Mentale Gesundheit

Deshalb sollten wir Perfektionismus nicht verharmlosen

Das andauernde Streben nach Perfektion ist ein Symptom unserer Leistungsgesellschaft. Im System „Selbstoptimierung“ wird Perfektionismus als harmloser Charakterzug betrachtet. Problematisch dabei ist: Bei manchen Menschen kann Perfektionismus zu ernsten klinischen Erkrankungen führen.

Nach den Stärken werden die Schwächen abgefragt, und das Bewerbungsgespräch wird spätestens durch die Antwort zum Klischee: „Ich verliere mich schon mal in Aufgaben, kann erst aufhören, wenn das Ergebnis perfekt ist.“

2018 sagte der Psychologe Thomas Curran in einem TED Talk: „Perfectionism is everyone’s favorite flaw“ – unser aller Lieblingsschwäche. Ein Jahr zuvor stellte er in der Studie „Perfectionism is increasing over time“ fest: Die Mittzwanziger:innen von heute stellen höhere Ansprüche an sich selbst und verspüren mehr Druck von außen. Zwischen 1989 und 2016 stiegen die Werte für sozial auferlegten Perfektionismus um 33 Prozent, für selbstbezogenen um 10 Prozent und für „fremdbezogenen“, also auf Mitmenschen projizierten Perfektionismus, um 16 Prozent. Mögliche Gründe nennt der Bildungswissenschaftler Jaap van der Stel: die neoliberale Überzeugung, dass Erfolg und Glück reine Motivationssache seien, mehr Konkurrenz in einer globalisierten, „kleineren“ Welt und ständige Vergleichsmöglichkeiten, etwa durch Social Media.

Wie wir über Perfektionismus denken und sprechen, steht symptomatisch für unsere Leistungsgesellschaft: System Selbstoptimierung. Wir sollten dabei aufmerksamer sein, mehr hinterfragen. Denn Psycholog:innen unterscheiden zwischen einer funktionalen Form von Perfektionismus (Charakterzug) und einer dysfunktionalen Form (mentale Störung). Letztere gilt als Vorstufe ernster klinischer Erkrankungen, etwa Burn-out, Angst- und Essstörungen sowie Depressionen. Dennoch kommt der Begriff im Handbuch für geistige Erkrankungen, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5), nicht vor.

Wer darüber spricht, sich besonders perfektionistisch zu verhalten, fühlt sich vielleicht gerade ausgebrannt – und braucht Hilfe. Und umgekehrt: Selbsternannte Perfektionist:innen üben sich eventuell nur im „Streben nach Perfektion“. Sie setzen sich mehr sogenannte Lern- statt reine Leistungsziele, weil sie sich persönlich weiterentwickeln wollen. Dagegen glauben „pathologische“ Perfektionist:innen, dass Können und Talent angeboren sind. Ihr Selbstwertgefühl hängt davon ab, wie schnell sie ein (oft unrealistisches) Ziel erreichen. Erreichen sie es tatsächlich, „kann es ja nicht so anspruchsvoll gewesen sein“. Lob dringt selten durch.

Laut der Verhaltenspsychologin Chantal van der Leest sind solch perfektionistische Züge meist nicht angeboren, sondern durch das soziale Umfeld in der Jugend angelernt. Das ist eine gute Nachricht, denn alles Erlernte kann entlernt werden. Das dauert, ist herausfordernd – und nicht zu verwechseln mit Selbstoptimierung.

Bild: IMAGO / Ikon Images

Höher, schneller, weiter: Wenn Perfektionismus eine dysfunktionale Form annimmt, kann er zu psychischen Erkrankungen führen.

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