Streitgespräch

Muss Klimaprotest radikaler werden?

Der Protest der Klimainitiative Letzte Generation wurde in letzter Zeit kontrovers diskutiert. Wie radikal darf Klimaprotest im Angesicht einer Vielzahl ökologischer Krisen sein? Was macht Klimaprotest überhaupt radikal? Und welche Folgen kann das für Protestthemen, Gesellschaft und Demokratie haben? Darüber diskutieren Lilly Schubert, Mitgründerin der Klimainitiative Letzte Generation in Leipzig und Sophia Hunger, Protestforscherin am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB).

Frau Schubert, Fridays for Future ist Ende September mit Zehntausenden Menschen für den Klimaschutz auf die Straße gegangen. Die Letzte Generation setzt auf radikalere Schritte beim Klimaprotest, Straßenblockaden etwa. Warum?

Lilly Schubert: Weil wir ganz kurz vor dem Punkt stehen, an dem wir nicht mehr zurückkommen: Entweder wir sagen, okay, jetzt ist das Gletschereis fast weg, der Permafrost taut, die 1,5 Grad auf der Erde reißen wir sowieso – was soll’s. Oder wir ziehen alle Register, um die Katastrophe zu verhindern. Wir steuern auf drei, vier Grad Erderhitzung zu. Das heißt, über den Landmassen wird es zum Teil um fünf bis sechs Grad heißer, um den Äquator herum ist unser Planet dann voraussichtlich unbewohnbar. Da halte ich zivilen Ungehorsam für das mildeste Mittel überhaupt.

Konkret heißt das: Sie setzen sich zum Beispiel auf zentrale Verkehrsadern in Großstädten und kleben sich fest …

Schubert: … um den Alltag so massiv zu stören, dass niemand unseren Klimaprotest ignorieren kann. Aus meiner Sicht ist das die einzige Möglichkeit, um genug Druck zu erzeugen, damit unsere Regierung die drei, vier Jahre, die uns bleiben, endlich nutzt, um das Kippen der Klimasysteme zu verhindern.

Frau Hunger, ist das wissenschaftlich gesehen radikal?

Sophia Hunger: In der Protestforschung unterscheiden wir zwischen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Bewertung. Die Gesellschaft kann einen Protest als radikal bewerten – weil sie sich etwa massiv gestört fühlt –, der aus wissenschaftlicher Sicht keineswegs radikal ist. Für uns fängt radikal da an, wo sich ein Protest nicht an die gesellschaftlichen Regeln hält, also wenn eine Demonstration beispielsweise nicht angemeldet ist. Wir sprechen allerdings eher von konfrontativ illegalen als von radikalen Protestformen.

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„Aus wissenschaftlicher Sicht fängt radikal da an, wo sich Protest nicht an Regeln hält“
Sophia Hunger

Radikal definiert sich also vor allem über die Protestform?

Hunger: Auch die Inhalte zählen natürlich. Wenn Menschen friedlich für das Verbot von Abtreibung nach einer Vergewaltigung demonstrieren, ist das durchaus ein radikaler Protest, weil sich diese Forderung weit vom gesellschaftlichen Konsens entfernt. Die Protestform selbst allerdings ist alles andere als radikal. Generell unterscheiden wir in der Wissenschaft zwischen Protestformen mit unterschiedlichen Eskalationsstufen. Die Petition ist die handzahmste, gefolgt von Demonstrationen, legalen Sitins vor Einrichtungen, illegalen Blockaden, schließlich Gewaltförmiges wie Sachbeschädigung, Sabotage oder im Extremfall Gewalt gegen Personen. Was davon in einer Gesellschaft als legitim gilt, hängt von ihren Werten, ihren Kommunikationsformen und vom zeithistorischen Kontext ab.

Schubert: Für mich ist die Suffragettenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts ein super Beispiel. Erst haben diese Frauen mit Petitionen für rechtliche Gleichstellung gekämpft, dann mit Politiker:innen Gespräche geführt, später begannen sie in der Öffentlichkeit zu rauchen – damals eine ungeheure Grenzüberschreitung. Da alles nichts brachte, zogen sie schließlich in Gruppen von 100, 150 Frauen durch die Straßen und schlugen Fenster ein. Wenn das die Klimabewegung tun würde, wäre das ein totaler Tabubruch. In der Bewertung der Suffragettenbewegung dagegen steht heute außer Frage, dass die Protestform völlig berechtigt war im Kampf für das Frauenwahlrecht.

Hunger: Aber das ist eine Legitimierung in der Rückschau. Wäre die Frauenbewegung nicht erfolgreich gewesen, würde man heute ganz anders darüber sprechen.

Lilly Schubert

ist Kommunikationswissenschaftlerin und Mitgründerin der Klimainitiative Letzte Generation in Leipzig. Seit Mai arbeitet sie Vollzeit als ihre Sprecherin.

Sophia Hunger

forscht zu Protest am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Sie beschäftigt sich besonders mit politischer Radikalisierung.

Sollte die Klimabewegung sich dennoch ein Beispiel an ihr nehmen und radikaler in ihrem Klimaprotest werden, um etwas zu bewirken? Der CO2-Verbrauch weltweit steigt weiter, statt zu sinken.

Hunger: Nein, das kann man so einfach nicht sagen. Was ein Protest erreicht oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. In der Protestforschung unterscheiden wir zwischen positiven und negativen „Radical Flank Effects“. Positiv bedeutet: Die radikale Flanke mag abschrecken, erzeugt aber Druck und nutzt so dem moderaten Teil der Bewegung. Die Gesellschaft ist schneller bereit, die Moderaten als legitim anzuerkennen. Sie sind das kleinere Übel. Die Existenz radikaler Kräfte kann auch einen Diskurs komplett verschieben.

Wenn eine Gruppe etwa Autos sofort abschaffen will …

Hunger: … finden jene leichter Gehör, die sie erst ab 2035 in den Innenstädten verbieten möchten. Zugeständnisse werden wahrscheinlicher, Moderate bekommen eher Zugang zu Institutionen oder finden Gehör in Talkshows. Wenn die radikalen und moderaten Teile einer Bewegung gut kooperieren und sich über Lösungskonzepte abstimmen, lässt sich die Arbeitsteilung auch strategisch nutzen – die Konfrontativen machen Druck und holen die Verantwortlichen an den Verhandlungstisch, wo die Moderaten warten.

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Und was wären negative Effekte?

Hunger: Wenn sich ein Teil einer Bewegung radikalisiert, kann sie das Movement als Ganzes diskreditieren, seine Ziele, seine Legitimität. Radikale Flügel lähmen oft auch die Mobilisierung. Wir wissen aus der Forschung, dass Menschen weniger auf Demos gehen, bei der sie Eskalationen befürchten. Ob aktuelle radikalere Protestformen der Klimabewegung eher nutzen oder schaden, ist daher noch nicht ausgemacht.

Schubert: Letztlich ziehen wir an einem Strang. Dass sich die Gesellschaft jetzt überall mit dem Ausstieg aus der fossilen Energieerzeugung beschäftigt, verdanken wir dem Zusammenwirken unterschiedlicher Aktionsformen. Auch wir gehen ja auf vielen Ebenen vor: Wir stören den Alltag, aber wir sprechen auch permanent mit Abgeordneten, schlagen Maßnahmen vor, setzen sie unter Druck: Tut was, die Leute tragen das mit. Wir gehen an Schulen, in Bildungseinrichtungen und klären auf. Neulich haben wir die Universitäten Hamburg und Leipzig besetzt und mit Wissenschaftler:innen, Studis und Politiker:innen diskutiert.

Und doch hat die Letzte Generation viel Kritik einstecken müssen. Viele ärgern sich, wenn sie durch den Klimaprotest nicht zur Arbeit kommen, weil Straßen blockiert sind, oder fühlen sich bevormundet. Lenkt die Protestform von den Inhalten ab?

Schubert: Im Gegenteil. Form und Inhalt sind nicht zu trennen. Je häufiger wir auf der Straße sitzen, desto mehr rückt Klimaschutz in den Vordergrund. Wir verbinden unseren Klimaprotest dabei immer mit einer Forderung, etwa nach einem dauerhaften 9-Euro-Ticket. In den vergangenen Monaten hat sich auch die Medienberichterstattung mehr auf unsere Inhalte als auf die Aktionsformen gerichtet.

Hunger: Ihr profitiert natürlich von der Protestwelle seit Greta Thunberg. Hätte sie gleich damit begonnen, Autobahnen zu besetzen, wäre ihr Protest nie in dieser Breite aufgenommen worden. Durch Fridays for Future ist das Thema Klimawandel jetzt im globalen Bewusstsein so stark verankert wie nie zuvor.

Schubert: Richtig, und nun muss ziviler Ungehorsam den nächsten Schritt erzwingen: politisches Handeln.

„Je häufiger wir auf der Straße sitzen, desto mehr rückt Klimaschutz in den Vordergrund“
Lilly Schubert

Hunger: Doch es gibt nach wie vor viele Leute, die ihr Wissen ignorieren. Ich bin skeptisch, ob radikale Protestformen diese Menschen erreichen. 86 Prozent der Deutschen glauben, dass der Klimawandel menschen- gemacht ist. Aber wie viele schaffen es, einen heißen Sommer mit dieser Erkenntnis zu verknüpfen? Wie viele trösten sich: In den 1980ern waren die Sommer auch mal heiß? Ich sehe durchaus die Gefahr, dass Menschen sich abwenden und sich Widerstand gegen Klimaschutz formt. Wenn er sich institutionalisiert, wird es heikel. Das sehen wir derzeit in den USA …

… wo es eine starke Bewegung von Klimaleugner:innen gibt.

Hunger: Ja, und sie ist inzwischen nicht nur international gut vernetzt, sondern auch wahnsinnig gut institutionalisiert. In den USA steuern Thinktanks gewaltige Desinformationskampagnen, Lobbyismus gegen Klimaschutz läuft auf Hochtouren. Das könnte irgendwann nach Deutschland überschwappen.

Schubert: Aber es reicht, wenn uns 40, 50 Prozent der Gesellschaft unterstützen. Dann ist der Druck auf die aktuellen Verantwortungsträger:innen groß genug für den Turnaround.

Expert:innen wie der Extremismusforscher Tom Mannewitz fürchten, dass radikaler Protest die Demokratie gefährdet. Schließlich seien politische Entscheidungen, die auf Druck der Straße gefällt werden, nicht demokratisch legitimiert.

Schubert: In Deutschland reagiert die Politik oft erst mal mit Abwehr auf zivilen Ungehorsam. Ich finde das seltsam. Letztlich ist friedlicher ziviler Widerstand ein Korrektiv für unsere Demokratie, dessen wir uns viel mehr bedienen sollten. Ich begehe damit gezielt einen Rechtsbruch im Angesicht einer unrechten Handlung meiner Regierung. In unserem Fall, weil sie versäumt, unser gesetzlich garantiertes Recht auf Unversehrtheit umzusetzen, die durch die Klimakatastrophe akut gefährdet ist. Und letztlich ist unser Ziel gerade mehr Bürger:innenbeteiligung. Wir wollen alle einbeziehen und so aus der Blase herauskommen. Deshalb fordern wir auch einen Bürger:innenrat.

Hunger: Ich sehe derzeit auch keine Gefährdung der Demokratie. Wir sind ja weit davon entfernt, dass die Menschen Atomkraftwerke anzünden oder Molotowcocktails in Christian Lindners Büro schmeißen. Protest in seinen unterschiedlichen Facetten ist in Deutschland aber längst viel breiter akzeptiert als noch vor vierzig Jahren. Damals, auch in der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung, gingen vor allem Menschen aus dem akademischen Milieu auf die Straße, heute sind alle Milieus dabei. Seit den 1980er-, 90er- Jahren haben wir in Europa Protestgesellschaften.

„Letztlich ist ziviler Widerstand ein Korrektiv für die Demokratie“ 
Lilly Schubert

Tadzio Müller von der Bewegung Ende Gelände warnt: Wer Klimaschutz verhindere, riskiere das Entstehen einer grünen RAF.

Hunger: Die Gefahr sehe ich derzeit gar nicht. Die Umweltbewegung, auch der konfrontative Arm wie Letzte Generation oder Ende Gelände, ist nicht antistaatlich. Das sind junge Menschen, die gerade mehr Mitbestimmung innerhalb des Systems einfordern. Vor allem weil die Protestbewegungen viel weniger gestreamlined sind als in den 1970ern, viel pluraler und breiter verankert in der Gesellschaft, halte ich die Entstehung einer grünen RAF in absehbarer Zeit für völlig unwahrscheinlich. Wir befragen regelmäßig Aktivist:innen der Umweltbewegung und sehen weder Gewaltbereitschaft noch Militarismus. Aus 25 Jahren Protestforschung wissen wir auch: Friedlicher Protest bewirkt viel mehr als gewaltsamer, weil ihn die Gesellschaft viel eher mitträgt und ernst nimmt.

Frau Schubert, wie geht es weiter, wenn der Klimaschutz auch in Zukunft strauchelt?

Schubert: Wir setzen auf Emotionalisierung: Endlich deutliche Worte wählen, statt beschönigen. In der Wissenschaft, der Politik, in den Medien. Wenn wir endlich anfangen, klar zu benennen, wie es steht, kön- nen Menschen auch die Zusammenhänge erkennen. Eine drei Grad heißere Welt ist eben nicht nur einfach heißer, sondern bedeutet Milliarden Tote – dazu gehören im Zweifel auch ich und meine Kinder. Das müssen wir endlich in unser Herz lassen. Nur was uns berührt, treibt uns doch zum Handeln.

Wie weit würden Sie bei Ihrem Klimaprotest gehen?

Schubert: Die Grenze ist für mich klar: Nie gewaltsam, nur friedlich. Nie dürfen Menschen gefährdet sein.

Hunger: Bei friedlichen Demos bin ich dabei, aus Wissenschaftsinteresse und weil ich dahinterstehe.

Fotos: Martina Sander/Stefan Müller

Braucht es radikaleren Klimaprotest? Nein, sagt Protestforscherin Sophia Hunger. Ja, sagt Aktivistin Lilly Schubert (rechts).

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