Streit um Windpark in Schweden

Klimaschutz oder grüner Kolonialismus?

Im Norden Schwedens entsteht Europas größter Landwindpark. Dort, wo jetzt grüner Strom erzeugt wird, weideten bislang die Rentiere der indigenen Sami. Ein Baustellenbesuch, bei dem es auch darum geht, was Nachhaltigkeit eigentlich bedeutet.

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Im Norden Schwedens traben zwei Rentiere über einen Schotterplatz im Wald. Es sind Ausreißer, weit entfernt von ihrer Herde. Die Steine klackern unter ihren Hufen, ihre Geweihe wippen leicht auf und ab. Sie laufen an einem Baustellen-Schild vorbei: „Markbygden Phase 2“, Zutritt nur für autorisiertes Personal. Dazu das Logo von Enercon. Der deutsche Hersteller von Windkraftanlagen hat hier sein Baustellenbüro. Die beiden Rentiere ignorieren die geparkten Autos und die Wohncontainer. Am Ende des Platzes biegen sie rechts ab und trotten die Schotterpiste entlang.

Es ist der größte Landwindpark Europas, der hier entsteht, mitten im stillen Nirgendwo. Unzählige Kiefern und Fichten wachsen eng an eng, der moosige Boden ist bedeckt von Waldblaubeeren und Preiselbeeren. Von weit oben durchbricht das rhythmische „Wuuusch“ der Rotorblätter die Stille. 350 Windräder ragen schon über die Baumkronen, bis 2026 sollen es rund 800 sein. Das heißt: Vier Gigawatt installierte Leistung, etwa so viel wie zweieinhalb Atomkraftwerke. 450 Quadratkilometer misst das Gelände des Windparks Markbygden – mehr als die Fläche der Stadt Köln. Für die Samigemeinschaft Östra Kikkejaure ist es ein großer Teil ihres Winterweidelands. Bevor das Gebiet im Wald zur Riesenbaustelle wurde, zogen im Winter Tausende ihrer Rentiere durch den Wald. Die Sami, oder auch Saminnen und Samen, sind das einzige offiziell anerkannte indigene Volk in der EU, sie leben in Schweden, Norwegen, Finnland und Russland. In Schweden sind die Rentierhirt:innen unter ihnen in 51 Gemeinden organisiert, jede hat ihr Weideland.

Windpark Markbygden soll 800 Windräder umfassen

Einige Kilometer östlich des Windparks, am Bottnischen Meerbusen, liegt die Stadt Piteå. Hier sind die Büroräume von Svevind, der Firma, die den Windpark initiiert hat. Fredrik Bäcklund, Betriebsleiter von Svevind, sitzt auf einer Seite des Tischs im Konferenzraum, schräg gegenüber von Pressesprecher Tomas Riklund.

Sie erzählen die Anfangsgeschichte des Megaprojekts Markbygden: Der Geschäftsführer von Svevind, Wolfgang Kropp aus Deutschland, beauftragte Anfang des Jahrtausends einen schwedischen Professor. Er sollte die Windgeschwindigkeiten entlang der Küste des Landes messen. Nirgends im Land sei es so windig gewesen wie in der Region Markbygden. Dann begann der Genehmigungsprozess. 2010 standen schließlich die ersten Windräder – etwa 800 sollen es bis 2026 sein.

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Fredrik Bäcklund leitet die Firma Svevind, die den Windpark initiiert hat und mitentwickelt.
Bild: Svevind AB / Anders Westergren

Genau genommen ist Markbygden nicht ein Windpark, sondern ein Projekt, dass aus mehreren Windparks besteht. Svevinds Hauptaufgabe ist es, anderen das Bauen und Investieren zu ermöglichen. Enercon und General Electrics errichten die Windkraftanlagen, internationale Investmentgruppen und Vermögensverwalter kaufen und verkaufen sie. Was da im Wald steht, sind Wertanlagen der internationalen Finanzwelt. Der Strom geht größtenteils an Unternehmen, etwa an einen Aluminium- Hersteller in Norwegen und bald auch an das Bergbauunternehmen Boliden sowie Techgigant Amazon.

Bäcklund zeigt auf eine Karte an der Wand, auf der in verschiedenen Farben die drei Phasen des Projekts gekennzeichnet sind. Svevind gehört nur noch ein Teilgebiet der dritten Phase. Dort sollen, wenn es mit der Genehmigung klappt, bis zu 300 Meter hohe Windkraftanlagen gebaut werden – 100 Meter höher, als die Anlagen, die bislang gebaut werden. Das würde bedeuten, dass mit weniger Windrädern dieselbe Leistung erzielt werden kann. Für den Windpark und den Strom, den er produzieren soll, gebe es bereits jetzt einige Interessenten. „Sie wollten es sofort kaufen!“, sagt Riklund und unterstreicht das „sofort“ mit einem Schlag auf den Tisch.

Nordschweden wird Energie-Hub

Der Norden Schwedens wird gerade zu einem Hub für grüne Industrien. Zwei Werke zur CO2-armen Produktion von Stahl entstehen in der Region, vor Kurzem ging die Northvolt-Gigafactory für Autobatterien und Energiespeichertechnik in Betrieb. Alle wollen sauberen Strom.

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Für Åsa Larsson Blind sind sie Treiber des grünen Kolonialismus. „Dahinter steht dieselbe Denkweise wie beim Kolonialismus und bei der Industrialisierung,nur jetzt passiert es im Namen der Nachhaltigkeit.“ Die Auswirkungen auf die samische Kultur seien die gleichen: Indigene Landrechte werden ignoriert und die Sami verlieren Rentierweideland.

Larsson Blind ist selbst Rentierhalterin und Vizepräsidentin des Samenrats. Die Organisation setzt sich für die Interessen der Sami aus Norwegen, Schweden, Finnland und Russland ein. Sápmi heißt das Gebiet, auf dem die Sami seit jeher leben und ihre Rentiere hüten. Deutsche kennen es als Lappland. Sami haben das Recht, ihre Rentiere auf diesem Land weiden zu lassen, sie besitzen das Land aber nicht. Im Falle Markbygdens gehört es mehrheitlich zwei großen Forstunternehmen. Der Windpark hat die Arbeit der Hirt:innen verändert. Das Gebiet, das jetzt schon seit zehn Jahren eine Baustelle ist, können sie nicht mehr als Weideland nutzen. Und auch wenn mal alles fertig ist – die Erfahrung der Hirt:innen und Studien zeigen, dass die Rentiere Windräder meiden, etwa wegen des Geräuschpegels. An vielen Orten in Lappland brodeln deshalb Konflikte zwischen Windparkfirmen und Rentierhirt:innen.

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„Wenn wir erneuerbare Energie als nachhaltige Energie definieren, dann müssen wir uns auch überlegen, was Nachhaltigkeit in diesem Fall bedeutet“, meint Larsson Blind. Könne etwas nachhaltig sein, wenn es Menschenrechte beschneide? „Die ganze Welt spricht jetzt von Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit. Das ist und war schon immer die Basis unserer traditionellen Lebensweise.“ Ressourcen-Erhalt, „das ist etwas, was wir anderen Kulturen beibringen können“.

Åsa Larsson Blind ist Vizepräsidentin des Samenrats und Rentierhirtin.
Bild: Rebecca Lundh

Die Klimakrise spüren die Sami schon seit Langem. Die Temperaturen sind in der Arktis in den vergangenen fünfzig Jahren dreimal so schnell gestiegen wie im globalen Durchschnitt. Das Wetter wird extremer. Im Winter fällt oft Regen auf Schnee und gefriert – die Rentiere kommen dann nicht mehr an die Flechten am Boden, ihre Nahrung. Um sich an diese Bedingungen anzupassen, sagt Larsson Blind, bräuchten die Hirt:innen mehr Platz für ihre Tiere. Mehr Flexibilität, nicht weniger.

Svevind-Pressesprecher Tomas Riklund steuert seinen schwarzen Audi in Phase 1 von Markbygden. Eine Infotafel am Eingang weist den Weg zu den nummerierten Windkraftanlagen. 600 Kilometer Straßen wurden bereits neu gebaut oder verbessert, sagt er. Schotter schlägt gegen das Auto, Wasser aus einem Schlagloch spritzt auf die Scheiben. Alle paar hundert Meter gehen von den Hauptwegen Abzweigungen ab. Riklund navigiert immer tiefer hinein in das Wirrwarr an Schotterpisten und weißen, stählernen Türmen. Auf einer Anhöhe über einem Steinbruch hält er. Unten hämmert ein Raupenbagger mit schnellen, hallenden Schlägen auf das Gestein ein. „Daraus wird Beton gemacht, für die Fundamente.“ Mehr als 200 Windkraftanlagen sind von hier erkennbar. Weit über den Baumwipfeln drehen sich die Rotorblätter, manche nah, manche auf entfernten Hügeln. Unter ihnen wirkt der Wald wie Rasen.

Entlang der Hauptstraße werden gerade die Leitungen einer neuen Stromtrasse gespannt. Eine Gruppe Männer steht neben riesigen Kabeltrommeln in der aufgewühlten Erde. Hinter einem Containerbüroblock biegt Riklund ab. Hier entsteht die dritte und letzte sogenannte Phase von Markbygden. Einige halbhohe Türme ragen schon in die Luft. Riklund sieht in ihnen die beste Waffe gegen die Klimakrise. „Markbygden ist so groß, dass es einen Unterschied macht fürs Klima“, sagt er. „Wenn man hier mit einem Hubschrauber fliegt, sieht man nur grün, Bäume überall. Und ein paar kleine Häuser. Wenn man die Größe des Windparks mit der Natur rund herum vergleicht, denkt man, vielleicht kann man hier auch fünf Markbygdens bauen.“

Rentierhaltung ist das Herz der samischen Kultur

In der Kleinstadt Arvidsjaur, eine knappe Fahrtstunde westlich des Windparks, sitzt Patrik Lundgren in seinem Wohnzimmer. An der Wand hängt ein Geweih als Kerzenständer, sonst deutet wenig auf Lundgrens Arbeit als Rentierhirte hin. Er ist Vorsitzender der Östra Kikkejaure, der lokalen Samigemeinde. Wenn es seine Entscheidung gewesen wäre, sagt Lundgren, hätte er ein paar Windrädern zugestimmt, „aber nicht so vielen“. So deutlich wie Larsson Blind und andere Sami kritisiert Lundgren den Windpark aber nicht – oder nicht mehr. Die Östra Kikkejaure haben eine Vereinbarung geschlossen, zu der Ausgleichszahlungen gehören.

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Auch Lundgrens Brüder und sein Sohn arbeiten hauptberuflich mit den 3.000 bis 4.000 Rentieren. Bis zu tausend werden pro Jahr im eigenen Schlachthaus geschlachtet. „Die genaue Zahl hängt auch davon ab, wie viele wir einfangen können.“ Rentierhaltung sei das Herz der samischen Kultur, auch, wenn nur noch etwa zehn Prozent der Sami von ihr leben. „So viele Dinge in der Sami- Kultur beginnen mit dem Rentier. Das Leder wird für Textilien verwendet, das Horn für Messer“ – er zeigt auf seines, das er in einem Holster an der Hüfte trägt. Und auch an den samischen Sprachen merke man es: 200 Wörter für Schnee gebe es, viele davon aus der Rentierhaltung.

Bevor das Gebiet im Wald zur Riesenbaustelle Markbygden wurde weideten dort Rentiere der Sami.
Bild: Creative Commons / Johannes Jansson

„Früher haben wir die Rentiere langsam durch das Gelände getrieben“, Lundgren streicht über eine Karte des Windparks, die vor ihm auf den Tisch liegt, „heute beeilen wir uns, wenn wir die Rentiere treiben. Oder wir benutzen Lkw, um sie zum Winterweideland zu bringen.“ Im Winter fahren die Hirt:innen mit Schneemobilen raus zu den Herden und verfüttern Pellets, weil die Tiere nicht mehr genug Nahrung finden. Das liegt nicht nur an den Windparks, sondern auch an anderen Flächennutzungen – der Forstwirtschaft, den Straßen, der Industrie. Und an der Klimakrise. „Wir spüren die Krise jeden Tag. Also verstehen wir, dass wir etwas tun müssen.“ Das Weideland der Sami macht über ein Drittel der Landfläche von Norwegen, Schweden und Finnland aus. Wie könnte eine Nutzung dieses Landes aussehen, die indigene Rechte und Energiewende vereint? Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es, Weideland zurückzugeben, das die Sami in früheren Zeiten verloren haben, meint Åsa Larsson Blind. „Es gibt stillgelegte Industriegelände und Bergwerke, die nicht wieder in brauchbares Rentierweideland umgewandelt wurden.“ Und noch wichtiger: die Umsetzung des Prinzips der freien, vorherigen und informierten Zustimmung. Die Sami sollten dem Bau eines Windparks frühzeitig entweder zustimmen oder ihn ablehnen können, so Larsson Blind.

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Im Oktober 2021 feierten Sami in ganz Lappland ein Urteil des Obersten Gerichts Norwegens: Zwei Windparks nahe Trondheim beschneiden die kulturellen Rechte der Sami – der lokalen Gemeinde bleibt nicht genug Platz, um ihre Rentiere zu halten. Ein Präzedenzfall. Das Gericht bezog sich dabei auf den UN-Zivilpakt, demzufolge Minderheiten das Recht haben, „eigenes kulturelles Leben zu pflegen“. Die Genehmigungen für den Bau und den Betrieb der Windparks wurden für ungültig erklärt. Die Sami fordern jetzt, dass die 151 Windkraftanlagen bei Trondheim, die zum Megaprojekt Fosen Vind gehören, abgerissen werden. Norwegen kündigte an, generell mehr Offshore- als Onshore-Windanlagen zu fördern. Es ist nicht der erste Triumph der Sami in jüngster Zeit. Anfang 2020 wurde einer Samigemeinde das alleinige Recht zur Vergabe von Jagd- und Fischlizenzen für ihr Weideland zugesprochen. 2021 konnten sich Sami gegen den Bau einer Kupfermine in Norwegen durchsetzen. Die Zeichen mehren sich, dass der Wandel begonnen hat: Nachhaltigkeit heißt auch, die Rechte der Sami anzuerkennen.

Foto: Rebecca Stegmann

An vielen Orten in Lappland brodeln Konflikte zwischen Energieunternehmen und samischen Rentierhirt:innen, die ihr Weideland nicht mehr nutzen können, sobald daraus eine Windfarm wird.

Rebecca Stegmann

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