Gute Gemeinschaft

Zusammenhalt per Zeitkonto

Vorwärts zum Tauschhandel: Mithilfe von Zeitkonten will eine Genossenschaft im Schweizer Städtchen Zug die Nachbarschaftshilfe wiederbeleben und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Ein Ortsbesuch

Margrit Longhi breitet ein kleines gelbes Handtuch auf dem Tisch aus, streift zwei goldene Ringe vom Finger und verreibt ein paar Tropfen Orangenöl in ihren Händen. Dann nimmt sie die linke Hand von Bernadette Flüeler, legt sie auf das Handtuch und fängt an, sie zu massieren. Mit leichtem Druck streicht sie von der Handwurzel bis zur Fingerspitze. Das soll die Durchblutung fördern. Denn Bernadette Flüeler hat, wie so oft, kalte Hände. „Angenehm so?“, fragt Longhi. Flüeler nickt lächelnd.

Die Handmassage war eine spontane Idee. Zuvor hat Bernadette Flüeler die ältere Dame mit ihrem Auto vom Turnen abgeholt und nach Hause gebracht. Jetzt sitzen sie zusammen am großen schwarzen Esstisch und trinken eine Apfelschorle. Unter den Gläsern liegen weiße gehäkelte Platzdeckchen. Margrit Longhi hat noch Kekse auf den Tisch gestellt. Die 86-Jährige ist eine unternehmungslustige ältere Dame, deren grüne Augen leuchten, wenn sie von Ausflügen in die Berge berichtet. Aber es sei ein bisschen mühsam im Moment. Das Gehen fällt ihr schwer, seit sie einen Unfall hatte. Deshalb fährt sie nicht gerne mit dem Bus. Auf das wöchentliche Turnen möchte sie trotzdem nicht verzichten. Auch, weil sie dort immer ihre Schwester trifft. Deshalb hat sie sich über Kiss eine Autofahrt organisiert. Das macht sie regelmäßig.

Kiss ist aber keineswegs ein Fahrdienst, sondern eine Genossenschaft, die Nachbarschaftshilfe vermittelt. Das können Autofahrten sein, Näharbeiten, Begleitung beim Einkaufen oder auch Spaziergänge. Die Idee ist, ein soziales Netzwerk vor Ort aufzubauen. Geld fließt dabei nicht. Stattdessen dokumentieren die Mitglieder ihren Zeitaufwand. Kiss hat dafür extra Schecks drucken lassen, auf denen Dauer und Tätigkeit eingetragen werden. Für die Autofahrt etwa bekommt Bernadette Flüeler eine Stunde gutgeschrieben. Sie kann damit ihrerseits Hilfe von Genossen in Anspruch nehmen. Bislang hat sie das erst einmal gemacht, da hat ihr ein Herr etwas repariert. Ansonsten möchte die 60-Jährige aber Zeit ansparen, falls sie mal krank wird oder im Alter nicht mehr so selbständig ist.

Neue Bekanntschaften ergeben sich

Bernadette Flüeler ist eine freundliche, zurückhaltende Person. Sie stammt ursprünglich aus der französischsprachigen Westschweiz, wohnt aber gerne hier im Städtchen Zug und spricht inzwischen auch sehr gut „Schwyzerdütsch“. Mehrmals im Monat fährt sie Kiss-Genossen, zum Beispiel zum Arzt oder Einkaufen. Sie macht das gern, auch, weil sich oft neue Bekanntschaften ergeben. Eine ältere Dame besucht sie mittlerweile auch privat, um sich mit ihr auf französisch zu unterhalten. Acht lokale Kiss-Genossenschaften gibt es bereits, alle in der deutschsprachigen Schweiz. Weitere sind im Aufbau. Hier in Zug, wo Kiss 2016 gestartet ist, sind 150 Mitglieder aktiv. Die Stadt hat über 30.000 Einwohner und ist sehr international, selbst für Schweizer Verhältnisse. In das frühere Fischerdorf am Zuger See sind Firmen aus aller Welt wegen der niedrigen Steuern im Kanton gekommen. Siemens und Unilever haben beispielsweise hier Niederlassungen. Das hat die Stadt wohlhabend gemacht und der Gemeinde jede Menge neue Einwohner beschert. Aber viele Zugezogene bleiben nur für ein paar Jahre. Vor allem die Älteren haben deshalb das Gefühl, dass mit der Zeit etwas verloren gegangen ist.

Der Kitt in der Gesellschaft sei nicht so wie früher, so beschreibt es Susanna Fassbind, eine der Gründerinnen von Kiss. Die 75-Jährige ist gut vernetzt mit Politik und Wirtschaft in der Region. Sie war viele Jahre Präsidentin des Vereins „Umwelt Zug“, hat staatliche Stellen zum Thema Nachhaltigkeit beraten und als Dozentin an der ETH Zürich gearbeitet. „Das Miteinander, der Zusammenhalt hat mir irgendwann gefehlt“, sagt Fassbind. Hinzu kommt, dass Mieten und Häuserpreise wegen der vielen Zugezogenen stark gestiegen sind. Nicht wenige gebürtige Zuger sind deshalb ins Umland gezogen. Auch das hat die Gemeinschaft zunehmend auseinanderdriften lassen. Von einem Zeitgutschriftenmodell, das die lokale Gemeinschaft stärkt, hat Fassbind erstmals in den 1990er-Jahren gehört. Das müsste es auch bei uns geben, hat sie damals gedacht. Vor ein paar Jahren fand sie dann schließlich: Die Zeit ist reif. Zusammen mit drei anderen Frauen gründete sie die ersten Genossenschaften. „Wir wollen die Nachbarschaftshilfe massiv ausb…

Titelbild: Jewgeni Roppel

In der Schweiz organisieren Genossenschaften Nachbarschaftshilfe per Zeitkonto

Maike Brzoska

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