„Hier gibt’s keine Mücken“, ein Gesprächsfetzen zieht wie ein Luftzug über die voll besetzte Seeterrasse. Der Golden Retriever am Nebentisch hebt kurz den Kopf, dann legt er ihn wieder auf die Vorderläufe. Ein lauer Sonntagabend im Juli. Die 2016 zur Landesgartenschau aufgehübschte Stadtbucht mit Promenade in Eutin am gleichnamigen See liegt unspektakulär da. Es ist auch nach 20 Uhr noch warm. Im Naturpark Holsteinische Schweiz, etwa 35 Kilometer von der Ostsee entfernt, kam das bislang nicht oft vor. Jetzt wird die Klimakrise spürbar. Während das Abendlicht mit der Schlossfassade kuschelt, flanieren Spaziergänger:innen, Familien, Pärchen über die Promenade, zwischendrin E-Bikes im Schritttempo. Eutins Seeufer mit Grün, Holzbohlen, Bänken und viel Wasser ist selbst in der Hochsaison unaufgeregt verpennt.
Vanessa Korth kommt an den Tisch, räumt die Überbleibsel der vorherigen Rosé-Trinker:innen weg. „Ich bin schwerhörig und lese von Ihren Lippen. Es wäre toll, wenn Sie deutlicher und etwas langsamer sprechen.“ Klar, kein Thema. Die Bestellung ist schnell aufgegeben, Fisch und vegetarisch. Die Gerichte sind frisch und smart angerichtet. Nur der Holsteiner Käse ist schon aus. Dafür gibt’s eine improvisierte Salatkreation. Kein langes Warten. Das Team hat alles im Griff. Freundlich, pragmatisch und fix. Am 1. Juli hat das Hotel und Restaurant Seeloge eröffnet.
Die Seeloge: Ein Inklusionsbetrieb
In dem 17.000-Einwohner:innen-Städtchen gab es das zuvor in dieser Form nicht. In Eutin und in der gesamten Kur- und Urlaubsregion Holsteinische Schweiz gibt es ohnehin mehr Campingplätze, Ferienwohnungen und Pensionen als Hotels. Wo früher das „Haus des Gastes“ stand, ist nun ein freundlicher, dunkelrot-violett geklinkerter Backsteinbau – mit viel hellem Holz, Glas und ausladenden Balkonen. Gebaut wurde ab März 2020 nach einem Bürger:innenentscheid, der gegen eine Sanierung des Alten und für etwas Neues, Zukunftsfähiges ausfiel. Inklusive Grundstück hat das 11 Millionen Euro gekostet.
Die Seeloge ist ein Inklusionsbetrieb. Was das genau heißt, ist im Sozialgesetzbuch IX unter den Paragrafen 215 bis 218 geregelt. Kurz zusammengefasst: Mindestens 30 Prozent der Menschen, die in einem Inklusionsbetrieb arbeiten, haben eine schwere Beeinträchtigung. Sie können und wollen arbeiten, finden aber aufgrund ihrer Beeinträchtigung woanders nur sehr schwer einen Job.
40 Prozent der Mitarbeiter:innen haben eine Beeinträchtigung
„In der Seeloge sind sogar 40 Prozent der 27 Vollzeitstellen entsprechend besetzt“, erklärt Hoteldirektor Bosse Willenberg ein paar Tage zuvor im nahezu leeren, skandinavisch anmutenden Restaurant. Viele im Team seien zudem Quereinsteiger:innen. Der unaufgeregte Mittzwanziger kommt aus der klassischen Hotellerie. Willenberg hat bei der innovativen Kette Upstalsboom aus Emden gelernt, die 70 Hotels und Ferienwohnungen an Ost- und Nordsee betreibt, er ist in der Region aufgewachsen. Im August 2021 wechselte er zur Ostholsteiner Dienstleistungs GmbH in Eutin, die neben der Seeloge noch ein Programmkino und ein Café́ im etwa 25 Kilometer entfernten Oldenburg in Holstein betreibt. Auch ein Hausmeister- und Reinigungsservice, Garten- und Landschaftsbau sowie Naturschutzdienstleistungen gehören dazu. Insgesamt 150 Menschen arbeiten für die GmbH.
Bundesweit gibt es 975 Inklusionsbetriebe mit 30.000 Angestellten, 13.590 von ihnen haben eine schwere Behinderung, zu 54 Prozent ist diese seelischer oder geistiger Art, soweit die aktuellen Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen. Die Unternehmen stellen in der Regel unbefristet an und bezahlen nach Tarif. Sie sorgen für Sichtbarkeit. Sie zeigen, dass Menschen mit und ohne Behinderungen zügig und zufrieden zusammenarbeiten.
Klare Abläufe und Routinen sind wichtig
Wenn man Hoteldirektor Bosse Willenberg fragt, was dafür entscheidend ist, klingt die Antwort verblüffend einfach: „Persönlichkeiten müssen zusammenpassen, es braucht klare Abläufe und Routinen.“ Willenberg ist jemand, der Wichtiges gerne in Nebensätze schiebt. Er hat einen festen Händedruck und sagt später nebenbei, dass man natürlich wirtschaftlich arbeiten müsse, aber das Hotellerie-Erfolgsdogma, „am besten immer Vollauslastung“, mache hier, und generell, keinen Sinn. Alle bräuchten Pausen. Gäst:innen und Mitarbeiter:innen gleichermaßen.
Florian Ackermann trägt Brille, Bart und spürbar stolz eine schwarze Küchen-Uniform. Der 28-Jährige ist Beikoch. Er arbeitet genau zu, kümmert sich um Salate, Menükomponenten und Vorspeisen, aber auch um den Abwasch. Er hat ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, kurz: ADS. Ackermann ist sehr motiviert – und ein eloquenter Erzähler. Minutiös und lebendig erläutert er seine Schul- und Lehrlaufbahn.
Alternative zu den Werkstätten
Die Begeisterung für die Küche habe sein Vater geweckt. „Er war erst Matrose, dann Schiffskoch, und wenn er nach Hause kam, haben wir oft zusammen am Herd losgelegt.“ Ackermann hat eine Ausbildung zum Beikoch gemacht und vor Eutin immer wieder in Werkstätten für Menschen mit Behinderung gearbeitet. Doch da fühlte er sich unterfordert. Jetzt ist er als Beikoch in der Seeloge im Rahmen einer „integrativen Maßnahme“ angestellt. Seine Stelle steht nicht im Plan. Läuft es gut, wird er übernommen.
In den Werkstätten Schleswig-Holsteins verdienen di…
Hektisch wird es in der Lobby selten – und das stört auch niemanden.