Naturtalent: Klebrige Nacktschnecke

Medizinischer Wundkleber nach Schnecken-Art

Nacktschnecken verteidigen sich mit einem zähen Proteinsekret. Das brachte Forschende in den USA auf die Idee, einen Wundkleber herzustellen, der sogar am schlagenden Herzen hält.

Wenn sich die Hellbraune Wegschnecke fürchtet, schwitzt sie Sekundenkleber. So stopft das Weichtier seinen Fressfeinden das Maul oder klebt sich am Boden fest, damit es niemand wegschaffen kann. Starke Klebstoffe sind in der Natur nichts Besonderes: Hundertfüßer fangen damit Beute, Miesmuscheln haften an Felsen im Meer und Seepocken an Schiffen. Schneckenschleim aber ist extra klebrig und dehnbar. Das macht ihn interessant für Bioingenieur:innen. 2017 sorgte eine Studie des „Mooney Lab“ an der Harvard-Universität im US-amerikanischen Cambridge weltweit für Aufsehen: Inspiriert durch den Nacktschnecken-Schleim hatten die Forschenden ein Material entwickelt, das selbst an feuchten, dynamischen Stellen im Körper hält, etwa am schlagenden Herzen oder an der Leber.

Nacktschnecken-Schleim: extrem dehnbar und klebrig

Dafür angelten sie zuerst das Sekret vom Oberkörper ängstlicher Nacktschnecken, um den Supermix aus Proteinen, Kohlehydraten und Wasser zu studieren und ihn anschließend im Labor nachzubauen. Das Ergebnis, „Tough Gel Adhesives“ (TGA), ist deutlich klebriger, dehnbarer und ungiftiger als gängige chirurgische Kleber wie Cyanacrylat. Das liegt an der zweischichtigen Struktur des Biomaterials. Die klebrige Schicht der TGA ist mit positiven Ionen geladen und geht so starke chemische Verbindungen mit den Gewebeoberflächen ein, die von Natur aus negativ geladen sind. Die zweite Schicht ist ein Hydrogel, also ein Polymer auf Wasserbasis, wie es etwa auch in Kontaktlinsen steckt.

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Das Hydrogel „absorbiert die Energie, die den Klebstoff sonst ablösen oder brechen könnte“, erklärt Studienleiter Jianyu Li im Magazin Science News, „und wirkt so wie ein Stoßdämpfer am Auto“. Künftig könnten Chirurg:innen damit Wunden an Organen oder Gefäßen zukleben, statt sie zu nähen, Herzschrittmacher direkt am Herzen fixieren und den Stoff sogar spritzen, um tiefe Wunden ohne invasive Operationen zu heilen.

Was ist seit der Studie passiert? Ein von der US-Behörde Food and Drug Administration (FDA) zugelassenes Medizinprodukt gibt es noch nicht. Um an Menschen getestet werden zu können, muss der Stoff weiter entwickelt und als körperverträglich und biokompatibel, anerkannt sein. Biokompatibel meint: Die Zellen nehmen das Material an. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung machten die Biotechniker:innen des Harvard „Mooney Lab“ Anfang 2022: Gemeinsam mit Forschenden des Pharmakonzerns Novartis stellten sie im Fachblatt Nature Biomedical Engineering eine optimierte, biokompatible Version der „Tough Gel Adhesives“ vor: Mit der neuen Materialfamilie „Janus Tough Adhesives“ (JTA) sollen sich Sehnenverletzungen besser behandeln lassen. Sehnen verbinden Muskeln und Knochen, machen uns beweglich. So können wir etwa dank der Patellasehne am Knie unsere Beine strecken, die Achillessehne steuert die Füße. Zerren oder reißen Sehnen, wie manchmal beim Sport, muss oft operiert werden. Der Heilungsprozess ist schmerzhaft und dauert lange. JTA haben, wie die 2017 präsentierten TGA, zwei Seiten und sind „ähnlich dehnbar wie Schneckenschleim“, erklärt Benjamin Freedman, Leiter der aktuellen Studie. „Beide bestehen zu 90 Prozent aus Wasser und sind ein dichtes Netz aus Ionen und Zuckern.“

Biologisch abbaubarer Medizinkleber

Doch bei JTA wird die klebrige Seite nicht synthetisch hergestellt, sondern ist mit Chitosan beschichtet – einem Zucker aus den Schalen von Garnelen. Mit dieser Seite haften JTA an der gerissenen Stelle der Sehne und halten diese ohne Nähte zusammen. Die andere Seite ist wieder ein Hydrogel und bewirkt das Gegenteil: Bei Bewegung gleitet die Sehne ganz normal über das umliegende Gewebe. Gleichzeitig ist das Gel ein kleines Arznei-Depot, weil es entzündungshemmende Medikamente enthält und langsam abgibt. So bilden sich weniger Narben. Das ist wichtig, um Kraft und Beweglichkeit zurückzugewinnen. Erfolgreich getestet wurde der Biokleber bislang nur an den Patella- und Achillessehnen lebender Ratten und den Handgelenken menschlicher Leichen. Wann klinische Untersuchungen an lebenden Menschen folgen, ist unklar. Aber Freedman gibt sich zuversichtlich: „Alle Bestandteile der JTA sind als biokompatibel anerkannt und kommen bereits in Medizinprodukten zum Einsatz, die von der FDA zugelassen sind. Sehr gute Aussichten also, um in die klinische Praxis zu gelangen.“ Entwickelt hat Freedmans Team ebenfalls eine Version, die nach dem Heilungsprozess nicht entfernt werden muss – sondern sich im Körper biologisch abbaut.

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Bild: IMAGO / STAR-MEDIA

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