Es war eine Premiere. Niemals zuvor hatte eine Abstimmung im Europa-Parlament es geschafft, so viele Menschen auf die Straße zu bringen wie die am 26. März 2019. Es ging um die „Richtlinie über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt“, und die Debatte dreht sich in erster Linie darum, ob hier etwas als Schutz der Urheber verkauft werden soll, das de facto eine Zensur ist.
Die Richtlinie fand am Ende eine Mehrheit, und die umstrittensten inhaltlichen Punkte werden uns allen in den nächsten zwei Jahren wieder begegnen, wenn es darum geht, sie in nationales Recht umzusetzen.
Der European Dream: Ordnungsrahmen für eine digitale Gesellschaft?
Faszinierend daran ist, dass es solche Debatten überhaupt gibt. Dass Europa sich überhaupt daran gewagt hat, das Internet gleichzeitig frei zu halten und doch zu regulieren. Im besten Fall kann daraus nicht nur eine halbwegs brauchbare Richtlinie entstehen, sondern ein Ordnungsrahmen für die digitale Gesellschaft. Und darüber hinaus eine Legitimation für die Europäische Union im 21. Jahrhundert – ein European Dream.
Denn an einem zentralen Punkt gibt Europa hier eine Antwort, die sich von den Antworten der beiden anderen ökonomischen Weltmächte, China und den USA, unterscheidet – bei der Kontrolle über die Daten.
- Im obrigkeitsstaatlichen China liegt die Macht über die Daten beim Staat; er schützt, kontrolliert und überwacht die Bürger nach seinem Belieben.
- In den plutokratischen USA liegt die Macht über die Daten bei privaten Konzernen; sie manipulieren die Bürger nach ihrem Belieben.
- Europa versucht einen dritten Weg zwischen Staats- und Konzernkapitalismus zu etablieren – und ist nahe dran, die Macht über die Daten den Bürgern selbst zu geben.
In der Urheberrichtlinie ging es nicht so sehr um die Rechte der Bürger, sondern um die Rechte der Urheber. Der Ansatz der EU war und ist dabei, den einzelnen Urheber gegen die Digitalkonzerne zu stärken.
Ob das so tatsächlich gelingen wird, ist umstritten; und zumindest dafür geeignet, Erfahrungen für den eigentlichen Kampf zu sammeln, nämlich den um die Rechte an Daten. Denn überall in der Welt bemühen sich Staaten und Bürger, halbwegs angemessen mit der Herausforderung umzugehen, die die Digitalkonzerne angerichtet haben.
Europa hat die Antwort
Die US-amerikanische Ökonomin Shoshana Zuboff vergleicht deren Vorgehensweise gar mit derjenigen der spanischen Konquistadoren nach der Entdeckung Amerikas: „So wie Kolumbus die von ihm entdeckten Inseln für Spanien und den Papst in Besitz nahm, nahm Google die von ihm entdeckten Daten für seine Suchmaschine in Besitz. Und uns hat das genauso unvorbereitet getroffen wie damals die Bewohner der Karibik.“ Das muss nicht bedeuten, dass es uns auch weiterhin so ergehen muss wie damals den Indios, sagt Zuboff: „Unsere Gesellschaften haben schon mehrmals die Auswüchse eines ungebremsten Kapitalismus begrenzt; das müssen wir auch diesmal wieder schaffen.“
Und Europa hat hierfür die bestmögliche Antwort. Sie lässt sich in einem Satz zusammenfassen: der Mensch im Mittelpunkt. Die europäische Tradition des Humanismus stellt den Menschen über die Natur, die europäische Tradition der Aufklärung stellt den Menschen über die Götter, die europäische Tradition des Liberalismus stellt das Individuum über das Kollektiv, die europäische Tradition des Rechtsstaats stellt das Recht über die Macht, die europäische Tradition der Sozialdemokratie stellt den Menschen über das Geld.
Auch wenn uns Europäern von heute die Kombination dieser Werte und Tradition wie selbstverständlich und alltäglich vorkommt – die in anderen Weltregionen vorherrschenden Systeme sind anders verfasst. Der Mensch im Mittelpunkt, das ist der European Dream.
Menschliche Digitalisierung in Europa
„Die Digitalisierung wird bisher von der Wirtschaft gesteuert, nicht von der Demokratie. Europa könnte das ändern“, schreibt der Politikberater Johannes Hillje in seinem Anfang Februar 2019 erschienen Buch „Plattform Europa“.
Sein Vorschlag, die EU selbst ein gemeinwohlorientiertes, öffentlich finanziertes soziales Netzwerk betreiben zu lassen, greift allerdings zu kurz: Er bietet wieder nur eine Institution an, wo es um ein Empowerment des Einzelnen gehen müsste – um den Ausgang des Menschen aus seiner von anderen verschuldeten Unmündigkeit.
Vielversprechender dürfte sein, private Daten als privates Eigentum anzusehen, und dann den Markt Wege finden zu lassen, wie die Digitalwirtschaft aus der Rücksichtslosigkeit des Wilden Westens in die Menschlichkeit der Zivilisation kommen kann. Damit würde Europa nicht nur seinen Traditionen gerecht werden, sondern auch das Fundament für einen gleichzeitig produktiven und menschenwürdigen Umgang mit Daten und Technologien legen – für ein lebenswertes 21. Jahrhundert.
Kann Europa das Fundament für einen gleichzeitig produktiven und menschenwürdigen Umgang mit Daten und Technologien legen?