Auch, wenn viele von uns die letzten Jahre an Weihnachten nicht mehr in der Kirche waren: Religion ist immer noch ein ziemliches Ding. Mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung sind als religiöse Menschen einzustufen – das hat eine Studie des Pew-Forschungsinstituts ergeben. 31,5 Prozent sind Christen, 23,2 Prozent Muslime, 15 Prozent Hindus, 7,1 Prozent Buddhisten, 0,2 Prozent Juden, und dann verteilen sich noch 6,7 Prozent auf über 4000 weitere religiöse Ausrichtungen. Oder anders herum gerechnet: Nur 16,3 Prozent aller Menschen glauben tatsächlich an überhaupt nichts. Und selbst bei denen können wir nicht ganz sicher sein: Laut den Anthropologen Lionel Tiger und Michael McGuire ist der Begriff „Glauben“ nämlich noch viel weiter zu fassen, als offiziell einer Religion anzugehören. Nach ihrer Definition gelten Menschen bereits als gläubig, wenn sie sich eins mit der Natur oder dem Universum fühlen, oder einfach nur vor einer Klausur oder einem Bewerbungsgespräch einen Glückbringer einstecken. So gesehen sind wohl die meisten von uns in irgendeiner Weise gläubig.
Fest steht: der Glauben an etwas Abstraktes, Höheres ist tief in der menschlichen Natur verwurzelt. Nur… warum? Lässt sich das wissenschaftlich erklären?
Das Forschungsfeld der Neurotheologie versucht, religiöses Erleben als neurobiologischen Prozess zu verstehen. Wer oder was löst religiöse und spirituelle Vorgänge im Gehirn aus? Darüber dürfen sich Gläubige und Atheisten streiten. Fest steht jedoch: Die Gottesidee hat Auswirkungen auf unser Gehirn, spirituelle Gefühle basieren zumindest teilweise auf messbaren, elektrochemischen Prozessen.
Wissenschaft und Religion: Das göttliche VMAT2
Zu einem großen Teil wird unsere Religiosität von unserer Kultur bestimmt, also von unserer Familie, dem Land, der Gemeinschaft, in der wir aufwachsen. Doch auch innerhalb eines Kulturkreises sind Menschen unterschiedlich stark empfänglich für religiöse Ideen. Warum?
Eine Grundlage hierfür könnte in unseren Genen liegen. Der Molekularbiologe Dean Hamer will „Gott“ gefunden haben, und zwar auf Chromosom 10. Hier sitzt das VMAT2- Gen. Wer hier die entsprechende Variante des „Gott-Gens“ besitzt, neigt angeblich mehr als andere Menschen zu spirituellen Erfahrungen. VMAT2 kontrolliert indirekt die Menge bestimmter Botenstoffe im Gehirn, etwa Adrenalin, Serotonin und Dopamin. Desto mehr davon in unserem Gehirn unterwegs ist, desto intensiver ist unser Gefühlsleben – und desto empfänglicher könnten wir auch für religiöse oder spirituelle Erlebnisse sein. Zwar sind die Ergebnisse von Hamer bis heute mehr als umstritten, aber dennoch eröffnen sie die Frage: Wie genau „glaubt“ unser Gehirn? Das lässt sich wissenschaftlich leicht untersuchen, und zwar so: Der Magnetresonanztomograph (MRT) kann die Stoffwechselaktivität im Gehirn sichtbar machen. So sehen Forscher*innen, welche Gehirnbereiche wann besonders aktiv sind. Lässt man beispielsweise einen Probanden im MRT-Scanner Logikaufgaben lösen, ist der der Blutsauerstoffgehalt im Präfrontalen Cortex erhöht, handelt es sich um eine Erinnerungsaufgabe, so ist der Hippocampus aktiver.
Was passiert bei religiöser Praxis?
Was passiert also im Gehirn, wenn der Proband im MRT-Scanner betet? Das untersuchte der Hirnforscher und Religionswissenschaftler Andrew Newberg bereits in den 90er Jahren. Er begann mit tibetischen Mönchen, die im Scanner meditierten. Auf den Scans zeigte sich deutlich: Der Parietallappen ist beim Meditieren weniger aktiv. Dieser Gehirnbereich sorgt normalerweise dafür, dass wir ein Bewusstsein über uns selbst in Zeit und Raum haben, also wo wir uns im Raum befinden, wo unsere Körpergrenzen sind, die sogenannte Propriozeption. Das Gefühl, beim Meditieren mit allem „eins“ zu werden, hat also neurobiologische Ursachen. Ganz ähnliche Effekte konnte später auch Newberg bei franziskanischen Nonnen im Gebet feststellen. Daher liegt die Vermutung nahe: Im Gehirn laufen bei Spiritualität immer die gleichen Prozesse ab, ungeachtet der jeweiligen Glaubenszugehörigkeit – schön, oder?
Wissenschaft und Religion: Der Gottesknopf
Aber auch eine Vielzahl anderer Bereiche spielen beim religiösen Erleben eine wichtige Rolle. Zum Beispiel der Temporallappen. Der ist unter anderem für das Verarbeiten von Eindrücken und Entstehen von Erinnerungen zuständig. Auch Gotteserscheinungen oder spirituelle Begegnungen könnten hier entstehen. Müsste sich diese Gehirnregion dann nicht auch ganz leicht künstlich aktivieren lassen? Lässt sich Glauben beliebig an- und ausschalten oder sogar entfernen?
Ein viel beachtetes Experiment ist der „Gotteshelm“ des Neurologen Michael Persinger aus den 1980er Jahren. Die Idee: Wer auch immer diesen Helm aufsetzt, solle umgehend eine religiöse Erfahrung erleben! Es handelte sich hierbei um einen Motorradhelm, an welchem mehrere Magnetspulen befestigt waren. Über diese konnten die Forscher ein schwaches Magnetfeld erzeugen und dadurch bestimmte Gehirnbereiche gezielt stimulieren, insbesondere den Temporallappen. Und siehe da: laut Persinger berichteten 80 Prozent der Versuchspersonen von einer abstrakten Erfahrung, etwa vom plötzlichen „Gefühl der Anwesenheit“ eines unsichtbaren Wesens, oder gar einer Begegnung mit Gott. Allerdings sind auch Persingers Untersuchungen mit dem „Gotteshelm“ sehr umstritten, weil sie nicht den üblichen methodischen Standards entsprachen. Andere Forscher*innen rekonstruierten den Gotteshelm, doch ihre Ergebnisse blieben ohne Aussage. Einen eindeutigen „An- und Ausknopf“ für den Glauben eines Menschen gibt es nach heutigem Stand der Forschung nicht.
Doch auch ohne „An- und Ausknopf“ können wir selbst durch Gebet oder Meditation gezielt bestimmte Stoffe im Gehirn aktivieren. Das zeigen verschiedene Studien mit Gläubigen unterschiedlicher Konfessionen: Menschen, die regelmäßig religiöse Rituale vollziehen, trainieren ihr Gehirn darauf, mehr Serotonin zu produzieren – und das sorgt zum Beispiel dafür, dass wir uns wohl und gelassen fühlen. Religion funktioniert biochemisch also fast wie eine Art Doping. Und das bringt uns zur eigentlichen Frage, nämlich nach der Funktion des Glaubens.
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Das Ergebnis menschlicher Kreativität?
Nicht nur unser Skelett hat sich im Laufe der Evolution verändert, sondern auch unser Gehirn. Im Laufe immer komplexer werdenden Möglichkeiten und Handlungen hat es sein Volumen innerhalb von fünf Millionen Jahren verdreifacht. Irgendwann muss irgendwie dabei auch der Platz für Gott entstanden sein. Erste Hinweise auf religiöse Handlungen zeigen Funde aus der mittleren Altsteinzeit vor rund 100.000 Jahren. Hier bereiteten die Neandertaler die Körper ihrer Verstorbenen anscheinend bereits auf eine Art Jenseits vor. In der Jungsteinzeit wurde die religiöse Vorstellungskraft schon konkreter, vor 11.000 Jahren bauten die Menschen bereits Kultstätten und entwickeln Rituale, die an das Leben nach dem Tod erinnern sollten.
Psychologisch gesehen sind solche religiösen Praktiken eine effektive Technik, um die Angst vor dem Tod einzudämmen. Neurobiologe Robert Benjamin Illing sieht es so: Irgendwann in der Evolutionsgeschichte muss es einen Zeitpunkt gegeben haben, an dem der Mensch erstmals begriff, dass er sterben wird. Eine unvermeidliche Gefahr ohne Ausweg. Dieses Problem kannten die früheren Vorfahren nicht, und auch Tieren fehlt das Bewusstsein über ihre eigene Vergänglichkeit.
Die Todesangst blockierte also plötzlich alle Sinne, lähmte, machte handlungsunfähig. Also entwickelte der Mensch laut Illing die Idee eines größeren Sinnes, der das Leben des Einzelnen übersteigt, ebenso ein Set an Werten und Aufgaben, welche im Hier und Jetzt schon beachtet werden sollen. Illing geht davon aus, dass Menschen mit Gehirnen, die zu religiöser Vorstellungskraft fähig waren, einen Überlebensvorteil hatten, und sich evolutionär durchsetzen.
Um welche religiöse Vorstellung es sich dabei handelt, ist letztendlich egal – der psychologische Vorteil bleibt gleich. Das Gehirn wird entlastet von Sorgen und Ängsten, bekommt eine Antwort auf die großen Fragen des Lebens und der Existenz. Religion erfüllt darüber hinaus auch eine wichtige soziale Funktion, die sich auch wiederum psychologisch auswirkt: Sie vereint Menschen zu Gemeinschaften und gibt ihrem Alltag Halt und Struktur durch Regeln und Rituale.
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Yoga als Ersatzreligion?
Auch Menschen, für die Religion vielleicht nicht mehr relevant ist, suchen sich mit Yoga und Achtsamkeit eine andere Form von Geborgenheit. Das Bedürfnis, Sorgen abzugeben, sei es an Gott, an die Yogamatte, ans Universum, oder sonst wohin, scheint stärker denn je. Das Bedürfnis nach Führung, nach Ganzheitlichkeit, nach Harmonie – das holt uns auch bei unserem materiellen Wohlstand ein. Und das ist gut so, psychologisch gesehen. Solange wir – ähnlich wie bei der Religion – niemanden ausgrenzen, der eine andere Einstellung hat.
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