Leslie Lopato lugt hinter einem Eukalyptusbaum hervor, ihre dunklen Locken beben, sie reißt die Augen auf und lässt dramatisch ihre Kinnlade fallen. „So haben uns die Männer auf den Gängen angestarrt, als Yale 1969 endlich Frauen zum Studium zuließ. Unsere Anwesenheit verstörte manche von ihnen. Nicht unbedingt, weil sie glaubten, wir Frauen seien nicht intelligent genug für sie, sondern weil wir ihnen ihren Safe Space für Bro-Culture nahmen.“
Lopato lernte früh: Nichts lieben Menschen so sehr, wie in ihrem eigenen Lager zu bleiben. Als Donald Trump 2016 Präsident wurde, war sie am Boden zerstört. „Ich hatte das Gefühl, dass wir in den USA nicht mehr miteinander reden können.“
Dann wurde ihr klar: Sie ist Teil des Problems.
Schon in den 70ern hatte sie sich als Psychiaterin in San Francisco niedergelassen. Hier in der Bay Area, Pulsader der Beat-Generation, der Hippies und der Tech-Giganten, lebte sie völlig isoliert in einer demokratischen Blase. „Ich hatte niemanden in meinem Umfeld, der konservativ dachte oder gar wählte.“ Per Zufall las die heute Siebzigjährige nach Trumps Sieg in der New York Times von einer NGO, die zwei Familientherapeuten und ein Physiklehrer gegründet hatten. Ziel der Initiative: konservative und progressive Wähler:innen wieder an einen Tisch bringen, um miteinander zu reden.
Etwa zweimal im Monat kommen bei den „Braver Angels“ nun Menschen in lokalen Gruppen überall in den Staaten in Workshops und Debatten zusammen und tauschen sich über Politik aus. Sie verstehen sich entweder als blue (Demokrat:innen), red (Republikaner:innen) oder purple (fühlen sich keiner Partei zugehörig oder haben sowohl konservative als auch progressive Haltungen). Bei ihren Treffen geht es nicht darum, die Gesprächspartner:innen von den eigenen Positionen zu überzeugen. Sondern sich in das Gegenüber hineinzufühlen und nach Gemeinsamkeiten zu suchen statt nach Unterschieden. Lopato wurde Mitglied, bald sogar Moderatorin und Mitgründerin der Braver Angels in der Bay Area.
Spaltung in den USA: Weg von dem Feind-Narrativ
„Das Herzstück unserer Arbeit ist der Red/Blue Workshop, in dem man sich mit den Stereotypen des eigenen politischen Spektrums und denen der ,gegnerischen‘ Seite auseinandersetzt. Was empfindet man als falsch? Welches Vorurteil entspringt einem Funken Wahrheit?“, sagt Lopato. Im Mittelpunkt steht der „DepolarisierungsBogen“: Man soll sich bewegen von „Dieser Mensch ist mein Feind“ zu „Dieser Mensch hat etwas Wichtiges beizutragen, auch wenn ich nicht alles teilen kann, was er denkt“.
In den ersten Workshops lernte Leslie Lopato selbst Menschen vom anderen Lager kennen. Paul Norris zum Beispiel, weißer Bart, stets eine Baseballcap auf dem Kopf.
Er ist einer der wenigen red Außenseiter der Bay. Auf den ersten Blick haben er und Lopato wenig gemeinsam. Lopato ist Jüdin und kommt aus dem multikulturellen New York, Norris aus dem weiß und christlich geprägten Minnesota. Lopato lehnt privaten Waffenbesitz strikt ab, Norris hält das Recht darauf für unantastbar. Doch auch Norris floh in den 60er-Jahren an die Westküste: nach Berkeley, dem Epizentrum progressiver Politik. Er war als junger Mann ein radikaler „Leftie“, wie er selbst sagt, bevor er langsam immer mehr zum Libertarismus gependelt sei. Libertarismus, das bezeichnet Norris als finanzpolitisch konservativ und moralisch progressiv. „Mein oberstes Prinzip ist Freiheit“, sagt er. So spricht er sich dafür aus, dass Frauen legalen Zugang zu Abtreibungen haben sollten, fühlt sich jedoch von Demokrat:innen dämonisiert, weil ihm der Besitz von Waffen wichtig ist. Die Steuerpolitik der Biden-Regierung hält er für ein „absolutes Desaster.“
Konservative werden in der Bay Area verachtet
Bei den Braver Angels hat Norris einen Ort gefunden, an dem er sich wieder traut, diese Meinungen zu äußern. Er fühle sich hier respektiert, sagt er, habe schnell Verantwortung und damit unglaublich viel Selbstbewusstsein zurückerlangt. Davor habe er viele Jahre damit verbracht, in politischen Diskussionen zu schweigen. „In der Bay Area wird man geschnitten, sogar verachtet, wenn man nicht blue denkt.“ Leslie Lopato bestätigt das. „Wenn ich von meinem Engagement bei den Braver Angels erzähle, sagen meine Freund:innen: Ich bin froh, dass du das machst, ich könnte das nicht. Man will überhaupt nicht mehr mit Andersdenkenden konfrontiert werden.“
An einem Samstagmorgen treffen sich Lopato und Norris und etwa zwanzig andere Mitglieder und Neugierige in einer Online-Debatte der Braver Angels namens „Challenging your Assumptions“. Thema: Stereotype über People of Color und ihr Wahlverhalten. Heute geht es um die Identität Schwarzer Menschen, von denen gerade weiße US-Amerikaner:innen oft denken, sie wählten einheitlich demokratisch.
Der erste Redner ist der Schwarze Entrepreneur Peter Bell aus St. Paul, Minnesota. „Ich glaube, dass Trump die Wahl verloren hat, ich glaube, dass Covid echt ist, und ich glaube, dass die globale Erwärmung die größte Bedrohung ist“, verkündet er und es klingt wie ein Bekenntnis zur heiligen Dreifaltigkeit des Common Sense. Er halte die republikanische Partei für „krank und tief beschädigt“, dennoch ist er konservativ. Denn einiges macht ihm Sorgen. Seine linken Brüder und Schwestern seien zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig in Schubladen zu stecken.
„Ich verlange, als Amerikaner gesehen zu werden.”
„Dadurch feiern wir unsere Unterschiede mehr als unsere Gemeinsamkeiten, und das halte ich für gefährlich.“ Bell erzählt, ihm werde von seinen Schwarzen Mitmenschen oft vorgeworfen, er sei ein „Onkel Tom“, dabei wisse er, dass Rassismus real ist. „Ich wünsche mir dennoch eine farbenblinde Gesellschaft. Ich habe Probleme mit dem Präfix des Wortes Afroamerikaner, denn die amerikanische Sklaverei hat meine afrikanischen Wurzeln brutal gekappt. Ich verlange, als Amerikaner gesehen zu werden.” Ihm ist es wichtig, dass jungen Schwarzen Menschen, die kriminell sind, nicht mehr beigebracht wird: Du kannst nicht gewinnen, bis die Weißen sich ändern.
Aber wie realistisch sei denn so eine farbenblinde Gesellschaft, entgegnet die demokratische Rednerin Marilyn Hosea aus Denver, Colorado, solange Schwarze Menschen mehr Polizeigewalt ausgesetzt seien als alle anderen Gruppen in den USA? Sie habe selbst, als Schwarze Demokratin, eine Waffe, weil sie sich so sicherer fühle. „Gleichzeitig bin ich Buddhistin und habe nicht vor, sie jemals einzusetzen.“
Am Ende des zweistündigen Treffens gibt es eine offene Fragerunde. Die Atmosphäre ist sehr respektvoll, auch wenn sich die Teilnehmenden nicht immer einig sind. Nur als ein Teilnehmer über die Bedeutung der Südstaatenflagge als Ausdruck des Stolzes für weiße Menschen in Tennessee spricht, wird die Atmosphäre einen Moment deutlich angespannt. Doch es gibt keinen offenen Widerspruch, vielleicht, weil er einer Journalistin antwortet.
Die Unmöglichkeit einer farbenblinden Gesellschaft
Das Schwarze, konservative Mitglied Ron McFarland wendet sich an Bell: Er habe sein ganzes Leben eine farbenblinde USA gewollt, in der „alle vor Gott gleich sind“. „Aber ich habe leider begriffen, dass das nicht möglich ist. Ich habe zu viele dumme Fragen in meinem Leben bekommen, weil ich ein Schwarzer Mann bin.“ Was jedoch in seiner Macht stehe, sei die Einstellung, mit der er diesen dummen Fragen begegne: „Ich habe festgestellt, dass jede Person bereit ist, dir zuzuhören, wenn du sie mit Liebenswürdigkeit behandelst.“
Einer demokratischen Teilnehmerin sieht man an, dass sie mit einigen Positionen heute nicht einverstanden ist. Sie würde sich das nächste Mal gerne tiefer darüber austauschen, wie gefährlich das weiße Privileg sei, sagt sie zu Bell. Eine andere Frau erzählt, sie habe sich immer als sehr progressiv verstanden, sei nun aber schockiert von der „Ultra-Wokeness“ des demokratischen Lagers. Nun sucht sie nach Input aus dem republikanischen Umfeld.
Die Demokratin Marta McAuliffe ist das erste Mal dabei. „Ich bin überrascht, wie viele Ähnlichkeiten mit den Konservativen ich hier gefunden habe.“ Natürlich läuft es nicht immer so rosig. Leslie Lopato erinnert sich an eine Diskussion über systematischen Rassismus, bei der eine Frau of Color frustriert den Raum verließ: „Diese weißen Menschen verstehen einfach nicht, was es heißt, ich zu sein.“ Manchmal werfen progressiv eingestellte Menschen Lopato vor, „schädlichen Meinungen aus dem red Umfeld“ eine zu große Bühne zu bieten.
Spaltung in den USA: Die wirklich Radikalen kommen nicht
„Aber wir wollen gerade die heiklen Themen besprechen. Wie sollen wir sonst lernen, den Standpunkt der anderen zu verstehen?“ Natürlich gebe es Grenzen. „Einen Rassisten, der glaubt, dass Weiße anderen Menschen überlegen sind, würden wir nie akzeptieren.“ Die wirklich Radikalen kommen jedoch ohnehin nicht.
Die Organisation ist zwar divers in puncto Ethnizität und Religion. Aber nur wenige junge Menschen ohne akademischen Hintergrund sind dabei. Dennoch glaubt Lopato: Alle verlassen ihre Veranstaltungen mit einer Fähigkeit zum Dialog, die sie weitertragen können. „Und das ist das Wichtigste, um wieder eine echte politische Debatte in diesem Land möglich zu machen, in der es um Themen geht, und nicht darum, sich gegenseitig zu besiegen.“
Leslie Lopato ist eine der ersten Frauen, die an der Yale Universität zugelassen wurde. Heute engagiert sie sich bei der NGO Braver Angels gegen den Hass zwischen Demokrat:innen und Republikaner:innen.