den Menschen erzählt werden, die allen Widerständen zum Trotz für eine europäische Zukunft, für Menschenrechte, einen Dialog und einen nachhaltigen Handel zwischen Ost und West eintreten. Und die sich nicht einschüchtern lassen.
Am 16. September 2021 erreichte das kalifornische Bundesgericht eine Schadensersatzklage von Nona Gaprindaschwili gegen Netflix. Der Vorwurf: Rufschädigung. Sie fühle sich vom Streaminggiganten „beleidigt“, sagte Gaprindaschwili. Die 80-jährige Georgierin ist die erste Frau der Welt, die 1978 Schach-Großmeisterin wurde. Hierzulande kennt sie fast niemand. Dafür kennt man aber Beth Harmon, die fiktive US-amerikanische Schachspielerin in der preisgekrönten Netflixserie The Queen’s Gambit. Im Kalten Krieg triumphiert sie über die Sowjet-Schachweltmeister. In einer Folge heißt es über ihre Konkurrenz: „Es gibt da noch Nona Gaprindaschwili, aber sie ist nur Weltmeisterin der Frauen und hat nie gegen Männer gespielt.“
Nona Gaprindaschwili hat sehr wohl gegen Männer gespielt. Und sie besiegt. Deshalb klagt sie. In einem Interview sagte sie über ihre Vergangenheit: „Sie sagten mir, ich solle mich hinten anstellen – das nächste Mal spielen, nicht jetzt. Aber ich habe meinen Platz immer behauptet.“
Was ist Osteuropa?
Darum streiten sich Wissenschaft und Politik seit Jahrhunderten. Das Wort beschreibt meist keinen klaren geografischen Raum, sondern ist vor allem eine westliche Fremdzuschreibung. Als „Osten“ werden in Westeuropa seit dem Ende des Kalten Krieges meist diejenigen europäischen Staaten wahrgenommen, die im 20. Jahr-hundert zum sogenannten Ostblock gehörten. Das sind zum einen die geografisch europäischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion – Russland, Ukraine, Belarus, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Estland, Litauen, Lettland, Kasachstan, Moldawien – sowie die Ex-Sowjet-Satellitenstaaten Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Albanien, Rumänien, Bulgarien und die Länder des ehemaligen Jugoslawiens. Während es viele Menschen in diesen Ländern gibt, die sich mit einer osteuropäischen Identität identifizieren können, gibt es genauso viele, etwa in Ungarn oder Polen, die sich als Mitteleuropäer:innen betrachten. Der „Osten“ in der Ausgabe 6/2021 ist deshalb eine Erkundung durch kulturell vielfältige Länder mit eigenen Identitäten – abseits des übermächtigen Nachbarn Russland.Innovation, Protest und Vielfalt – Der Westen muss Osteuropa endlich ernst nehmen.